(Die vier ersten Teile dieser Arbeit, die ursprünglich Mitte der 1960er-Jahre in »Programme Communiste« erschienen, wurden im »Kommunistische Programme« (»Bulletin«) № 10, 11, 12 und 13 veröffentlicht. Dieser fünfte und letzte Teil wurde für die deutsche Ausgabe neu verfasst, um auf die »Kulturrevolution« und die darauffolgende Periode einzugehen. Aus Platzgründen mussten wir deshalb auch einen Teil der Daten und Schilderungen zur Industrieentwicklung auslassen bzw. zusammenfassen.)
Nachdem die Widersprüche und die daraus resultierende Zwangslage in der chinesischen Agrarpolitik im letzten Teil untersucht wurden, sollen jetzt die spezifischen Tendenzen der industriellen Entwicklung, d. h. der Entwicklung des Kapitalismus in China verdeutlicht werden, wobei wir uns auf die wichtigsten Grundlinien der Akkumulation beschränken müssen.
So wenig radikal und so kompromisslerisch, wie die Maoisten die bürgerliche Revolution in China vorangetrieben hatten, verhielten sie sich auch nach der Eroberung der Macht. Gefangen in einer Praxis der »Harmonie« des Blocks der vier »guten« Klassen und der volks- bzw. neudemokratischen Herrschaft, war die maoistische Bourgeoisie – entgegen den Sprüchen ihres Meisters von den vielfältigen »Widersprüchen im Volke« – von Anfang an bestrebt, die berühmte »Ruhe und Ordnung« im eroberten Grossreich aufrechtzuerhalten. Noch vor der endgültigen Besetzung der grossen Städte gaben diese »Führer« des chinesischen Proletariats den unmissverständlichen Aufruf heraus:
»Die Arbeiter und Angestellten aller Berufe werden aufgefordert, mit ihrer Arbeit fortzufahren und alle Angelegenheiten wie gewohnt durchzuführen. Die Funktionäre von der Kuomintang und von allen anderen politischen und administrativen Einheiten, wie die Polizei, müssen in ihren Ämtern bleiben und den Befehlen der Volksbefreiungsarmee und der Volksregierung gehorchen.« (»Neues China«, 3. Mai 1949)
Diese Revolutionäre einer »kommunistischen« Umwälzung ohne Beteiligung des Proletariats erwiesen also auch jetzt ganz klar ihre eigentliche Zielsetzung: Noch bevor die nationale Revolution überhaupt die Städte voll erreicht hatte, wurde sie für die dortigen Arbeitermassen als beendet erklärt. Das chinesische Proletariat war für die neuen Herren nur als fügsames Ausbeutungsobjekt von Bedeutung. Jene nationalen »Sozialisten«, die in Wirklichkeit die schlimmsten Apologeten des Kapitals sind, sahen dagegen die Hauptstützen für ihre »Sozialismus in einem Land« apostrophierte bürgerliche Akkumulationsdiktatur im nationalen wie internationalen Kapitalismus. Wirtschaftlich wurde die Verstaatlichung des durchweg ausländischen Grosskapitals, die Aufteilung des Grossgrundbesitzes unter die Bauern, aber gleichzeitig auch die Unterstützung mittlerer und kleinerer Privatunternehmen und die Beibehaltung reicher Bauernwirtschaften gefordert. Zentral war die schonende Behandlung der sog. nationalen Bourgeoisie in den Anfangsjahren, war sie doch nach Maos Definition ein Bündnispartner im »Block der vier Klassen«.
Praktisch hiess das, dass die Betriebe der chinesischen Kapitalisten gegen die Zahlung einer Dividende von rund 5 % des Nominalkapitals »enteignet« oder in eine Mischform staatlicher und privater Beteiligung überführt wurden, wobei in diesem Fall die ehemaligen Besitzer oft als Betriebsleiter beibehalten wurden. Bis 1952 hatte diese Art von »Sozialisierung« etwa zwei Drittel aller Unternehmen erfasst. Im Vordergrund der politischen Richtlinien dieser ersten Jahre stand die Reorganisation der schwach entwickelten und durch die lange Kampfphase stark dezimierten Produktivkräfte. Dabei weist die chinesische Wirtschaft vor 1949 alle Merkmale einer Unterentwicklung auf. Die Rückständigkeit wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, dass der Industriesektor vor allem handwerkliche, technisch rückständige Betriebseinheiten umfasste, die etwa zwei Drittel des gesamten Produktionswertes der Industrie aufbrachten. Nur ein Drittel des Produktionswertes – d. h. etwa 30 % des gesamten Warenwertes – entfiel auf nach damaligem Massstab moderne Industrien, die überwiegend in den Küstenregionen angesiedelt waren. 85 % der gesamten Industrieproduktion wiederum waren Erzeugnisse der Konsumgüterindustrie. (Liu Ta-chung, Yeh Kung-chia, »The Economy of the Chinese Mainland: National Income and Economic Development 1933–1959«, Princeton 1965, S. 88f, S. 142f)
Die Neuverteilung des Bodens und die damit gekoppelte Befriedigung des Landhungers der Bauern und die Reorganisation der Industrie zeigten trotz sozialer Spannungen (Streiks, Bauernunruhen etc.) im Klima der neugewonnen staatlichen Ordnung rasche Anfangserfolge. Dabei fungierten die während der Bodenreform beschlagnahmten Vermögenswerte an Wertgegenständen, Nahrungsmitteln, Vieh und Gebäuden in einer geschätzten Gesamthöhe von 8,6 Mrd. US-$ gleichsam als einmalige Initialinvestition zur Industrialisierung. Der Anteil der Landwirtschaft am gesamten Warenwert ging in diesem Zeitraum von 57 % (1933) auf 48 % (1952) zurück, gemessen an Preisen von 1952. Entsprechend erhöhte sich der Anteil der Industrieproduktion von 14 % auf 18 % (ebd., S. 88).
Aber selbst nach diesem Aufschwung stand die chinesische Wirtschaft im Vergleich zu den Industrieländern noch recht jämmerlich da. Selbst gegenüber Russland war dieser Abstand extrem, was nur die allgemeine Schwäche der Produktivkräfte noch mal verdeutlicht. In Zahlen ergibt sich die Ausgangslage Chinas am Vorabend der eigentlichen Industrialisierung im Vergleich zu Russland vor dem 1. stalinistischen Plan so:
| – | China 1952 | SU 1927 |
|---|---|---|
| Bevölkerung (Mill.) | 583 | 147 |
| Arbeiter u. Angestellte in der Industrie (Mill.) | 4 | 4,1 |
| Bestellte Anbaufläche (Mill. ha) | 108 | 112,4 |
| Kohleförderung (Mill. Tonnen) | 63,5 | 32,3 |
| Roheisen (Mill. Tonnen) | 1,9 | 3 |
| Stahl (Mill. Tonnen) | 1,35 | 3,72 |
| Elektr. Strom (Mill. Kilowatt) | 7260 | 4205 |
| Zement (Tausend Tonnen) | 2860 | 1403 |
| Eisenbahnnetz (Tausend Km) | 24,2 | 75,6 |
Dabei ist bei den obigen Zahlen das zu Lasten Chinas weit ungünstigere Pro-Kopf-Verhältnis noch nicht einmal berücksichtigt.
Anders als im stalinistischen Russland, das mit den »glorreichen Plänen« Ende der 1920er-Jahre scheinbar endgültig den gradlinigen Weg des »Sozialismus in einem Lande« fand, begann der Einstieg Chinas in diese Mythologie recht unglücklich. Der im stalinistischen Selbstverständnis als in konkrete Handlung umgemünzte Triumph des Willens über das leidliche Wertgesetz, das den »normalen« Kapitalisten so zu schaffen macht, wurde immer wieder von der Wirklichkeit konterkariert. Den Einstand brachte man erst mühsam 1955 zustande, so dass es sich streng genommen nur um einen Dreijahresplan handelte. Die groben Inhalte sind allgemein bekannt: Alles stand unter dem Stern der Hilfe des »grossen sozialistischen Bruders« mit dem Ziel der forcierten Entwicklung der Schwerindustrie, also der Produktionsgüterindustrie, zu Lasten der Landwirtschaft und der Konsumgüterindustrie. Konkret hiess das nichts anderes, als dass die chinesische Bourgeoisie die Produktivkräfte ohne Rücksicht auf die Belange des frisch befreiten »Volkes« entwickeln wollte, um die gerade wieder in Gang gesetzte Akkumulation beschleunigen zu können. Und entgegen allem »philosophischem« Getöse und selbstgefälligem Voluntarismus blieb auch der chinesischen Bourgeoisie als Hauptquelle der Akkumulation allein die steigende Auspressung von unbezahlter Arbeit also Mehrwert. Bauern und Arbeiter wurden in immer neuen Kritikkampagnen zu mehr Arbeitsproduktivität angehalten, alles natürlich zugunsten des auch hierzulande allzu bekannten »Gemeinwohls«, unter dessen oberster Gültigkeit man seinen Eigennutz ja schnell ablegen sollte, wollte man nicht als konterrevolutionär-bürgerliches Subjekt die Lektion in einem der diversen Arbeitslager unter dem auch wieder bekannten Motto der »Umwandlung durch Arbeit« – denn Arbeit macht bekanntlich frei – nachholen müssen. Hier haben wir den materiellen Grund für den immer wieder ausbrechenden Zirkus maoistischer Massenaktionen, der vor allem der verlorenen Jugend des Westens jenen verklärten Glanz in die Augen trieb. Für die chinesischen Massen bedeuteten sie niemals etwas anderes als Antreiberei und Selbstverleugnung zum höheren Ruhm staatlicher Allmacht.
Daneben gab’s dann noch die »brüderliche« Hilfe des selbsternannten »Vaterlands aller Werktätigen«, in dessen Arme die chinesische Bourgeoisie vor allem wegen der anhaltenden Intransigenz der USA getrieben wurde. Für Russland selbst bedeutete der 2. Weltkrieg das endgültige Ende des kleinbürgerlichen Traums von einem »Sozialismus in einem Lande«, denn es war eine Absurdität zu glauben, dass es sich hinter seinen nationalen Grenzen von Gesetz und Zwängen des Weltmarktes befreien könnte. Der stalinistische Irrglaube der autarken Entwicklung erlebte immer wieder durch die kapitalistischen Gesetze des Weltmarktes seine ernsten Zurechtweisungen. Dies bleibt auch für die chinesische Neuauflage eines asiatischen Stalinismus voll gültig. Aber bevor es den Weltmarkt verhöhnte, musste auch China dessen unerbittliche Regeln erleiden. Und wie aus einer Ironie heraus, an die sich die Geschichte bereits gewöhnt hat, war es gerade Russland, welches ihm dieses Gesetz aufzwang.
Der schon 1952 hohe Anteil der Importe aus den »sozialistischen« Ländern – 7 % der Gesamtimporte – erreichte 1954 mit 82 % seinen Höhepunkt; danach gehen allerdings die relativen Anteile, nicht jedoch das Volumen, bis 1957 stark zurück (63,5 %). Die Importanteile aus Russland reduzieren sich sowohl relativ wie wertmässig von 63 % im Jahre 1953 über 50 % (1956) auf 39 % im Jahre 1957. Trotz dieses relativen Rückgangs steigt das Importvolumen aus allen Ostblockländern im Verlauf des 1. Fünfjahrplanes (FJP), und zwar von 696 Mio. auf 985,3 Mio. US-$, d. h. um 41 %. (E. Hagemann, »Der Aussenhandel der VR China mit den europäischen Ländern 1950 bis 1969«, in: »Vierteljahreshefte des DIW«, 1971, S. 56).
Besonders der Handel mit Russland spielte natürlich für China eine entscheidende Rolle in diesen Anfangsjahren. Bis 1956 stand China an erster Stelle unter den Aussenhandelspartnern der SU, wurde allerdings ab 1957 von der DDR auf den 2. Platz verwiesen. Für China war die SU der einsam überragende »Partner«, mit dem man ganz nach dem traditionellen Muster des Warenaustauschs unterschiedlich entwickelter Länder Maschinen und vor allem ganze Industriekomplexe gegen Rohstoffe und Fertigwaren aus der Leichtindustrie tauschte. Hatte die chinesische Bourgeoisie trotz wenig günstiger Erfahrungen in früheren Jahren manche Illusionen in diese russische Selbstlosigkeit gesetzt, so wurde sie durch die Praxis immer deutlicher eines bessern belehrt. Zwar lieferten die Russen Maschinen und Industrieanlagen, schickten auch das nötige Fachpersonal und halfen mit zinsgünstigen Krediten, aber der Austausch ging zunehmend an die chinesische Substanz, was die sowieso schon schwierige Versorgungslage als Voraussetzung sozialer Befriedung nur erschwerte. Man konnte dem »Volk« das meckernde Maul nicht stopfen, da man durch die ländliche Ausbeutung – direkt über Steuern, indirekt über die Preise – die Mittel für die Industrialisierung aufbringen musste – und die gingen vor allem ins auch nicht gesegnete Nachbarland, um der dortigen Bourgeoisie aus ihren Versorgungsengpässen zu helfen. Aus Platzmangel sollen hier nur die beiden wichtigsten Ströme im Warenaustausch ausgewiesen werden: Für die SU-Exporte gewann die Lieferung kompletter Industrieanlagen einen wachsenden Stellenwert; sie stieg von 6,8 % der Gesamtexporte im Jahre 1951 über 18,3 % (1955) auf 38,4 % im Jahre 1957. Nahrungsmittel und Nahrungsmittelrohstoffe stellten immer den Hauptposten der chinesischen Exporte dar; sie entwickelten sich prozentual von 44,5 % (1953) über 43,8 % (1955) auf 29,1 % (1957), und fielen nur, weil die chinesische Landwirtschaft diesen Dauerentzug nicht verkraften konnte. Dabei blieb die Handelsbilanz bis einschliesslich 1955 für China negativ. (Angaben aus: »Die wirtschaftliche Verflechtung der VR China mit der Sowjetunion«, Hamburg 1959, S. 14ff)
Die »Hilfe« Russlands war von Anfang an alles andere als Altruismus. Die Kredite waren zwar zinsgünstig, aber durchweg kurzfristig und zwangen demnach China zu wachsenden Exportanstrengungen, was letztlich einen ständigen Strom agrarischer Produkte über die Grenze schaffte. Die resultierenden Implikationen mussten sich auf die Dauer katastrophal auswirken: Im Innern musste der Akkumulationsterror mit drakonischer Gewalt durchgesetzt werden, wobei subalterne Stupidität im Alltag und Proklamation hehrer Ideale vom hohen Thron väterlicher Güte genau die Mischung von Ethos und Gewalt versinnbildlicht, mit der noch jede Bourgeoisie ihre Klassendiktatur aushaltbar zu gestalten bemüht ist. In der täglichen Plackerei verging auch den chinesischen Massen bald jeglicher Enthusiasmus, und die so gewonnene Erfahrung aus der Realität liess die Zugkraft der Galionsfigur Mao bald verblassen. Der soziale Friede, dieses oberste Gut jeder kapitalistischen Ausbeutung, wurde also immer brüchiger. Die süssen Zeiten der ursprünglichen Akkumulation in den Jugendjahren des Kapitalismus, in denen rasche Raubzüge Fantasiesummen ins Land brachten, galten für das chinesische Kapital nicht. Hier galt die harte Devise des ordentlichen Handels, wobei man zudem noch der schwächere Partner war. Wo blieb unter diesen Bedingungen die Zukunft? Dank des westlichen Embargos kam den Russen eine Monopolstellung zu, die sie auch ganz im Sinne kapitalistischer Kaufmannsregeln auszunutzen verstanden. Das kapitalgierige China geriet an den noch hungrigeren Moloch Russland, und die Frage, wer wen aussaugt, hängt nach den kapitalistischen Raubgesetzen allein von der jeweiligen Macht, sprich der Stärke der Produktivkräfte ab. Unter der tönenden Phrase des »proletarischen Internationalismus« wird von diesen »sozialistischen« Buchhaltern die »Hilfe« wie bei den Menschenfreunden im Westen stets mit klingender Münze saldiert. Nach statistischen Untersuchungen ausgewählter Importgüter aus der SU lagen die ausgehandelten Preise etwa 25 bis 30 % über dem Niveau der Weltmarktpreise, während die chinesischen Lieferungen 10 % und mehr unter vergleichbaren Weltmarktpreisen lagen. (Hagemann, S. 58f, 88f)
Nicht das Geschwätz von Generallinie zur Verteidigung des wahren chinesischen Sozialismus und die Entdeckung einer neuen Bourgeoisie im Russland nach Stalin legen die Ursachen des bürgerliche Gemüter bewegenden Schismas bloss, sondern nur wenn man hinter diesen ideologischen Nebelschwaden den Clinch konkurrierender nationaler Kapitale, also die Grobwirkung des Wertgesetzes auf Weltebene kennt, kann man die schizophrene Logik dieser »Nationalkommunisten« entziffern.
Ironie des Schicksals: Am Ende der Periode waren zwar die Planziele formal erreicht, aber die chinesische Bourgeoisie hatte dennoch ihre erste zentrale Lektion in puncto kapitalistische Spielregeln einstecken müssen. Sah die Rechnung nach aussen noch scheinbar erfolgreich aus, so geriet man bei genauerem Kenntnisstand in eine sich immer schärfer abzeichnende Zwickmühle: Sich im Anfangsstadium eigener Industrialisierung vertrauensvoll der Hilfe stärkerer »Partner« zu überlassen, ist noch keinem schwachen Kapital gut bekommen. Die grosschinesischen Träume einer schnellen Industrialisierung, gestützt auf ein diszipliniertes »Volk« und die Hilfe der SU, musste man bald begraben. Die Allmacht der »Planer« zeigte immer offener ihre Grenzen. Am deutlichsten zeigt sich dies an der Ohnmacht des chinesischen Kapitals, an der vom Imperialismus überkommenen, natürlich nicht nach inneren Bedürfnissen ausgerichteten Lastigkeit der Wirtschaftsgeographie entscheidendes zu ändern. Zwar wurden im 1. FJP 55,3 % der Kapitalinvestitionen im Hinterland vorgenommen; der Prozentsatz erhöht sich sogar auf 73 %, wenn nur neue Industrieprojekte berücksichtigt werden. Aber bei dem mangelnden Ausbau der allgemeinen Bedingungen einer kapitalistischen Produktionsweise in diesen Gebieten, was man gewöhnlich als Infrastruktur fasst, gerieten die Folgekosten in unbezahlbare Dimensionen. Daneben ergab sich als Konsequenz eine Nichtauslastung der Kapazitäten an der Küste, so dass die Pläne 1958 vorläufig eingestellt werden mussten. (Kang Chao, »Policy and Performance in Industry«, in: A. Eckstein, W. Galenson, Liu Ta-Chung, »Economic Trends in Communist China«, Edinburgh, 1968, S. 559)
Im Ganzen war man ökonomisch in eine Sackgasse geraten, das machte der wachsende Unmut der Bevölkerung den Machthabern überdeutlich. Hier liess man unter »hundert Blumen« erst mal Dampf ab und gegenüber der russischen Lektion zog man seine Konsequenzen. Schliesslich hatte man nicht jahrzehntelang gekämpft, um jetzt in ein fremdes Industrialisierungskonzept eingespannt zu werden. Was blieb war der Schneckengang vermeintlicher Autarkie.
Sowenig wie sich ein Philanthrop einbilden kann, er lebe am Rande der Gesellschaft und ihn gehe der ganze Trubel nichts an, so wenig kann sich in der heutigen Zeit zunehmender Durchsetzung eines kapitalistischen Weltmarktes ein Entwicklungsland die Illusion leisten, es könnte sich da erst mal raushalten. Diese Lektion stand der chinesischen Bourgeoisie als nächstes bevor. Angesteckt von den Visionen des bürgerlichen Utopisten Mao geriet China in einen wahren Taumel von Aktivismus, der jetzt mit Gewalt das bringen sollte, was mit »brüderlicher« Hilfe nicht zu erreichen war: das kapitalistische chinesische Grossreich. Die »Drei Roten Banner« – Generallinie des sozialistischen Aufbaus, Grosser Sprung nach vorn und Volkskommune – sollten den chinesischen Massen den Weg zum selbstlosen Dienst am Gemeinwohl weisen. Mit Recht sahen die Vertreter des chinesischen Kapitals in ihrem »Volk« die Hauptproduktivkraft, die es zielstrebig einzusetzen galt. Eine Unzahl kleiner Betriebe wurde im ganzen Land gegründet, in denen die unterbeschäftigten Bauern sich natürlich durchweg unentgeltlich in der Fabrikation von zumeist Roheisen und Stahl üben konnten. Auf dem Höhepunkt dieser Roheisen- und Stahlkampagne Ende 1958 waren ca. 60 Mio. Menschen an 2 Mio. Kleinsthochöfen beschäftigt. Neben den Kleinsthochöfen, Kohle- und Erzgruben, handelte es sich bei den Massenkampagnen um den Bau einer Vielzahl von Ölgewinnungsanlagen, Zementfabriken und Kleinanlagen zur Produktion elektrischer Energie sowie um Kleinbetriebe zur Düngemittel- und Nahrungsmittelerzeugung. Der Produktionsanteil dieser dezentral geleiteten Kleinbetriebe an der gesamten Industrieproduktion erhöhte sich so von 54 % im Jahre 1957 auf 74 % im Jahre 1959. (C. M. Li, »China’s Industrial Development 1958–1963«, in: »China Quarterly«, № 17, 1964, S. 16).
Auch für diese auswuchernde Kleinproduktion hatte man natürlich ehrgeizige Pläne entworfen. Mit dieser gleichzeitigen Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft wollte man geradezu phantastische Ergebnisse erzielen. Vor allem die Industrie sollte mit Zuwachsraten von 20–30 % pro Jahr in Schwung gebracht werden. England wollte man so in 15 Jahren einholen. Aber noch offensichtlicher als der 1. geriet der 2. FJP von Anfang an zur Makulatur. Die Bürokraten in den Planbüros versuchten zwar durch dauernde Korrektur an den ursprünglichen Phantasiezahlen den Eindruck der Ohnmacht zu kaschieren, aber die Tatsachen lehrten diesen Meistern des Willens stets die harte Wirklichkeit kapitalistischer Gesetze, die sich eben hinter dem Rücken der Akteure durchzusetzen pflegen. Von einem »Grossen Sprung« kann überhaupt nur im Jahre 1958 die Rede sein. Bereits 1959 kommt es zu einer teilweisen Stagnation; der entscheidende Rückgang setzte dann 1960–61 ein. Die Expansion der Industrieproduktion sank von 45 % (1958) auf 4 % (1960). Unter Berücksichtigung des Jahres 1961 lag die jahresdurchschnittliche Wachstumsrate der Industrie für die Periode 1958–61 allerdings bei nur 2 % – gegenüber 6 % während des 1. FJP. (Jiri Kosta, Jan Meyer, »Volksrepublik China. Ökonomisches System und wirtschaftlice Entwicklung«, Frankfurt-Köln, 1976, S. 145f).
Die eigentliche Achillesferse dieses »geplanten« Wirrwarrs war aber die Landwirtschaft, wo wegen der vielfältigen Nebenaktivitäten, die den Bauern abverlangt wurden, die skurrile Lage eintrat, dass auf dem Lande für eigentliche Erntearbeiten die Kräfte fehlten. Auch schwand der Arbeitseifer der Bauern unter diesen »sozialistischen« Arbeitsbedingungen zusehendst. Dass zeitweise auch ungünstige Witterungsverhältnisse herrschten, ist sicher nicht ganz ohne Belang. Aber der Clique um Mao gaben sie vor allem die einzigartige Möglichkeit, sich von diesem Desaster vor dem Volk wenigstens teilweise freisprechen zu lassen. Der grösste Witz bei diesem ersten eigenständigen Versuch der chinesischen Bourgeoisie, sich nach selbstgewählten Methoden zu entwickeln, ist aber die Tatsache, dass auch hier die Wirklichkeit ganz andere Daten setzte. Vergleicht man das Wachstum der Industrieproduktion und berücksichtigt dabei die beiden Abteilungen Investitions- und Konsumgüterindustrie, so geht daraus klar hervor, dass das Konzept der »Simultanentwicklung« – also der proportionalen Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie – in der Praxis völlig irrelevant bliebt. Sogar mehr noch als während des 1. FJP lag auch in diesen Jahren das Schwergewicht bei der Entwicklung der Investitionsgüterindustrie. Dies illustriert nur noch einmal zusätzlich den kapitalistischen Charakter der chinesischen Entwicklung; denn was ist der Kapitalismus anderes als eine auf Akkumulation und nicht auf Konsumtion abgestellte Produktionsweise. Gerade während der Periode dieses »Grossen Sprunges« bewiesen die Maoisten dies überdeutlich: Abgesehen von der Sicherung der notwendigsten Reproduktion sollten die chinesischen Massen mit Hilfe eines ununterbrochenen ideologischen Trommelfeuers zur maximalen Genügsamkeit herangezüchtet werden. So versuchte man unter der zu allen Zeiten gepriesenen Devise »Viel arbeiten, wenig konsumieren« das Maximale an absolutem Mehrwert aus den chinesischen Arbeitern und Bauern herauszupressen. Dass dieser erste Versuch der ideologischen Anreize so kläglich scheiterte, hängt sicher nicht zuletzt mit der wachsenden Gleichgültigkeit der Massen gegenüber diesen Parolen ab. Wie überall und zu allen Zeiten kamen diese Spruchweisheiten nämlich gerade von solchen, die selbst schon nach der kommunistischen Devise »Jeder nach seinen Bedürfnissen« lebten. Das klägliche Eingeständnis des »grössten Marxisten-Leninisten unserer Tage« nach dem völligen Bankrott der so feurig begonnen Sturmphase ist wert, ausführlich zitiert zu werden:
»Der Wegfall einer allgemeinen Planung hat bedeutet, dass wir darauf verzichten, die [wirtschaftlichen] Kräfte auszubalancieren. Über Kohle, Eisen und die Transportkapazitäten wurden überhaupt keine Berechnungen angestellt. Kohle und Eisen können sich nicht von selbst bewegen, sie müssen in Güterwagen transportiert werden. Ich habe diese Dinge nicht vorausgesehen. Weder ich noch der Premier [Tschu En-lai] hatten uns zuvor um diese Sachen gekümmert, weshalb verständlich ist, das wir von den Planungsangelegenheiten wenig verstanden. Ich will mich nicht entschuldigen, obwohl auch das eine Entschuldigung ist. Ich bin eben nicht der Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission. Vor dem August des letzten Jahres habe ich mich hauptsächlich der Revolution gewidmet, und ich hatte keine Ahnung vom Wirtschaftsaufbau und war ohne Erfahrung auf dem Gebiet der industriellen Planung. In meiner Rede im West-Gebäude [das West-Gebäude der Pekinger Chung-nan-hai-Residenz (Sitz der KPCh und der Regierung der VR China)] habe ich gesagt, man sollte nicht über meine weise Führung schreiben. Ich habe mich um diese Dinge nicht gekümmert, wie kann man da von einer weisen Führung reden? Aber Genossen, 1958, 1959 habe ich die hauptsächliche Verantwortung getragen, ich bin der, an den man sich halten muss. Früher haben andere die Verantwortung getragen. Jetzt fällt der Tadel auf mich, denn ich habe wirklich viele Dinge an mich gezogen«.
Und er fährt fort, über die Kampagne zur Stahlerzeugung zu sprechen:
»Wer hat die Idee von der Stahlkampagne ersonnen, Ke Qing-shi [Bürgermeister von Shanghai] oder ich? Ich war es. Ich habe mit Ke gesprochen und ihm 6 Mio. t vorgeschlagen. Danach habe ich mit anderen geredet, auch Tschu hat gemeint, die Sache sei möglich... Das ganze hat uns in eine grosse Katastrophe geführt.« (Rede Maos auf dem 8. Plenum des VIII. ZK, 23. 7. 1959(?) in: R. Hoffmann, »Maos Rebellen. Sozialgeschichte der chinesischen Kulturrevolution«, Hamburg 1977, S. 164)
Dieser Offenbarungseid liess von Maos Autorität in den Augen seiner Klasse nicht viel. Er blieb als Held von Yenan – die Galionsfigur des Systems wurde im übrigen seinem »Volk« zur gottähnlichen Verehrung überlassen. Schon auf dem 6. Plenum des VIII. ZK im November 1958 wurde Mao zum Rücktritt von seinem Posten als Staatspräsident gezwungen. Den Kurs bestimmten in den nächsten Jahren immer stärker Deng Hsiao-ping und Liu Schao-Tschi, die als ehemalige Parteigänger Maos mit wachsendem Fiasko seine schärfsten Kritiker wurden. Ein geflügeltes Wort ging damals in Parteikreisen um: »Wenn der Vorsitzende Mao drei Tage mit Lesen aufhört, kann er Liu nicht mehr einholen.« (R. MacFarquhar, »The Origins of the Cultural Revolution«, Oxford 1974, S. 6) Der Mao-Kult verschleiert meistens die Tatsache, dass die eigentlichen Köpfe der chinesischen Bourgeoisie Liu und Tschu waren.
1961 erreichte die Agrarproduktion ihren absoluten Tiefpunkt und lag noch unter dem Stand von 1953. Man war zu massiven Getreideimporten gezwungen, wofür man 1961–62 ca. 360 Mio. US-$ aufbringen musste. Dieses Agrarland wurde durch die vorangegangene Misswirtschaft dazu gezwungen, den Anteil der Nahrungsmitteleinfuhren an den Gesamtimporten von 1 % (1959) auf mehr als 30 % im Jahre 1961 zu steigern. (U. Simonis, »Die Entwicklungspolitik der Volksrepublik China 1949 bis 1962«, Berlin, 1968, S. 147) Wenn man vor leeren Schüsseln steht, ist alles andere nur Geschwätz. Wieder einmal mussten die Machthaber in Peking den Kurs ändern. Nachdem man zuerst auf die forcierte Entwicklung der Schwerindustrie gesetzt hatte und dabei die vernachlässigte Landwirtschaft überforderte, nachdem man dann auf »zwei Beinen gehend« simultan unter dem Schlachtruf »Drei Jahre harter Kampf, zehntausend Jahre Glück« die Massen zur gleichzeitigen Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft angetrieben hatte, war der Schwerpunkt jetzt eindeutig vorgegeben. Künftig sollte es nur noch heissen: »Die Landwirtschaft ist die Basis und die Industrie ist der führende Faktor.« Die neue Generallinie der Wirtschaftspolitik hinsichtlich des industriellen Aufbaus hiess »Wiederherstellung, Konsolidierung, Verstärkung und Verbesserung.« Die Lage war in der Tat mehr als prekär. Der chinesische Eisenbahnminister eröffnete 1962 eine Kaderversammlung mit den Worten: »Es gibt wenig zu essen, dafür aber viel Unruhe. Das kann nicht mehr lange so dauern.« (R. Hoffmann, »Entmaoisierung in China. Zur Vorgeschichte der Kulturrevolution«, München, o. J., S. 29)
Auch diese Lektion musste die chinesische Bourgeoisie einstecken: Im Laufe der kapitalistischen Entwicklung stellen sich die »Proportionen« nicht durch die Zauberkraft des Willens, sondern durch Wirtschaftskatastrophen her. Jetzt kamen wieder vorher verschmähte Praktiken zur Geltung: materielle Anreize, Profit als Erfolgsmassstab, Ausweitung des privaten Hoflandes und freier Märkte, Betonung des Fachwissens etc.
In der Industrie besetzten wieder Manager die Konzernspitzen, der Unmut der Arbeiter wurde durch ein ausgeklügeltes System von Prämien und sonstigen Vergünstigungen aufgefangen und belebte natürlich auch die allgemeine »Arbeitsfreude«. Jetzt hatte man einen Plan gar nicht erst erstellt. Von Planung konnte auch keine Rede sein. Alles hatte einen provisorischen Charakter und die Betriebe bekamen meistens nichts anderes als sog. vorläufige Pläne in die Hand, wobei der Prozess der »Planerstellung« häufig erst Mitte des laufenden »Planjahres« abgeschlossen war. In der Landwirtschaft galten die Prinzipien der »Drei Freiheiten und eine Garantie«, was konkret hiess: freier Markt, freie Privatparzelle und Eigenverantwortung der Kommunebetriebe für Gewinn und Verlust; »eine Garantie« bedeutete die Zusicherung eines bestimmten Ertragsanteils für die bäuerlichen Einzelhaushalte.
Mit diesen Zugeständnissen brachte man die Massen zwar wieder an die Arbeit, aber der Traum vom baldigen Grossreich war erst mal vorbei. Grössere Summen blieben in den Taschen der Bauern und Arbeiter, was die Mehrwertrate schrumpfen liess. Der Wegfall »brüderlicher« Kredite – vielmehr zahlte China nach Schätzungen zwischen 1960 und 1964 über 1 Mrd. US-$ an die SU zurück – und die Importe für die knurrenden Mägen zerrten zusätzlich am Akkumulationsfonds. Aber insgesamt gelang den jetzt am Schalthebel sitzenden »Pragmatikern« ein positiver Schnitt. Die Entwicklung blieb zwar in den einzelnen Jahren recht unterschiedlich, das sind eben die Gesetze des Kapitalismus, aber die Wirtschaftskrise Anfang der 1960er-Jahre wurde in Industrie und Landwirtschaft weitgehend überwunden. Die Angst vor sozialen Unruhen sass diesen Arbeiterführern mit ihren feinen Kitteln doch zu sehr im Nacken, als dass sie nicht begriffen hätten, welche Bombe es zu entschärfen galt. Die statistischen Angaben sind allerdings im einzelnen ungenau, schliesslich beruhen sie auf Schätzungen, denn die Vertreter des chinesischen Kapitals waren von dem Zickzack ihrer geplanten Wirtschaft so wenig angetan, dass sie seit dem Desaster des »Grossen Sprung zurück« keine Statistiken mehr veröffentlichten. Weichen auch die Zahlen westlicher Spezialisten im einzelnen ab, so zeigen sie aber im Schnitt ganz klar, dass von einer erweiterten Reproduktion des chinesischen Kapitals auch in diesen Jahren keine Rede sein konnte. Das Schneckentempo war perfekt: es handelte sich in der Tat nur um eine Konsolidierung des Bestandes. Neue Investitionen wurden in der Regel nicht vorgenommen, eine Steigerung der Industrieproduktion im Grund nur durch eine bessere Auslastung bestehender Kapazitäten erreicht. Insgesamt wurde 1965 der Produktionsstand Ende der 1950er-Jahre nicht oder nur unwesentlich überschritten – wie gesagt, die Zahlen sind in dieser Beziehung nicht eindeutig. In zwei Schlüsselbereichen der industriellen Entwicklung – Kohle und Stahl – stagnierte der Ausstoss praktisch bis 1965. Als Ergebnis stand die industrielle Produktion in China 1965 wenig höher als 1958, dem ersten Jahr des Grossen Sprungs.
Die Mao-Gruppe war zwar nach der Katastrophe des Grossen Sprungs weitgehend ins Abseits der chinesischen Politik geraten, aber ihr Widerstand gegen die Praxis der »Pragmatiker« blieb virulent. Seit dem definitiven Sieg der Liu-Deng-Fraktion hatte Mao durch die von ihm lancierte »Sozialistische Erziehungsbewegung« (SEB) den Kurs der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu beeinflussen versucht. Denn die SEB hatte kaum etwas mit Erziehung, aber sehr viel mit allgemeiner Hebung der Produktivität durch das scheinbar so probate Mittel der Massenmobilisierung zu tun. Anfang 1963 verschärft sich diese maoistische Bewegung gegen die »Revisionisten« und manifestiert sich vornehmlich in den zwei Kampagnen »Lernt von der Volksbefreiungsarmee« und »Studiert die Worte des Vorsitzenden Mao«. Vor allem die Jugend soll wieder im Geist eines selbstlosen Kollektivismus erzogen werden.
Dagegen sieht die liuistische Fraktion der chinesischen Bourgeoisie in den neuen maoistischen Radikalisierungsversuchen eine Bedrohung alles dessen, was sie seit dem Grossen Sprung aufzubauen bestrebt war: einen effektiven Staatsapparat, eine leistungsfähige Wirtschaft und ein funktionierendes Erziehungssystem. Sie ist nicht bereit, vor den romantischen Utopien eines alten Mannes zu kapitulieren und verhindert durch ihre Gegenwehr eine Umsetzung der maoistischen Aktionen in die Praxis. Am Vorabend der Kulturrevolution, die praktisch eine radikalere Fortsetzung der SEB ist, sieht sich Mao deshalb weitgehend isoliert. Das Politbüro bleibt nach aussen hin die Kommandohöhe der Partei, wo die maoistischen Kräfte nach Herzenslust agieren und Politik formulieren können. Aber wenn es ans Umsetzen geht, verfolgt das von liuistischen Kräften besetzte Sekretariat seine eigene Linie und lässt nur entsprechendes durch den bürokratischen Filter. Wichtiges Indiz für diese Isolierung Maos ist auch die Tatsache, dass sich Mao für seine dann 1965–66 betriebene Kampagne gegen das »Hauptquartier der Bourgeoisie« weder auf die Partei noch auf eine andere Massenorganisation stützen konnte, sondern in den »Roten Garden« eine neue Organisation schaffen musste.
Als offiziellen Startschuss für diese typisch maoistische Form von Revolution kann man die 12-tägige Geheimkonferenz des 11. Plenums des VIII. ZK Anfang August 1966 bezeichnen. Politbüro, Sekretariat des ZK wurden neu besetzt, und Lin Biao avancierte anstelle von Liu zum zweiten Mann in der Parteiführung und zum Nachfolger Maos. Laut verabschiedeter »16-Punkte Resolution zur Proletarischen Kulturrevolution« galt es hauptsächlich folgende drei Aufgaben zu erfüllen:
1. die Parteimachthaber, die den kapitalistischen Weg gehen, zu bekämpfen und ihnen einen vernichtenden Schlag zu versetzen;
2. die reaktionären bürgerlichen akademischen Autoritäten und die Ideologie der Bourgeoisie zu kritisieren und
3. Erziehung, Literatur und Kunst und alle anderen Teile des Überbaus umzuformen.
Ferner wurden die »Kulturrevolutionsgruppen« zu legalen und ständigen Machtorganen der »Kulturrevolution« (GPKR) erklärt und beauftragt, die obigen Aufgaben in die Tat umzusetzen. Mit Hilfe der »fortschrittlichen Jugendlichen« wollte sich Mao so wieder in der Partei durchsetzen. Im Westen sah man vor allem die populistische Fassade dieser bürgerlichen Fraktionskämpfe um die effektivste Taktik für die anstehenden Aufgaben der Kapitalakkumulation. Und vor allem vom kapitalistischen Alltag »frustrierte« Kleinbürger sahen im »Neuen Menschen« Maos mit dem Slogan »Five Togethers« (Gemeinsam arbeiten, essen, leben, studieren und Wehrübungen durchführen) bei allgemeiner Selbstlosigkeit und weitgehender Askese eine Alternative zu dieser »Scheiss-Konsumgesellschaft«. Die Mythen wuchern und nehmen die Gestalt privater Träume an, mit der brutalen Wirklichkeit haben sie nichts zu tun. Diese Revolution von oben wurde durch Dekrete eröffnet und wieder per Dekret beendet. Von sozialer Umwälzung war zu keinem Augenblick die Rede – im Gegenteil. Bei der Suche Maos nach der verlorenen Unschuld des Partisanen von Yenan, blieben die breiten Massen ganz im Gegensatz zu dem oft gehörten Geschwätz von Anfang an wohlweislich ausgeschlossen. Hier wurden auch die sonst so radikalen Maoisten nervös: Die Arbeiter und Bauern sollten arbeiten, das war ihr Beitrag zur Revolution. Leitartikel und politische Kommentare schärfen dies dem »Volk« immer auf’s neue ein. »Die breiten Massen der Arbeiter und Bauern sollen den revolutionären Eifer, den sie aus der kulturrevolutionären Bewegung gewonnen haben, dazu verwenden, die Produktionsarbeit voranzutreiben.« Bei den Massen gehe es darum, »auf dem Posten zu bleiben und alle Energien einzusetzen, um die industrielle und landwirtschaftliche Produktion zu erhöhen.« (»Renmin Ribao«, 14. 9. 1966)
»Revolution« und radikale Kritik habe tunlichst vor den Werktoren und den Volkskommunen halt zu machen. Der Arbeitsplatz lag eben ausserhalb des »revolutionären« Sektors. In Shanghai, dem industriellen Zentrum des Landes, beschränkt sich die Kulturrevolution deshalb auf die Züge einer reinen Produktionskampagne. Der Versuch, die arbeitenden Massen, anderslautenden Parolen zum Trotz, auf strenge Leistungsdisziplinen zu verpflichten und von jeder revolutionär-destruktiven Aktion fernzuhalten, findet sich im landwirtschaftlichen Bereich noch ausgeprägter verwirklicht. Anders als zu Zeiten des Grossen Sprungs will auch Mao hier von Experimenten nichts mehr wissen. So gibt die »Grosse proletarische Kulturrevolution« das typische Bild einer maoistischen, sprich bürgerlichen Massenkampagne. Wo man hinsieht, erblickt man eine Revolution ohne Revolutionäre: eine Bewegung, die zwar propagandistisch die Totalität der Gesellschaft erfasst, in Wirklichkeit aber alle wirtschaftlich wichtigen Bereiche aus der Unruhe ausspart.
Die Schulen und Universitäten schliessen und die Jugend sich austoben lassen, um sie als Manövermasse im bürgerlichen Flügelkampf zu benutzen, ist eine Sache, aber die Produktion in Landwirtschaft und Industrie auf’s neue zu gefährden, eine andere. Die grösste Sorge dieser Regisseure einer künstlichen Revolution bestand deshalb darin, dass sich ihre »radikalen« Schützlinge in die Fabriken verirren könnten. Deshalb galt als Richtlinie:
»Weder Schülern noch Studenten ist es gestattet, als Rotgardisten in die Fabriken und die Dörfer zu gehen, um die Revolution anzufachen und die dortigen Organe in die Hand zu nehmen.« (ebd.)
Alle Versuche, die Produktionsstätten in die Aktivitäten gegen die Liu-Fraktion einzubeziehen, werden von der Kulturrevolutionären Gruppe (KRG), dem maoistischen Machtzentrum, systematisch bekämpft. Als tausende unruhiger Arbeiter aus Shanghai die Arbeitsplätze verlassen, um nach Peking zu fahren, gelang es erst Zhang Chunqiao, dem dortigen wichtigsten Mann Maos, in langwierigen Verhandlungen, einen Massenexodus mit seinen katastrophalen Folgen für die immer noch geschwächte chinesische Wirtschaft zu vermeiden. Selbst der »linke« Chen Boda, damaliger Intimus Maos, schickte ein Telegramm an die Leitung der rebellierenden Arbeiter:
»Ich kann eure Begeisterung verstehen, nach Peking zu kommen. Es ist gut, wenn ihr an der Kulturrevolution teilnehmt. Aber ihr müsst auch den Anordnungen des Vorsitzenden Mao und des ZK Folge leisten. In dieser Angelegenheit sind zwei Prinzipien im Spiel, und das sekundäre muss sich dem primären unterordnen. Als Arbeiter ist eure Hauptaufgabe zu arbeiten. Die Teilnahme an der Revolution ist lediglich zweitrangig. Deshalb müsst ihr an den Arbeitsplatz zurückkehren.« (»Shanghaier Wandzeitung« vom 13. 11. 1966, zitiert bei Hoffmann, »Maos Rebellen«, S. 24)
So hat noch jeder Kapitalist zu allen Zeiten zu »seinen« Arbeitern gesprochen. Aber diese nervöse Sorge um die Arbeitsdisziplin hat noch einen tieferen Grund. Der Schock des Grossen Sprungs hatte selbst Mao kuriert. In der Wirtschaftspolitik wollte man sich jetzt auf keine radikalen Experimente mehr einlassen. Allen demagogischen Parolen vom »Kampf zweier Linien« zum trotz hatte auch Mao wesentliche Teile des wirtschaftlichen Rekonstruktionsprogrammes nach 1960 mit formuliert und mitverantwortet.
Als der Widerstand der Bürokratie in Peking und den teilweise recht selbständig verwalteten Provinzen einen schnellen Streich gegen die antimaoistischen Kräfte unmöglich machte und gegen Ende 1966 die Mao-Fraktion wieder in weitgehender Isolation sich befand, versuchte die KRG allerdings eine letzte Radikalisierung ihrer Aktionen gegen die Partei durch Mobilisierung proletarischer Elemente mittels Revolutionärer Rebellen (RR). Und mit diesen auf den Plan gerufenen Kräften wird die Geschichte in der Tat interessant. Die RR repräsentieren im wesentlichen drei Gruppen des chinesischen Proletariats: 1. die sog. Arbeitsdienstleute, 2. die Vertragsarbeiter und 3. Jungarbeiter. Dazu zählen aber gesondert organisiert insgesamt noch Landarbeiter und arme Bauern wie entlassene Soldaten, die gewöhnlich schlecht Anschluss in ziviler Arbeit fanden.
Um die gewaltigen chinesischen Massen zu bändigen und wegen der geringen Möglichkeiten auf Grund mangelnder Akkumulation, die zahlreichen Schulabgänger in den Städten zu beschäftigen, wurden permanent junge Menschen in die Kommunen oder auf Staatsfarmen des Hinterlandes geschickt, um dort als billige Arbeitskräfte ausgebeutet zu werden. Nur wer die überstrengen Prüfungen zur Oberstufe schaffte, konnte sich eine Chance ausrechnen, in der Stadt zu bleiben. Für die anderen aber gab es nur den Weg in die Dörfer. Die Selektion vollzog sich nach der Devise: »Die Besten gehen ins Studium, die Guten in Fabrik und Büro, der Ausschuss verzieht sich aufs Land«. Es waren denn auch gerade die Arbeiterkinder, die ihren Traum von einem besseren Leben so schnöde behandelt sahen. Dagegen durchliefen die Kaderkinder den glatten Weg von Eliteschulen. Also auch in dieser Hinsicht nichts neues unter der scheinbar so roten Sonne Chinas. Diesen »Bauernhelfern« gab die Kulturrevolution die einmalige Chance, wieder in die Städte zu ziehen und einen wichtigen Teil der »antiautoritären« Bewegung der RR zu bilden. Nach der Niederlage im Jahre 1967 wurden sie aber wieder schleunigst zurück verfrachtet – wenn auch häufig jetzt in Arbeitslager. Interessant für die soziale Wirklichkeit dieses scheinbar so einmaligen Modellfalles China ist auch die 2. Kategorie. Als die chinesischen Kapitalisten die Löhne der Arbeiter im allgemeinen für zu hoch betrachteten, aber wegen der Gefahr des passiven Widerstandes keine offene Lohnsenkung wagten, schufen sie einfach einen neuen Typ von Arbeiter – eben den Vertragsarbeiter. Ursprünglich als Bauernarbeiter entstanden, der je nach Saison in der nahen Stadt arbeitete, verselbständigte sich diese Kategorie und wurde von der Bourgeoisie bewusst institutionalisiert. Dieser Arbeiter genoss gewöhnlich im Gegensatz zu seinem »regulären« Kollegen keinerlei arbeitsrechtlichen Schutz, konnte somit jederzeit gefeuert werden. Der chinesische Manager verfügte also jetzt über die Möglichkeit, den Kostenfaktor Arbeitskraft je nach Geschäftsverlauf disponibel zu halten. Angebote aus dem verelendeten Landproletariat gab es zur Genüge. Dieses sog. zweistufige Arbeitssystem brachte also hinsichtlich Kostenersparnis und Flexibilität dem Kapital einen wichtigen Spielraum.
Die dritte Gruppe stellten die Lehrlinge und Jungarbeiter, die ein besonderes Gewicht bekommt wenn man weiss, dass 1965 ca. 60 % aller Chinesen unter 25 Jahren alt war. Ihre Arbeitsbedingungen erwiesen sich in der Realität als besonders mies. Schlecht bezahlt und schikaniert, erfuhren sie tagtäglich, dass ihre Beschäftigung mehr ein politischer Gnadenakt war, damit sie nicht auf der Strasse herumlungerten. Einmütig ist daher die Klage der jungen Arbeiter über die entwürdigenden Bedingungen, die ihre Ausbildung umgeben. Daneben erhob sich der Unmut auf dem Lande. Die Bauern wurden durch die Zugeständnisse der Konsolidierungsphase zwar teilweise befriedet, aber insgesamt ergaben sich neue Probleme. Der Trend zum Privatland und beschränkter Marktwirtschaft hatte das chinesische Dorf sehr bald sozial auseinander dividiert. Die Leistungsschwächeren wurden von den Leistungsstärkeren an die Wand gedrückt, die »armen Bauern« und die Landarbeiter wurden zunehmend Opfer dieses Systems. Daneben nahmen generell die bäuerlichen Proteste gegen die staatlichen Zwangsabgaben zu. Man spürte sehr deutlich, dass mit der Arbeit der Bauern ein Grossteil des städtisch-industriellen Sektors finanziert werden musste. Mit der Kulturrevolution und der allgemeinen Schwächung der Staatsstrukturen wurden die Proteste völlig frei artikuliert. So heisst es z. B. bei Bauernrebellen aus dem Hinterland Shanghais: »Die Städte leben in Saus und Braus, dort ist Geld und soziale Sicherheit. In Fabriken und Büros gibt’s zwei Wochen Ferien im Jahr, wenn nicht mehr. Warum ist das möglich? Weil wir für sie arbeiten, weil unsere Arbeit zu niedrig angesetzt ist.« (Hoffmann, »Maos Rebellen«, S. 65). Dass man mit solcher Mentalität den Staat und die Wirtschaftsbehörden betrog, wo man nur konnte, versteht sich von selbst. Mao persönlich hat auf dem X. Plenum Beschwerde darüber geführt, dass immer wieder grosse Mengen von Getreidefrüchten verschwinden und dem freien Markt zugeführt wurden.
Diese aggressive Stimmung in Stadt und Land, zumindest bei den offen Benachteiligten dieser chinesischen Marktwirtschaft, ergab ein explosives Gemisch: Städtische Rebellen mobilisierten das Dorf und radikalisierte Landarbeiter und arme Bauern strömten in die Kampfverbände der Stadtrebellen, um sie in entscheidenden Gefechten zu unterstützen. Gerade auf dem Land machte sich der Unmut auf breiter Ebene Luft: die zentralen Organe hätten sie in ein Diensthaus gesteckt; ihren Interessen wäre generell besser gedient, wenn die Kommunen Wirtschaft und Markt auf eigene Rechnung betrieben, ohne dem Akkumulationsbedürfnis des Staates Abgaben machen zu müssen, dessen versprochene Zukunftsvision man sowieso nicht mehr erleben werde. Und für die gängige Apologie ist Mao der geniale Bauernführer, der nur wieder das »Glück für die grösstmögliche Zahl«, so schon Adam Smith, der Ahnherr dieser kapitalistischen Bauernfänger, im Auge habe.
Wie gesagt, diese unruhigen Geister wurden anfangs von der maoistischen Fraktion bewusst aktiviert, weil sich die studentischen Roten Garden als zu lasch erwiesen. Aber bald sollte sich für diese Techniker einer verordneten Revolution erweisen, dass man sehr gefährliche Geister geweckt hatte, und man war das ganze Jahr 1967 vollauf damit beschäftigt, diese sich zunehmend radikalisierenden Teile des Proletariats wieder zu befrieden. Immer klarer trat der antagonistische Gegensatz zwischen den Machthabern in Peking und diesen proletarischen Rebellen zu Tage. Immer offener wurde von letzteren generell die Machtfrage gestellt, und letztlich ging es ihnen dabei nicht wie der Mao-Clique um die Ausbootung einer konkurrierenden Fraktion, sondern wenn auch konfus und verzweifelt um die soziale Umwälzung schlechthin. Sicher wird den Herren in der Pekinger Zentrale der Kulturrevolution die Tonlage »ihrer« Schützlinge schrill in den Ohren geklungen haben:
»Nicht ein oder zwei sollen gehen, dazu haben wir die Rebellion nicht gemacht, auch alle anderen Vorgesetzten sollen verschwinden!« Oder: »Alle Betriebsleiter und Chefs, alle Direktoren und Werkmeister sollen zum Teufel gehen! All die Bonzen in Partei und Verwaltung haben an der produktiven Arbeit sowieso nicht teilgenommen. Für jeden Arbeitsgang gibt es zwei Meister und einen Sekretär, die der Sache nur zuschauen. Jetzt, wo wir die Macht haben, wird sich die Angelegenheit gründlich ändern«. (Hoffmann, S. 68)
Dabei ergibt das Spektrum der RR ein buntes und verwirrendes Gemisch verschiedener Organisationen und ad hoc-Grüppchen, die nur selten eine Koordinierung untereinander herstellen können. Ihren programmatisch klarsten Ausdruck findet man in dem Konzept der »Kommune von Shanghai«, die im Wesen ein Verband autonomer Aktionsgruppen sein sollte, die sich auf ihre jeweiligen Produktionsstätten stützen. Letztes Ziel der Kulturrevolution und der Rebellenbewegung sollte nach den Verlautbarungen ihrer radikalen Ideologen eine völlige Neuordnung des Landes sein, die China zu einem »Verband von Kommunen« umformt, zu einem Bund, der alle Gewalt bei den Basiseinheiten belässt, die als sich selbstverwaltende Gemeinden und Betriebe dargestellt werden. Hier haben wir in Theorie und Praxis genau jenes anarchistische Gedankengut, dass ein politisch unreifes und von einem kleinbürgerlichen Meer umgebenes Proletariat noch stets in die Irre geleitet hat, wobei angesichts des Schindluders, dass die Maoisten mit den revolutionären Prinzipien des Marxismus treiben, solche linksradikale Reaktionen ohnehin auftreten müssen.
Als es in dieser radikal aufgeheizten Atmosphäre Januar 1967 zu heftigen Arbeiteraufständen in den wichtigsten Städten, vor allem in Shanghai, kam, die die ersten grossen Aufstände seit den Kämpfen von 1925–27 darstellten, erklärte die maoistische Bourgeoisie die »Revolution« sofort für beendet. Angesichts dieser sozialen Bedrohung von unten vergass man schnell den Machtkampf an der Spitze. Sobald eine Bourgeoisie sah, dass eine von ihr lancierte Bewegung ihre sozio-ökonomische Grundlage generell in Frage stellte, war sie noch immer zu jedem Kompromiss untereinander bereit gewesen und zu jeder Schandtat gegenüber dem Proletariat. Mit allen möglichen Tricks versuchte man, die besser gestellten Arbeiter (eine Art chinesischer Arbeiteraristokratie) bei der Stange zu halten und gegen die radikalisierten Teile aufzuhetzen. Es war sicher auch eine zentrale Schwäche dieser anarchistischen Praxis, dass sie es nicht zuletzt wegen ihrer revolutionären Ungeduld und ihres radikalen Egalismus (z. B. Forderung nach Abbau der höheren Arbeiterlöhne) nie verstand, diesen Teil des Proletariats an sich zu binden. So hatte die Bourgeoisie durchweg leichtes Spiel. Ein Teil des Proletariats wurde gegen das andere gehetzt, und den Rest besorgte das allgegenwärtige Militär. In teilweise blutigen Schlachten räumte man mit diesen anarchistischen Rebellenverbänden auf, die in der Stunde des Kampfes zwar ihre wilde Entschlossenheit unter Beweis stellten, aber in stolzer Selbstüberschätzung lieber einzeln untergingen, als sich gegen eine massive Übermacht vereinten.
Bei alledem gingen Wirtschaft und Infrastruktur einer raschen Auflösung entgegen. Die industrielle Produktion war von Dezember bis Ende Januar 1967 auf einen Punkt gesunken, wo sie dem allgemeinen Kollaps entgegensah. Durch Kampfeinwirkungen oder Sabotage wurden gerade in den modernsten Anlagen gewaltige Schäden verursacht. Wollte man nicht einem zweiten Desaster entgegengehen, musste man bremsend eingreifen. Und hier erwies die Mao-Fraktion durchaus ihr Geschick. Ähnlich wie der revolutionäre Rätegedanke in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg von der Bourgeoisie zwecks Restauration der Verhältnisse in den ständestaatlichen Rätegedanken umgemünzt wurde, so machte die chinesische Bourgeoisie aus der anarchistischen Kommune das ordnungsschaffende »Revolutionskomitee«. In Shanghai und Shansi, Industriezonen, wo die Kämpfe am heftigsten tobten, wurde dieses Befriedungsmodell mit Gewalt von den Militärs installiert und als rettender Gedanke von Mao abgesegnet. Diese Ereignisse vom Februar 1967 brachten die entscheidende Wende: Die gesellschaftlich wichtigen Kräfte – gemässigte Arbeiter und bislang attackierte Kader – wurden unter der einigenden militärischen Klammer als »Dreierallianzen« zusammengefasst. Alles was danach bis zum 9. Parteitag vom April 1969 geschah, war dann sekundär. Zwar mussten die radikalen Kräfte in teilweise wilden und blutigen Gefechten noch ausgeschaltet werden, aber in diesen »Februarstürmen« wurden letztlich schon die entscheidenden Daten für die spätere Entwicklung gesetzt. Die Rebellen wurden als konterrevolutionär bekämpft und es waren die ehemals als »kapitalistisch« angegriffenen Bürokraten, die im anstehenden Prozess der Konzentration aller Kräfte wieder das Heft in die Hand nahmen.
Obwohl für die Phase der Kulturrevolution offensichtlich wieder ein Fünfjahrplan angesetzt war, kann von einer planmässigen Lenkung der Wirtschaft natürlich keine Rede sein, was bei den politischen Unruhen auch nicht verwundert. Dagegen beschränkte sich die »zentrale« Planung von nun an überwiegend auf die Vorgabe quantitativer Ziele für die Provinzen und überliess im übrigen diesen die konkrete Ausführung. Wegen der raschen Intervention der Armee konnte die wirtschaftliche Lage sich bald wieder konsolidieren. Nur 1967, dem Jahr der blutigen Niederwerfung der Rebellenbewegung, war die Produktionstätigkeit gehemmt, weswegen die Phase der Kulturrevolution insgesamt eine eher stabile Entwicklung aufweist. In der Landwirtschaft hatte sich aber mit einem durchschnittlichen Wachstum von 1 % bei einem ca. 2,3 %-igem Bevölkerungsanstieg die Ernährungslage gegenüber der Konsolidierungsphase wieder klar verschlechtert.
Nachdem sich mit der »Niederlage« der Viererbande genannten Fraktion der Bourgeoisie die kulturrevolutionären Nachwehen gegeben haben, zeigt sich von neuem klar, wie ein pragmatischer Kurs, der im Grund vom populistischen Geschwätz nur zeitweise überlagert und deswegen nicht scharf kenntlich war, [wieder hervortritt]. Noch Altmeister Tschu setzte mit seinem Programm der »Vier Modernisierungen« in Landwirtschaft, Industrie, Rüstung und Wissenschaft die entscheidende Perspektive. Kurzfristig bis 1980 soll China nach den aktuellen Vorstellungen seiner Bourgeoisie weitgehend auf die Beine kommen, um langfristig bis zur Jahrhundertwende in den erlauchten Kreis der entwickelten kapitalistischen Industrieländer aufgestiegen zu sein. Aber die Aufgabe ist sicher nach wie vor gewaltig, lebten doch Mitte der 1970er-Jahre noch rd. 80 % aller Chinesen auf dem Lande, wovon etwa rd. 75 % im Agrarbereich beschäftigt sind. Dabei hat die staatliche Kontrolle die chinesischen Massen wieder voll im Griff, denn nur aus ihrer Ausbeutung lassen sich diese anvisierten Perspektiven überhaupt realisieren. Wie weit allerdings die Wunschvorstellungen der chinesischen Bourgeoisie jetzt realistischer sind, muss angesichts vergangener Erfahrungen mehr als offen bleiben. Jedenfalls wird die immer stärker vorgenommene politische wie wirtschaftliche Hinwendung zum kapitalistischen Westen – eine geschichtlich determinierte Entwicklung, die wir seit 1949 prognostizierten – kaum die chinesischen Hoffnungen befriedigen können. Im Grunde sind wir wieder beim Anfang des 1. FJP, nur mit einem anderen kapitalistischen Block als »Partner«. Dass sich der Westen gierig auf den »Hoffnungsmarkt« China wirft, ist bei seiner Absatzmisere nicht erstaunlich. Aber auch hier muss sich der Warenaustausch profitbringend zu Buche schlagen. Die Zeit der 1960er-Jahre hat dem chinesischen Kapital klar gezeigt, dass die nach dem Bruch mit Russland heroisch gewählte »Unabhängigkeit« keine Tugend sein kann und kaum mehr als Stagnation einbringt, nachdem die Entwicklung der Produktivkräfte eine Integration in den Weltmarkt erzwingt. Das Rezept der radikalen Mao-Fraktion, Selbstgenügsamkeit mit einem stimulierenden Populismus zu verbinden, ist jedenfalls gründlich gescheitert. Natürlich hat Protektionismus und Autarkie nicht ausschliesslich etwas mit Ideologie zu tun, sondern ist ein durchaus reales Entwicklungskonzept jedes jungen Kapitals und wurde einst nach dem Motto des damaligen Heroen der deutschen Bourgeoisie, Friedrich List, der die Devise »Beschränkung ist das Mittel, Freiheit ist das Ziel« beim Kampf gegen die englische Vorherrschaft in Theorie und Praxis angab, auch eifrig praktiziert. Zwar können hier keine umfassenden Bemerkungen zu diesem Komplex gemacht werden, aber nach dem bisher dargelegten lässt sich eins jedoch festhalten: Wendet man seinen Blick weniger auf die verwirrende Szenerie volkstümlich uniformierter Marschbrigaden und einer scheinbar mit allen »marxistischen« Kniffen arbeitenden »revolutionären« Führung, als auf die materiellen Bedingungen des Ablaufs einer gewaltigen Industrialisierungskampagne unter »national-sozialistischem« Getöse, dann löst sich das »Rätsel China« bald als das auf, was es ist – eine bürgerlich-kapitalistische Gewaltkur, um unter weitgehend autarken Bedingungen eines nationalen Entwicklungsweges die ursprüngliche Akkumulation als Voraussetzung einer funktionierenden kapitalistischen Wirtschaft durchzuboxen. Nur unter den Bedingungen der stalinistischen Konterrevolution mit ihrem Konzept eines »Sozialismus in einem Lande« war dieser totale Sieg bürgerlicher Denkungsart über den revolutionären Marxismus überhaupt möglich. Natürlich drapiert sich die jeweilige, eben auch die chinesische Bourgeoisie mit den gerade passenden Federn, um von ihrem zentralen Problem abzulenken. Als kleine, erst mit der Durchsetzung des Kapitalismus im Bildungsprozess sich befindende Klasse braucht sie natürlich das »Volk« als Bündnispartner im Kampf gegen die Feudalen und gegen das internationale Kapital. Das »Volk« gilt es also zu mobilisieren gegen einen vermeintlich gemeinsamen Feind, ohne das dieses »Volk« merkt, wohin die Fahrt geht – nämlich in die Diktatur der Bourgeoisie. Gerade angesichts der wütenden Gegnerschaft der schon entwickelten Kapitale, die nur darauf warten, dem Neuankömmling unter dem Sturmruf der »freien« Marktwirtschaft und des »freien« Welthandels bzw. des »proletarischen Internationalismus« eine Lektion zu erteilen, kann alle Industrialisierung aber nur gelingen, wenn man unter grösstmöglicher Aufbietung der staatlichen Gewalt alle sozialen Konflikte verhindert, und die so zwangsweise geschmierte »Volksgemeinschaft« auf die Steigerung der Produktivkräfte konzentriert. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« war der Schlachtruf der französischen Bourgeoisie, die der Welt ihr neues Programm entgegen schrie. In einer allerdings komplexeren Lage – wir sind natürlich nicht mehr im 18. Jahrhundert – spielt diese Rolle der Maoismus, als eifrig gepredigter nationaler »Sozialismus«. Und ohne Zweifel ist dies einer der Hauptgründe, weswegen sich eine im Aufbruch befindliche Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen das imperialistische Entwicklungsmodell à la USA (»Entwicklungshilfe« und Direktinvestition beim Preis der Aufgabe eigener Souveränität und letztlich zu fremdem Nutzen) mit allen möglichen Formen von »Sozialismus« afrikanischer, asiatischer, lateinamerikanischer und eben auch maoistisch-chinesischer Prägung drapiert. Hier gibt es dann bekanntlich keinen Klassenkampf mehr, sondern nur noch den antiimperialistischen Kampf, der natürlich das ganze »Volk« angeht. Dieses Modell hat unter den heutigen konterrevolutionären, d. h. jede proletarische Organisation mit revolutionär-marxistischer Zielsetzung verhindernden Bedingungen gewiss seine sichtbaren Erfolge gezeigt – wie aber auch gerade im untersuchten Fall Chinas seine Grenzen. Auch in China geht der soziale Prozess stetiger Enteignung und Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln nicht ohne Brüche über die Bühne und trotz aller strahlender Bilder ist auch in China Lohnarbeit und Ausbeutung eben Lohnarbeit und Ausbeutung. Maos Bild vom »neuen« Menschen ist gründlich gescheitert. Dieses Produkt ist auch ihm nicht gelungen, nämlich die Verwirklichung des alten bourgeoisen Traums nach einem Arbeitstier, das genügsam, willig, fleissig usw. viel arbeitet und wenig konsumiert, um angesichts allgemeiner Unterentwicklung zu einer erklecklichen Ausbeutungsrate zu kommen, die zur Ankurbelung der Industrialisierung notwendig ist. Im Traum der Mao-Fraktion wäre in der Tat die Kunst der Bourgeoisie, aus ihrem Proletariat das Letzte rauszupressen, auf die Spitze getrieben worden.
Dieses Konzept ist aber nicht erst seit gestern tot. Schon längst praktiziert auch das chinesische Kapital einen pragmatischeren Weg der »vollen Mägen«, eben weil sich gerade das chinesische Proletariat nicht auf eine gleichsam hypnotisierte Arbeitsmaschine reduzieren lässt. Der Chinese hatte bekanntlich noch nie grosse religiöse Anwandlungen und war immer den diesseitigen Freuden zugetan.
Das Konzept der »Radikalen«, das nach innen »Volksgemeinschaft« und »Klassenlosigkeit« durch ständige Ideologisierung und dem Gemeinwohl verpflichtende Parolen glaubte herstellen zu können und nach aussen Autarkie und Protektionismus streng betonte, ist mit Mao, der schon seit längerem kaum mehr was zu sagen hatte, endgültig gestorben. Und dass die »Shanghai-Mafia« so sang- und klanglos verschwinden konnte, ist sicher nicht ein Indiz für den opportunistischen Charakter der »Massen«, die jeweils dem stärkeren zujubeln. Sondern hier zeigt sich mehr oder weniger offen, gleichsam instinktiv die starke innere Ablehnung einer Politik, die immer grössere Leistungen abfordert und mit Phrasen allein bezahlt. Sicher bilden Ideologie, nationale und patriotische Anstachelung der Arbeiter und Bauern zu immer grösserer Mehrarbeit auch Zierwerk der »Pragmatiker«, wie die zweite Fraktion der chinesischen Bourgeoisie meist bezeichnet wird. Aber sie widerspiegeln gleichsam die materiellen Bedingungen eines gewissen quantitativen Niveaus der Produktivkräfte, dass nicht so einfach unter dem Motto der Aufhebung von Hand- und Kopfarbeit, der kollegialen Verwaltung und dem Glauben, dass die »Revolution« gleichsam automatisch zur Produktionssteigerung führen wird, weiterhin erfolgreich weiterzutreiben ist. Innenpolitisch hat auch die Bourgeoisie in China es mit einer widerspenstigen Bauernschaft und einem radikaleren Proletariat zu tun, als den von offizieller Propaganda Eingelullten scheinen mag.
Trotz allem heroischem Geschwätz der Maoisten, die aus dem Zwang zur relativen Autarkie eine Tugend glaubten machen zu müssen, brachte diese Phase auch nur Stagnation und Krise. Nur das krasse Niveau der Unterentwicklung bewahrte China durchweg vor der Katastrophe. Sowenig wie man die wirtschaftliche Basis von Subsistenzwirtschaft und Kleinproduktion in einen »Plan« zwingen konnte, – weshalb es China im Gegensatz zum stalinistischen Russland nie zur stolzen Fassade der Fünfjahrespläne brachte –, sowenig konnte China auf Grund dieser Rückständigkeit in Wirtschaftskrisen versinken. Was sich trotzdem ereignete, war sicher nicht gering. Aber alle Krisen wurden von der breiten bäuerlich-handwerklichen Struktur aufgefangen, weswegen man sich relativ rasch erholte, aber auch kaum je recht vom Flecke kam. Man lernte die Lektion und wandte sich zum Westen, wurde praktisch »Quasi-Alliierter« der USA. Ob sich das auszahlt, ist noch nicht sicher. Aber Tschu und Deng war es klar, dass ihre »Jahrhundert-Vision« nicht unabhängig umzusetzen war. Es handelt sich um das im 2. Teil dieser Reihe kritisierte Konzept von Sun-Yat-sen.
Nach diesen Vorstellung kommt den westlichen Kapitalisten in der Tat eine bedeutende Rolle zu. Das heisst aber andererseits nicht, dass die chinesische Bourgeoisie jetzt weniger national auf Unabhängigkeit bedacht wäre. Dass sich ein weniger entwickeltes nationales Kapital von der stärkeren Konkurrenz alimentieren lässt, war in der Geschichte die Regel. Doch ist dieser Prozess heute angesichts der Saugkraft des imperialistischen Kapitals traumatischer denn je. Sollte China mit »Hilfe« des Westens die stockende Kriechspur seiner bisherigen Entwicklung verlassen können, um den Weg einer stürmischen Industrialisierung einzuschlagen, dann nur unter ungeheuren sozialen Spannungen und Wirtschaftskatastrophen – und damit auch Kämpfen innerhalb der Bourgeoisie. Demgegenüber werden sich die bisherigen sozialen Unruhen in der Volksrepublik als blasse Vorläufer ausnehmen.
Dass im übrigen die bereits abgelaufene Etappe dieses Prozesses kapitalistischer Entwicklung von unseren heutigen »Linken« je nach Weltbild als Rätsel, als Sieg der Revolution, als Niederlage der Arbeiterklasse bzw. den Sieg des Kapitalismus unter Hua Guofeng, als Erscheinung eines degenerierten Arbeiterstaates oder als Staatskapitalismus unter der Fuchtel repressiver Marxisten begriffen wird, sagt mehr als genug über ihre Geistesverwirrung aus, die sich dazu noch glaubt, im Namen des Marxismus zu Wort melden zu können. Sicher werden viele dieser Kleinbürger, vor allem aber ihr maoistischer Vortrupp, in ihrem Traum nach einer heilen Welt des Kapitalismus ohne Ausbeutung, ohne Bonzen, ohne Angst, nach den jüngsten Ereignissen irre werden, den internen ideologischen Parteiterror verschärfen – und sich mit Feuereifer auf neue Aktionen gegen Atomkraftwerke und zur »Verteidigung demokratischer Rechte« stürzen. Von Politzirkus zu Politzirkus bis zur ausgelaugten Vergreisung, immer ein Ventil für den überflutenden Aggressionsstau parat. Sicher nicht nur in China wird es Zeit, dass das Proletariat und damit seine marxistische Klassenpartei auf den Plan treten. Es gilt, die Bedingungen dafür international vorzubereiten.
