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DIE SOZIALE BEWEGUNG IN CHINA (II)


Content:

Die soziale Bewegung in China (II)
IV. Die nationale Frage
Marxismus und nationaler Staat
Zwei Phasen des Kapitalismus
Die »Generalprobe«: Russland 1905, China 1911
Der imperialistische Krieg und die Perspektiven der proletarischen Revolution in Asien
Die Theorie der »Etappen« der antikolonialen Revolution
Das Erbe Sun Yat-sens: die »neue Demokratie«
Anhang
Notes
Source



Die soziale Bewegung in China (II)

Wir haben bereits die Agrarfrage in China und die Taktik der KPCh bis 1949 behandelt. Die Reformen seit der Errichtung der »Volksrepublik« werden zu einem späteren Zeitpunkt untersucht. Wir möchten aber die Schlussfolgerungen des ersten Teils wiederholen:
– eine »Agrarrevolution« kann für sich selbst genommen nur eine bürgerliche Revolution sein, deren Folgen die Befreiung der Produktivkräfte von den Hindernissen der Naturalwirtschaft, sowie die Entwicklung auf nationaler Ebene der Warenwirtschaft und der Akkumulation des Kapitals sind;
– statt die kleinbürgerlichen Illusionen über den »antikapitalistischen« Charakter dieser Revolution zu kritisieren, hat die Partei Maos sie übernommen, um sie unter dem Einfluss des russischen Stalinismus zu einer Theorie des »Aufbaus des Sozialismus« in China zu entwickeln;
– weit davon entfernt, eine »radikale« Agrarrevolution zu führen, hat die KPCh immer den reformistischen Weg gewählt (Herabsetzung des Pachtzinses, Landverteilung) und nicht den revolutionären Weg (Nationalisierung des Bodens und Bauernräte);
– somit hat die KPCh dieselben Fehler, Unsicherheiten und Kompromisse der kleinbürgerlichen Parteien wiederholt, die in Russland von den »Volkstümlern« und in China von der Ideologie Sun Yat-sens inspiriert waren; während die Bolschewiki diese Illusionen auf dem Weg zur Oktoberrevolution entlarvt und geschlagen hatten, stellt ihr Sieg in China die Tiefe der internationalen Konterrevolution dar.

Das Ziel dieses Kapitels ist gerade aufzuzeigen, dass trotz der »antiimperialistischen« Ansprüche Pekings die falschen chinesischen Kommunisten den Impuls der revolutionären Massen in die nationale und internationale Strategie der Bourgeoisie gelenkt haben. Was stellen der chinesische »Extremismus«, die Forderung nach einem Plätzchen in der imperialistischen UNO und einige Bescheinigungen über Siege im wirtschaftlichen Aufbau in der Tat eigentlich dar, im Vergleich zu dem Erdbeben, zu den revolutionären Rückwirkungen, die Marx und Lenin von der Entstehung eines modernen Chinas, das revolutionär mit seiner jahrhundertlangen Isolierung und Rückstand bricht, für Europa und Amerika erwarten? Man muss zugeben, dass die Bauernbewegung in China für den Weltkapitalismus keine mit der von der Oktoberrevolution vergleichbare Todesdrohung darstellte. Auch wenn es den Demokraten missfällt, waren es weder die Breite der Massen noch die Grösse der Gebiete, die dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben, sondern die Frage der Klassenführung, die Frage der Theorie und des revolutionären Programms.

IV. Die nationale Frage

Wir behandeln hier weniger die offizielle Ideologie des chinesischen Staates seit der Gründung der »Volksdemokratie« sondern vielmehr die historische und soziale Praxis und Taktik der KPCh in der revolutionären Periode, die sich mit der russischen Revolution von 1905 für den ganzen Orient eröffnete[7].

Marxismus und nationaler Staat

In seiner Broschüre »Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen« fasst Lenin die Position von Marx gegenüber den nationalen Bewegungen im Europa des vorigen Jahrhunderts zusammen und betont den Charakter der nationalen Frage und die dialektische Methode des Marxismus, sie zu behandeln:

»Die Arbeiterklasse darf am allerwenigsten aus der nationalen Frage einen Fetisch machen, denn die Entwicklung des Kapitalismus erweckt nicht unbedingt alle Nationen zu selbständigem Leben. Sich aber, wenn nationale Massenbewegungen einmal entstanden sind, von ihnen abwenden, auf eine Unterstützung des Fortschrittlichen in ihnen verzichten, hiesse in Wirklichkeit nationalistischen Vorurteilen unterliegen, nämlich: in der ›eigenen Nation‹ die ›Musternation‹ sehen« (oder, fügen wir von uns aus hinzu, die Nation, die das ausschliessliche Privileg auf staatliche Konstituierung besitzt.) (»Ausgewählte Werke« in 3 Bänden, Bd. 1, S. 724, Berlin 1970).

Es ist kein Marxist, wer unter diesem Passus nicht den Doppelkampf der Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus versteht, einerseits gegen die liberale Bourgeoisie mazzinischen Typs, die aus der nationalen Unabhängigkeit und dem bürgerlichen Staat einen Fetisch machte, und andererseits gegen die Militanten der Arbeiterbewegung (englische Chartisten, französische Proudhonisten), die den nationalen Bewegungen in Irland und Polen die Unterstützung verweigerten. Seitdem haben sich unter diesen beiden elementarsten Formen alle Nuancen des Opportunismus in der National- und Kolonialfrage kristallisiert. Auch hier haben die Stalinisten nichts Neues erfunden.

Nie hat der stalinistische Antiimperialismus die »legitime« Forderung der abstrakten Prinzipien von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« für alle »Völker« überschritten. Nie hat er in den nationalen Bewegungen des Orients etwas anderes als die Fahne eines Klassenblocks, die man auf dem Bauwerk eines unabhängigen bürgerlichen Staates hisst, gesehen. In der Praxis haben diese pompösen Phrasen ihren Ausdruck in den niederträchtigsten Verraten an den antikolonialen Revolutionen gefunden die mehr als ein halbes Jahrhundert gescheiterter Bürgerkriege und Aufstände brauchten, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Wie von Marx und Lenin vorausgesehen, hat sich das in seinem Angriff gegen die Bourgeoisie besiegte Proletariat der Metropolen und mit ihm die moskauer Internationale den nationalistischen Vorurteilen gebeugt. Dieser Verrat findet seinen Ausdruck in dem Verhalten der KP Frankreichs gegenüber der algerischen Revolution und dem des Kremls gegenüber der chinesischen Revolution. Haben denn Stalin 1927 und Thorez 1936 den unterdrückten Völkern nicht ihre eigenen Nationen als »Modellnationen« präsentiert, die das ausschliessliche Prioritätsrecht für den »Aufbau des Sozialismus« besitzen?

Der Marxismus kann sich aber nicht darauf beschränken, dieses Tandem von Bourgeoisie und Opportunismus zu entlarven. Er kann nicht bei diesem schreienden Widerspruch zwischen den geforderten Prinzipien und dem tatsächlichen Verhalten stehenbleiben, da sein Ziel nicht darin besteht, die kleinbürgerlichen Träume zu verwirklichen, d. h. ein internationales Mosaik von »wirklich unabhängigen« Staaten, die proportional im Superparlament der UNO repräsentiert sind, zu schaffen. Der Marxismus sieht die Lösung der ganzen geschichtlichen Entwicklung in der Errichtung einer Gesellschaft, in der es keine Klassen und somit keinen Staat und keine nationalen Unterschiede gibt. Er geht daher von ganz anderen Voraussetzungen aus, um die nationale Frage zu untersuchen:

»In der ganzen Welt«, schreibt Lenin, »war die Epoche des endgültigen Sieges des Kapitalismus über den Feudalismus mit nationalen Bewegungen verbunden. Die ökonomische Grundlage dieser Bewegungen besteht darin, dass für den vollen Sieg der Warenproduktion die Eroberung des inneren Marktes durch die Bourgeoisie erforderlich, die staatliche Zusammenfassung von Territorien mit Bevölkerung gleicher Sprache notwendig ist, bei Beseitigung aller Hindernisse für die Entwicklung dieser Sprache […]
»Die Bildung von Nationalstaaten, die diesen Erfordernissen des modernen Kapitalismus am besten entsprechen, ist daher die Tendenz jeder nationalen Bewegung. Die grundlegenden wirtschaftlichen Faktoren drängen dazu, und in ganz Westeuropa – mehr als das: in der ganzen zivilisierten Welt – ist deshalb der Nationalstaat für die kapitalistische Periode das Typische, das Normale.« (ebda, S. 684-685)

Klarer geht es nicht. Der Staat ist nicht ewig; die Sprachen nicht unveränderlich, wie die stalinistische Linguistik behauptet. Mehr noch: die Forderungen nach einem nationalen Staat, einer nationalen Sprache, einer nationalen Kultur sind Forderungen, die für den Kapitalismus »typisch« sind. Dies ist also der reale Inhalt der »nationalen Frage«, das Geheimnis dieses Fetischs, der bei seinen unzähligen Anbetern wohl so hoch im Kurs steht wie der Geldfetisch: die Vernichtung der Naturalwirtschaft, die Entwicklung des Warenaustausches, die Akkumulation des Kapitals sind nur auf der Basis eines zentralen nationalen Staates mit seinem Herrschafts- und Polizeiapparat, seiner wirtschaftlichen Konzentration und seiner nationalen Kultur möglich. Somit sind wir vom Himmel der abstrakten Prinzipien auf der Ebene der materiellen Interessen einer bürgerlichen Revolution gelandet:

»Wir wissen nicht«, schreibt Lenin, »ob es Asien gelingen wird, bis zum Zusammenbruch des Kapitalismus ein System selbständiger Nationalstaaten herauszubilden, wie es Europa aufweist. Aber es bleibt unbestreitbar, dass der Kapitalismus, der Asien zum Erwachen gebracht hat, auch dort überall nationale Bewegungen ins Leben gerufen hat, dass es die Tendenz dieser Bewegungen ist, Nationalstaaten in Asien zu schaffen, dass die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus gerade durch solche Staaten gewährleistet werden.« (ebenda, S. 687).

Wir können somit bereits einige Punkte festhalten:
1) Die Forderung nach einem Nationalstaat ist »typisch und normal« für den Kapitalismus, weil dieser Staatstyp ihm die günstigsten Entwicklungsbedingungen schafft;
2) Das Proletariat kann sich aus dem nationalen Staat aus mindestens zwei Gründen keinen Fetisch machen:
– seine Aufgabe liegt gerade darin, ihn zu vernichten,
»die Entwicklung des Kapitalismus erweckt nicht unbedingt alle Nationen zu selbständigem Leben«.

Auf diese Weise stellte Lenin 1914 die Frage, ob sich Asien bis zum »Zusammenbruch des Kapitalismus« in Nationalstaaten organisieren wird. Wir werden sehen, wie die Kommunistische Internationale vorhatte, durch die Weltrevolution die Möglichkeit zu schaffen, die schmerzhafte Phase der Akkumulation des Kapitals und der Errichtung von bürgerlichen Nationalstaaten im ganzen Orient zu kürzen.

Zwei Phasen des Kapitalismus

Ein Punkt bleibt noch zu präzisieren: Unter welchen Historischen Bedingungen und aufgrund welcher Kriterien kann sich die »nationale Frage« dem Proletariat stellen als Frage seiner Mitwirkung bei den nationalen Massenbewegungen und seiner Unterstützung für sie? Zitieren wir noch einmal Lenin:

»Der Kapitalismus kennt in seiner Entwicklung zwei historische Tendenzen in der nationalen Frage. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Herausbildung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreissung der nationalen Schranken, Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw.
Beide Tendenzen sind ein Weltgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus.« (»Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage«, 1913, LW, Bd. 20, S. 12).

Die natürliche Tendenz des Kapitalismus geht also dahin, die nationalen Besonderheiten zu vernichten, sowie die Eigentumsverhältnisse, die er geschaffen hat. Gegen die vorkapitalistische Regimes fordert der Kapitalismus die Gleichheit der Nationen und das »gleiche« Recht auf Privateigentum. Jedoch die Bewegung der kapitalistischen Konzentration selbst schafft die Kleinbesitzer ab und führt auf Weltebene zur Bildung von Kartellen und Trusts, die selbst dem stärksten Staat ihren Willen aufzwingen.

Also in der ersten Phase der kapitalistischen Entwicklung kämpfen die Marxisten für die Selbständigkeit einer unterdrückten Nation, für ihre politische Vereinigung auf demokratischer Grundlage, weil diese die Bedingungen einer raschen Durchsetzung des Kapitalismus sind, d. h. der Beseitigung aller alten ökononischen und sozialen Strukturen in einem bürgerlichen Sinne und des Auftretens des Gegensatzes zwischen Lohnarbeit und Kapital in reiner Form. In der zweiten Phase, in der Phase des reifen Kapitalismus, wo die Bourgeoisie den Staat in ihrer Hand hat und die demokratischen Reformen alles gegeben haben, was sie im Sinne einer Entwicklung der Klassengegensätze geben konnten, stellt jeder Aufruf zur »nationalen Einheit«, jedes »nationale Programm« einer Arbeiterpartei nichts anderes dar, als den Verrat der Klasseninteressen des Proletariats und die Verteidigung des bürgerlichen »Vaterlandes«.

Die II. (sozialistische) Internationale ist nach einer langen Entartung zu diesem Hochverrat gelangt. Die Moskauer Internationale hat auch kein anderes Ende gekannt. Was Lenin 1914 in Erinnerung gerufen hatte, nämlich die historischen und geographischen Grenzen der revolutionären nationalen Bewegungen – die Konterrevolution spielte sich nunmehr, wie die Revolution, im Weltmasstab ab –, wurde über den Haufen geworfen. Lenin hatte genaue Kriterien aufgestellt:

»In Westeuropa, auf dem Festland, umfasst die Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolutionen einen ziemlich bestimmten Zeitraum, etwa von 1739 bis 1871. Gerade diese Epoche war die Epoche der nationalen Bewegungen und der Herausbildung von Nationalstaaten. Nach Abschluss dieser Epoche war Westeuropa bereits zu einem System von bürgerlichen Staaten geworden, und zwar in der Regel von national einheitlichen Staaten. Heute in den Programmen der westeuropäischen Sozialisten das Selbstbestimmungsrecht suchen, heisst daher das ABC des Marxismus nicht begreifen.
In Osteuropa und in Asien hat die Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolutionen erst im Jahre 1905 begonnen. Die Revolution in Russland, in Persien, in der Türkei, in China, die Kriege auf dem Balkan das ist die Kette von Weltereignissen unserer Epoche in unserem ›Osten‹. Und in dieser Kette von Ereignissen kann nur ein Blinder das Erwachen einer ganzen Reihe von bürgerlich-demokratischen Nationalbewegungen, von Bestrebungen zur Schaffung national unabhängiger und national einheitlicher Staaten nicht wahrnehmen.« (»Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen«, ob. cit. S. 693–694)

Dasselbe, was Lenin in Bezug auf Europa schrieb, gilt heute für alle Nationen, wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein Nationalstaat errichtete, und das Proletariat infolge der weltweiten Konterrevolution nicht in der Lage war, die bürgerliche Revolution zu einer »doppelten Revolution«, die in seiner Machtergreifung gipfelt, zu machen. In allen diesen Staaten bleibt dem Proletariat nichts anderes übrig, als sich als Klasse zu organisieren und gegen die Bourgeoisie zu kämpfen: seine Strategie schliesst das Zusammenkämpfen mit der eigenen Bourgeoisie nicht mehr ein.

Die historische »Entwicklung«, von denen die bürgerlichen Progressisten alles erwarten, hat (und man weiss, mit welchen Opfern!) die materiellen Bedingungen geschaffen, damit das Proletariat der rückständigen Länder den Kampf gegen seine eigene Bourgeoisie aufnimmt, während die Perspektive von Lenin und der Kommunistischen Internationale darin bestand, dass das Proletariat des Orients auf der Welle der nationalen Bewegung die Macht ergreift, um im Rahmen der Weltrevolution die Phase der Schaffung von Nationalstaaten in Asien zu überspringen.

Die Parolen des chinesischen »Sozialismus« bestehen aber in der Klassenkollaboration des Proletariats mit der Bourgeoisie, und dies im Rahmen einer bereits vollzogenen bürgerlichen Revolution!

Die »Generalprobe«: Russland 1905, China 1911

Fast die ganze II. Internationale vertrat die Meinung, dass die bürgerliche Demokratie mit ihrer Erweiterung und ihren »Fortschritten« die notwendige und ausschliessliche Bedingung für den »Übergang« zum Sozialismus darstellte. Die beste Widerlegung gab ihr der Sieg der Diktatur des Proletariats in Russland, einem Land, das weder die »Vorteile« des parlamentarischen Regimes noch eine starke kapitalistische »Entwicklung« kannte. Die offizielle Position der Sozialisten der II. Internationale und der russischen Menschewiki bestand darin, die Möglichkeit der Machteroberung in Russland zu negieren und die Notwendigkeit einer bürgerlichen verfassungsmässigen Phase zu behaupten. Diese Position vertrat die Partei von Mao Tse-tung während der ganzen chinesischen Revolution. »Nur durch die Demokratie kann man zum Sozialismus gelangen«, erklärte Mao in seinem Bericht über die Koalitionsregierung auf dem VII. Kongress der KPCh 1945. Dieser Punkt allein genügt, um den völligen Bruch mit der Tradition des Bolschewismus und den Perspektiven der Kommunistischen Internationale zu kennzeichnen.

Wir werden hier nicht auf die »Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage«, die Lenin für den zweiten Kongress der Komintern geschrieben hat, zurückkommen. Wir veröffentlichen diese Leitsätze als Anhang, damit der Leser den ganzen Unterschied zwischen der Perspektive der Kommunisten und den moskauer und pekinger »Theorien« (und nicht nur diesen!) feststellen kann. Zwei von den drei Punkten, die für Lenin die Grundlage der Leitsätze darstellten, müssen aber schon jetzt hervorgehoben werden:
1) die genaue Wertung des geschichtlich gegebenen und vor allem wirtschaftlichen Milieus,
2) die ausdrückliche Ausscheidung der Interessen der unterdrückten Klassen aus dem allgemeinen Begriff der Volksinteressen, die die Interessen der herrschenden Klasse bedeuten. Mit dieser Methode hat sich der Bolschewismus den Weg zur Macht gebahnt. Sollte sie, auf China angewendet, zu anderen Ergebnissen führen, die Prognosen des Marxismus widerlegen? Wir verneinen es. Mit der Forderung nach einer genauen Wertung des geschichtlichen und wirtschaftlichen Milieus bekämpfte Lenin die formelle Forderung nach abstrakten Prinzipien der bürgerlichen Demokratie und zielte auf eine rigorose Bestimmung der Rolle der sozialen Klassen in den Revolutionen des Orients. Er hatte unterstrichen, dass in Russland die Bourgeoisie eine totgeborene Klasse war und dass man nicht erwarten konnte, dass sie von sich aus ihre politischen und sozialen Aufgaben erfüllt. Die Erfahrung der Reform von 1861, der Revolutionen von 1905 und Februar 1917 hatten ihre Unfähigkeit und ihre Bereitschaft, sich bei der ersten Gefahr in die Arme des Zarismus zu werfen, hinreichend gezeigt. Die bürgerliche Revolution war unmöglich als Revolution der Bourgeoisie. Man weiss, dass Stalin zwischen Februar und April 1917 diesen Standpunkt nicht teilte, da er für die Einberufung der gesetzgebenden Versammlung und die Auflösung der Sowjets auftrat. Vor allem weiss man, dass er zwischen 1924 und 1927 die ganze Taktik der KP Chinas von der Auffassung ableitete, dass die antikoloniale Bourgeoisie revolutionärer auftreten könnte als die antizaristische russische Bourgeoisie und wiederholt behauptete, dass die Lehren der russischen Revolution nicht auf China angewandt werden konnten.

Der Lauf der chinesischen Revolution und die Prognosen Lenins widersprachen vollständig dieser »Theorie«, die, wie wir im ersten Kapitel zeigten (»Bulletin« № 10), typisch menschewistisch ist.

Da die chinesische Bourgeoisie zögerte, die Bauernschaft zu bewaffnen, um dadurch die nationale Einheit zu verwirklichen und mit dem ausländischen Imperialismus radikal zu brechen, musste die Partei der chinesischen Bourgeoisie der Partei von Mao, ihrem Testamentsvollstrecker, den Platz abgeben. Ihre angeborene Schwäche und ihre Widersprüche zeigten sich aber bereits 1911, während der ersten chinesischen Revolution. Die Bewegung hatte die Mandschu-Dynastie gestürzt und Sun Yat-sen die Macht gegeben. Dieser beeilte sich aber, zugunsten eines dubiosen Militaristen (Yuan Shi-kai) abzutreten, der nach Meinung Suns besser geeignet war, »das Land zu vereinigen, die Stabilität der Republik zu sichern, weil er das Vertrauen der ausländischen Mächte geniesst«. In einem Brief an Tschitscherin, gestand Sun Yat-sen später (28. August 1921): »Mein Rücktritt war ein grober politischer Fehler, dessen Folgen mit einer Ersetzung Lenins durch Koltschak, Judenitsch oder Wrangel vergleichbar sind«.

In einem Artikel von 1912 untersuchte Lenin wie folgt die politischen und sozialen Umstände der ersten chinesischen Revolution:

»Das Wahlrecht ist nicht allgemein und nicht direkt. […] Schon ein solches Wahlrecht weist auf ein Bündnis der wohlhabenden Bauernschaft mit der Bourgeoisie hin, bei einem Fehlen oder bei völliger Ohnmacht des Proletariats.
Auf denselben Umstand weist auch der Charakter der politischen Parteien Chinas hin. Es gibt drei Hauptparteien:
1. Die ›radikalsozialistische‹ – in der es in Wirklichkeit genau wie bei unseren ›Volkssozialisten‹ (und bei neun Zehntel der ›Sozialrevolutionäre‹) absolut gar keinen Sozialismus gibt. Es ist das eine Partei der kleinbürgerlichen Demokratie. Ihre Hauptforderungen sind: politische Einheit Chinas, Entwicklung des Handels und der Industrie ›im sozialen Sinne‹ (eine ebenso nebelhafte Phrase wie das ›Prinzip der Arbeit‹ und die ›Ausgleichung‹ bei unseren Volkstümlern und Sozialrevolutionären), Erhaltung des Friedens.
2. Die zweite Partei sind die Liberalen. Sie sind im Bunde mit der ›radikalsozialistischen‹ Partei und bilden mit ihr zusammen die ›Nationalpartei‹. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Partei die Mehrheit im ersten chinesischen Parlament haben. Der Führer dieser Partei ist der bekannte Dr. Sun Yat-sen. Jetzt ist er besonders beschäftigt mit der Ausarbeitung des Planes eines ausgedehnten Eisenbahnnetzes (den russischen Volkstümlern zur Kenntnis: Sun Yat-sen tut das deshalb, damit China dem Schicksal des Kapitalismus ›entgehe‹!).
3. Die dritte Partei nennt sich ›Bund der Republikaner‹ ein Musterbeispiel dafür, wie trügerisch Aushängeschilder in der Politik sind! In Wirklichkeit ist das die konservative Partei die sich hauptsächlich auf die Beamten, die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie Nordchinas, d. h. des rückständigsten Landesteils, stützt. Die ›National‹partei ist vorwiegend die Partei des mehr industriellen, fortgeschritteneren, entwickelteren Südens von China.
Die Hauptstütze der ›Nationalpartei‹ ist die breite Bauernmasse. Ihre Führer sind im Ausland erzogene Intellektuelle.
Die chinesische Freiheit ist erobert worden durch das Bündnis der bäuerlichen Demokratie und der liberalen Bourgeoisie. Ob die Bauern, die nicht von einer Partei des Proletariats geführt werden, imstande sein werden, ihre demokratische Position gegen die Liberalen zu behaupten, die nur auf den geeigneten Moment warten, um nach rechts umzufallen – das wird die nahe Zukunft zeigen.« (Lenin, »Das erneuerte China«, 8. November 1912, LW, Bd. 18, S. 393/394)

Die Beweise für die Feigheit der chinesischen Bourgeoisie liessen nicht auf sich warten. Yuan Shi-kai lieferte das Land prompt der Reaktion aus, und Lenin konnte ein paar Monate später schreiben:

»Die asiatischen Revolutionen haben uns die gleiche Charakterlosigkeit und Niedertracht des Liberalismus gezeigt, die gleiche ausserordentliche Bedeutung der Selbständigkeit der demokratischen Massen, die gleiche deutliche Abgrenzung des Proletariats von jeglicher Bourgeoisie.« (»Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx«, 1. März 1913, LW, Bd. 18, S. 579).

Der imperialistische Krieg und die Perspektiven der proletarischen Revolution in Asien

Es bedarf des ersten Weltkriegs, um die gute Verständigung zwischen der russischen Bourgeoisie und dem Zarismus zu beenden und die soziale Bewegung in Russland freizusetzen. Die späteren Folgen des Krieges sollten sich auch als sehr wichtig für den Orient erweisen, der Schauplatz aller imperialistischen Appetite war. Die Nachkriegszeit stellte in der Tat das chinesische Proletariat in den Vordergrund der politischen Szene und bestätigte die Perspektiven der Kommunistischen Internationale: direkter Kampf für die Sowjetmacht in ganz Asien.

Der langanhaltende Bruch der wirtschaftlichen Beziehungen mit den Metropolen im Krieg hatte zu einer bemerkenswerten Entwicklung des einheimischen Kapitalismus geführt, der der Restauration der alten Handelsmonopole feindlich gegenüberstand. Andererseits wurde der imperialistische Konflikt im Orient durch das Auftreten neuer Konkurrenten verschärft. Die USA, von Japan gefolgt, verfochten die Politik der »offenen Tür« gegen die europäischen Konkurrenten. Die Prinzipien dieser Politik hatte Wilson wie folgt beschrieben: »Freiheit der Meere«, »Völkerbund«, »Internationalisierung der Kolonien«.

Diese Situation hat die Widersprüche der chinesischen Bourgeoisie zugespitzt. Diese hatte am imperialistischen Krieg teilgenommen, in der Hoffnung, nach dem »Sieg« die Besitztümer Deutschlands in China zurückzubekommen. Der Versailler Frieden übertrug aber diese Besitztümer ganz einfach auf Japan. Die daraus entstandene Enttäuschung und Unzufriedenheit führten zur Bewegung vom 4. Mai 1919. Es war nicht mehr möglich, die Politik der Unterstützung des einen Imperialismus gegen den anderen fortzusetzen. Die Konferenz von Washington setzte die Politik der »offenen Tür« durch, die Perspektiven dieser Politik traten aber in einen immer grösseren Gegensatz zum Traum von Sun Yat-sen, ein Konsortium der Grossmächte zu bilden, um die Wirtschaftsentwicklung Chinas durchzuführen.

Die Position der in Kanton entstandenen nationalistischen Regierung war aber keineswegs glänzend. Es wurden keine Massnahmen zugunsten der Arbeiter und Bauern ergriffen, die aus der Armee desertierten. Der Feldzug gegen die Militaristen im Norden und für die Vereinigung Chinas war gefährdet. Selbst die Macht von Sun Yat-sen wurde mehrmals bedroht. Es war notwendig, dass die stalinisierte Internationale Leute entsandte, um die Kuomintang mit Hilfe der Kommunisten zu reorganisieren und die Situation zu retten. Borodin, der Delegierte der Internationale, verfasste ein Manifest der wiedervereinigten Kuomintang, die jetzt als »Volkspartei« dargestellt wurde. Und die chinesischen Proletarier wurden dazu verleitet, ihre Klassenselbständigkeit solchen schönen Phrasen zu opfern. Die Thesen des IV. Kongresses der Internationale zur Orientfrage (1922) konnten nicht besser mit Füssen getreten werden. In diesen Leitsätzen steht:

»Die junge Arbeiterbewegung im Osten ist ein Produkt der Entwicklung des einheimischen Kapitalismus der letzten Zeit. […] Häufig kommt es vor, – schon der 2. Kongress der Kommunistischen Internationale hat darauf hingewiesen –, dass die Vertreter des bürgerlichen Nationalismus unter moralischer Ausnutzung der politischen Autorität Sowjetrusslands und in Anpassung an den Klasseninstinkt der Arbeiter ihre bürgerlich-demokratischen Bestrebungen in eine ›sozialistische‹ und ›kommunistische‹ Form kleiden, um auf diese Weise, zuweilen ohne sich selbst dessen bewusst zu sein, die ersten aufkeimenden proletarischen Vereinigungen von den unmittelbaren Aufgaben einer Klassenorganisation abzulenken (so die Partei Eschil-Ordu, die den Pantürkismus in der Türkei kommunistisch verbrämt hat, so der ›Staatssozialismus‹, der von einigen Vertretern der Partei ›Kuomintang‹ in China gepredigt wird)«, (»Protokoll des IV. Kongresses«, Seite 1038).

Weit davon entfernt, diese Politik der chinesischen Bourgeoisie als einen Zusammenbruch der bürgerlichen Klassenführung der nationalen Bewegung zu verstehen, sah die stalinisierte Internationale später darin ein besonderes Kennzeichen ihrer »revolutionären« Natur. Das stand im Gegensatz nicht nur mit den Prognosen der Internationale sondern auch mit der Masse von Tatsachen, die sich seit dem ersten Kongressen akkumuliert hatte.

Lenin schrieb in seinen Leitsätzen von 1920, dass die ganze Politik der imperialistischen Staaten nach dem Kriege »den Zusammenbruch der kleinbürgerlich-nationalen Illusionen über die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens und über die Gleichheit der Nationen unter dem Kapitalismus« beschleunigte, sowie, dass »ohne Sieg über den Kapitalismus die Vernichtung der nationalen Unterdrückung und der Nichtgleichberechtigung unmöglich ist«, was die Kuomintang-Regierung von Kanton den Arbeitern und Bauern beweisen sollte.

Schliesslich hatte Lenin dem Wirtschaftsplan von Sun Yat-sen (einer Utopie unter dem Kapitalismus) im voraus entgegnet und gezeigt, dass nur eine Föderation von sowjetischen Republiken (als Übergangsform zur vollen Vereinigung der Werktätigen aller Nationen) »das Bestreben zur Schaffung einer einheitlichen Weltwirtschaft nach einem gemeinsamen Plan, der vom Proletariat aller Nationen geregelt wird«, verwirklichen könnte.

Wie man sieht, nicht erst 1964[8] wurden alle Ersatz-»Lösungen« der »nationalen« Bourgeoisie und des Weltimperialismus zurückgewiesen, sondern bereits vor Beginn der chinesischen Revolution. Der imperialistische Krieg hatte gezeigt, dass die Weltwirtschaft als Ganzes reif für die sozialistische Umwandlung war. Der Sieg des Proletariats in Russland hatte alle Länder vor die Alternative gestallt: kommunistische Revolution oder bürgerliche Konterrevolution.

»Vom Augenblick an«, sagte Sinowjew auf dem Kongress von Baku, »wo ein Land (und sei es ein einziges) sich von den Ketten des Kapitalismus befreit hat, wie Russland es tat; von dem Augenblick an, wo die Arbeiter die Frage der proletarischen Revolution auf die Tagesordnung gesetzt haben, können wir sagen, dass China, Indien, die Türkei, Persien, Armenien den direkten Kampf für das Sowjetregime aufnehmen können und müssen«.

Dieser war der Sinn aller Texte der Kommunistischen Internationale über die koloniale Frage: »Manifest« des 1. Kongresses (1919); »Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage« von Lenin für den 2. Kongress (1920) mit den Zusätzen von Roy, die sich besonders mit China und Indien befassten; »Thesen des Kongresses der Völker des Ostens« (Baku, September 1920) über die Agrarfrage (Radek) und über die »Sowjetmacht im Orient« (Béla Kun); schliesslich die »Leitsätze des 4. Kongresses über die Orientfrage«, die von Safarow vorgebracht wurden (1922).

Die Aufteilung der verschiedenen revolutionären Perioden kann also wie folgt ergänzt werden:
– 1789–1871: bürgerliche Revolutionen im europäischen Festland, sowie in Nordamerika und Japan;
– seit 1905: national-revolutionäre Bewegungen im ganzen afro-asiatischen Gebiet und in Osteuropa, mit einem einzigen proletarischen Sieg (Russland 1917); diese Periode ist inzwischen für Mittel- und Ostasien, Nordafrika und einen Teil von Schwarzafrika abgeschlossen, von Osteuropa ganz zu schweigen.[9]
– 1917–1927: einheitliche Strategie der »permanenten Revolution« in den entwickelten kapitalistischen Ländern und in den Kolonien: wiederholte Niederlagen in Europa und in China lieferten den Rahmen für die stalinistische Konterrevolution in Russland.

Die Theorie der »Etappen« der antikolonialen Revolution

Der Beitritt der chinesischen Kommunisten zu der Kuomintang auf Anweisung Moskaus war kein blosser taktischer Fehler (die Bolschewiki ihrerseits haben niemals einen solchen Fehler begangen, denn sie haben sich mit allen Mitteln von den Menschewiki und Sozialrevolutionären abgegrenzt). Er war auch kein Einschätzungsfehler hinsichtlich des Tempos, mit dem sich die Revolution entwickeln sollte. Es handelte sich vielmehr um einen prinzipiellen Kompromiss, um ein Verlassen der Kampfperspektiven, für die die Komintern überhaupt gegründet worden war: es handelt sich um die Unterordnung der Kommunisten unter die nationale Strategie der chinesischen Bourgeoisie. Dies hat den Diskussionen über die chinesische Revolution und die Niederlage unter den Schlägen der Tschiang Kai-schek-Truppen eine grosse Bedeutung für den Sieg der stalinistischen Theorie des »Sozialismus in einem Land« gegeben.

In den Vorträgen, die er zwischen Januar und August 1924 über die »Drei Prinzipien des Volkes« in Kanton hielt, hat Sun Yat-sen als erster eine Theorie der Phasen ausgearbeitet. Diese Theorie trennte »säuberlich« alle »Etappen«, die die chinesische Revolution durchlaufen sollte, um zu ihrem bürgerlichen Ziel zu gelangen.

Das Prinzip des Nationalismus machte für seine Verwirklichung eine ganze Periode rein militärischer Aktionen erforderlich, deren wesentliches Ziel der Sieg über die »Kriegsherren« und die Vertreibung der ausländischen Imperialisten war.

Erst wenn dieses Ziel erreicht wäre, könnte man zu einer zweiten, »erzieherischen« Periode übergehen, die durch Errichtung eines parlamentarischen Regimes das Prinzip der Demokratie verwirklichen sollte.

Die dritte Periode war schliesslich die des »Sozialismus« oder, in der Urfassung von 1907 des »Volkswohls«. Hier sollte man die ökonomische Demokratie durch eine gerechte Verteilung des Reichtums in die Tat umsetzen.

Die KPCh schloss sich dieser typisch bürgerlich-liberalen Theorie an. Sie hat sich nicht einmal gefragt, ob es möglich wäre, die Imperialisten zu verjagen, ohne die Bauernmassen zum Aufstand zu bringen; und auch nicht, ob die Bauernschaft ohne politische Führung des Proletariats ihre revolutionären Versprechen einhalten würde. In der chinesischen Frage widmete sich der Stalinismus einer »Stilübung«, die darin bestand, die jeweilige »Etappe«, in der man sich befinden sollte, festzustellen. Als die bürgerliche Konterrevolution zu grassieren anfing, hat Stalin sie im Namen der »Ersten Etappe« gerechtfertigt. Als die Verschärfung des Klassenkampfes, der Druck der chinesischen Kommunisten und die Kritiken von Trotzki die Internationale vor die dringende Frage stellten, die Kuomintang zu verlassen und Sowjets zu bilden, reagierte Stalin mit der vollständigen Übernahme der »Etappentheorie« von Sun Yat-sen und verlieh dieser »Theorie« eine völlig ausgearbeitete und »klassische« Form, die sich in der Folge den Kommunisten aller Kolonialländer aufzwingen sollte.

Die stalinistischen Thesen über die »Fragen der chinesischen Revolution« vom April 1927 sind bezeichnend:

»In der ersten Periode der chinesischen Revolution, in der Periode des ersten Feldzugs nach dem Norden, als sich die nationale Armee dem Jangtse näherte und Sieg auf Sieg errang, eine machtvolle Bewegung der Arbeiter und Bauern sich aber noch nicht entfaltet hatte, ging die nationale Bourgeoisie (nicht die Kompradoren) mit der Revolution. Das war eine Revolution der vereinigten gesamtnationalen Front. […]«
»Der Umsturz Tschiang Kai-scheks bedeutet, dass die Revolution in die zweite Etappe ihrer Entwicklung getreten ist, dass eine Wendung von der Revolution der vereinigten gesamtnationalen Front zur Revolution der Millionenmassen der Arbeiter und Bauern, zur Agrarrevolution begonnen hat […]« (SW, Bd. 9, S. 115/116)

Die »Thesen« von Stalin enthielten keine »dritte Etappe«. Einige Monate später, auf dem Plenum des ZK der KPdSU sollte er aber diese letzte Etappe einführen; diese Etappe »die noch nicht vorhanden ist, die aber kommen wird«, nannte er die sowjetische Revolution. In seiner Rede auf demselben Plenum bemühte sich Stalin, seine »Theorie« zu rechtfertigen und verfälschte dazu die ganze Erfahrung der russischen Revolution:

»Nehmen Sie Lenins Aprilthesen und Sie werden sehen, dass Lenin zwei Etappen in unserer Revolution unterschied: Die erste Etappe war die bürgerlich-demokratische Revolution mit der Agrarbewegung als ihrer Hauptachse; die zweite Etappe war die Oktoberrevolution mit der Machtergreifung durch das Proletariat als ihrer Hauptachse«. (SW, Bd. 15, S. 10)

Mehr kann man den Sinn der Aprilthesen von 1917 wohl nicht entstellen. Wenn Lenin von zwei Etappen der russischen Revolution sprach, so geschah dies nicht – wie bei Stalins Thesen von 1927 – um sich der Losung der Sowjetmacht entgegenzustellen, sondern um diese Losung zu lancieren; nicht, um irgendeine verfassungsmässige Vollendung der bürgerlichen »Etappe« abzuwarten, sondern im Gegenteil, um die Festigung der Bourgeoisie zu verhindern; schliesslich um die widerspenstigen »alten Bolschewiki«, wie Stalin, begreifen zu machen, dass sie ihre menschewistischen Illusionen über Bord werfen müssen. In Wirklichkeit war die Revolution von 1905 sowenig eine »bürgerliche demokratische Etappe«, dass Lenin sie oft als »Generalprobe« der Revolution von 1917 bezeichnete. Warum eine »Generalprobe«? Weil die russische Revolution von 1905 im Keim alle politischen und sozialen Merkmale der Revolution von 1917 und aller »Doppelrevolutionen« in Asien enthielt; weil 1905 alle Phasen und – wenn man das Wort benutzen will – alle »Etappen« dialektisch verbunden und die Notwendigkeit der Sowjetmacht und der Diktatur der kommunistischen Partei vollkommen nachgewiesen hatte.

Die chinesische Revolution hat diese Lehre nicht widerlegt. Sie lieferte im Gegenteil den indirekten Beweis für ihre Richtigkeit. Ein Jahr nach dem ersten Handstreich Tschiang Kai-scheks, weigerte sich Stalin hartnäckig, die Kuomintang zu verlassen und die Losung der Sowjets auszugeben. Sehen wir uns an, wie er in seinen »Thesen« die wichtigsten Ereignisse der Revolution und der Konterrevolution in China bewertet:

»Der Versuch Tschiang Kai-scheks im März 1926, die Kommunisten aus der Kuomintang zu vertreiben war der erste ernsthafte Versuch der nationalen Bourgeoisie, die Revolution zu zügeln. Bekanntlich war das ZK der KPdSU schon damals der Meinung, dass die ›Linie des Verbleibens der Kommunistischen Partei in der Kuomintang verfolgt werden muss‹, dass ›man es dahin bringen muss, dass die Rechten aus der Kuomintang ausscheiden oder ausgeschlossen werden‹ (April 1926) […] «.
»Der Umsturz Tschiang Kai-scheks [es handelt sich um das Massaker der Kommunisten von Schanghai und Nanking und um die Bildung einer Regierung aus Kuomintang-›Rechten‹ in dieser Stadt, – Verm. IKP] bedeutet, dass es in Südchina nunmehr zwei Lager, zwei Regierungen, zwei Armeen, zwei Zentren geben wird – das Zentrum der Revolution in Wuhan und das Zentrum der Konterrevolution in Nanking […]«.
»Daraus folgt aber, dass die Politik der Erhaltung der Einheit der Kuomintang, die Politik der Isolierung der Rechten innerhalb der Kuomintang und ihrer Ausnutzung [sic!] für die Zwecke der Revolution, den neuen Aufgaben der Revolution bereits nicht mehr entspricht. Diese Politik muss durch eine Politik der entschlossenen Vertreibung der Rechten aus der Kuomintang ersetzt werden, durch eine Politik des entschlossenen Kampfes gegen die Rechten bis zu ihrer vollständigen politischen Vernichtung, durch eine Politik der Konzentrierung der gesamten Macht im Lande in den Händen der revolutionären Kuomintang als eines Blocks zwischen den linken Kuomintangleuten und den Kommunisten«. (SW, Bd. 9, S. 115/116/117)

Einige Monate später verjagt die »linke« Kuomintangregierung ihrerseits die Kommunisten und entfesselt die Repression. Die Arbeiter von Kanton antworten mit dem Versuch, ihre Diktatur gegen alle Kuomintangströmungen zu errichten. Ihre richtige Losung und ihre unvermeidliche Niederlage (unvermeidlich wegen der bisher von Moskau verfolgten Politik) fassen alle Lehren der chinesischen Revolution zusammen: der Einsatz und die Grenzen der Revolution lagen nicht an dem Sieg oder Niederlage des »Blocks der vier Klassen«, sondern an dem Sieg oder Niederlage entweder der nationalen Bourgeoisie oder des Proletariats. Die stalino-maoistische Geschichtsschreibung hingegen (entsprechend ihrer Klassennatur) stellt die revolutionäre Bewegung, von 1924–27 als eine blosse »Etappe« der bürgerlichen Revolution in China dar. So sagte Stalin in einer »Besprechung mit Studenten der Sun Yat-sen-Universität« Mai 1927:

»Natürlich konnte der Umsturz Tschiang Kai-scheks [gemeint ist der ›Verrat‹ Tschiangs, den Stalin einen ›Abtrünnigen‹ nennt, und der die Macht eroberte, um gegen die Kommunisten und das Proletariat eine Offensive zu entfesseln. – Anm. IKP] nicht vor sich gehen, ohne dass die Arbeiter in einer Reihe von Gebieten eine Teilniederlage erlitten. Aber das ist nur eine Teilniederlage, nur eine zeitweilige Niederlage. In Wirklichkeit ist die Revolution im Ganzen mit dem Umsturz Tschiang Kai-scheks in eine höhere Phase ihrer Entwicklung getreten, in die Phase der Agrarbewegung«. (SW, Bd. 9, S. 133)[10]

Von diesem »strategischen« Schema – sich der nationalen Bourgeoisie auszuliefern, von ihr »verraten« und niedergemetzelt zu werden, und darin eine »Teilniederlage« und gleichzeitig ein »Vorrücken« der Revolution zu sehen – liess der Stalinismus nicht ab. Wie kann es eine »Teilniederlage« aber geben, wenn die kommunistische Partei ausgerottet wird, wenn es sich um einen bewaffneten Kampf um die Eroberung der Macht handelt? Moskau weigerte sich, diesen Kampf vorzubereiten, Moskau sabotierte diesen Kampf: Dennoch ereignete sich dieser Kampf und endete mit der Ausrottung des chinesischen Proletariats. Dass diese Niederlage notwendig war, damit die nationale Revolution »im Ganzen« in die »Phase der Agrarbewegung« tritt, geben wir hundertprozentig zu. Deshalb muss man aber mit Trotzki sagen, dass in China die bürgerliche Revolution nur als bürgerliche Konterrevolution möglich war. Und man muss hinzufügen, dass seit 1927 die Periode abgeschlossen ist, wo die bürgerliche Revolution des Orients auf dem proletarischen und internationalistischen Gleis des russischen Oktobers vorwärtsgehen konnte.

Das Erbe Sun Yat-sens: die »neue Demokratie«

Die Lehren, die wir aus der Niederlage von 1927 ziehen, unterscheiden sich radikal von den Lehren des russischen oder chinesischen Stalinismus. Es gab keine Niederlage der nationalen Bewegung durch Abtrünnigkeit der chinesischen Bourgeoisie, sondern Vernichtung des internationalistischen Proletariats, weil dieses seine Klassenpositionen aufgab. Es war die Ebbe der nationalen Bewegung, die teilweise und zeitweilig war, während die Niederlage des Proletariats vollständig und endgültig war, zur Beruhigung der nationalen Kräfte, die somit ohne proletarische Drohung ihren nichtsdestotrotz halbherzigen bürgerlichen Weg weiterführen konnten.

Mao Tse-tung interpretiert diese geschichtliche Periode in seiner Rede von April 1945 über die Koalitionsregierung wie folgt:

»Im Jahre 1924 hatte Dr. Sun Yat-sen, den Vorschlägen der Kommunistischen Partei Chinas zufolge, den I. Nationalkongress der Kuomintang, an dem auch die Kommunisten teilnahmen, einberufen, die drei politischen Hauptrichtlinien – Bündnis mit Russland, Bündnis mit der Kommunistischen Partei, Unterstützung der Bauern und Arbeiter – festgelegt, die Huangpu-Militärakademie errichtet, die nationale Einheitsfront der Kuomintang, der Kommunistischen Partei und aller Bevölkerungskreise geschaffen. Dadurch wurden in den Jahren 1924–25 die reaktionären Kräfte in der Provinz Kuangtung liquidiert; in den Jahren 1926–27 wurde der Nordfeldzug erfolgreich durchgeführt«.

Mao sagt nicht, dass das »Ergebnis«, der »Erfolg« dieser Politik das Massaker des chinesischen Proletariats war. Abgesehen von seiner merkwürdigen strategischen Einschätzung (plötzlich sah die Kuomintang ihre Verbündeten von gestern als Feinde und die Feinde von gestern als Verbündete), muss man hervorheben, dass er alles von einem nationalen Standpunkt aus sieht. Und dieser Standpunkt besteht darin, gegenüber der Konterrevolution zu beklagen: »der Bürgerkrieg [trat] an die Stelle des Zusammenschlusses, die Diktatur an die Stelle der Demokratie, ein in Finsternis gehülltes China an die Stelle eines lichterfüllten China«. (»Ausgewälte Werke«, Bd. III, S. 246).

Einmal mehr bewahrheitete sich die Feststellung Lenins: die bürgerliche Revolution war unmöglich als Revolution der Bourgeoisie. Diese entfesselte vielmehr eine Konterrevolution gegen das Proletariat, konnte aber diesen Sieg nicht ausnutzen. Dadurch aber, dass das Programm von Sun Yat-sen von der kleinbürgerlichen Partei von Mao übernommen wurde, wurde es nicht »revolutionärer«. Wir haben es hinsichtlich der Agrarfrage gesehen. Dasselbe gilt auch für die Fragen der politischen Demokratie und des Kampfes gegen den Imperialismus. Die Partei von Mao hat nichts unterlassen, damit die Verwirklichung dieses Programms den Rahmen der nationalen bürgerlichen Interessen strikt einhält und die Klassenkollaboration nicht gefährdet.

»Manche sind misstrauisch, ob die kommunistische Partei, wenn sie einmal an die Macht gelangt ist, nicht die Diktatur des Proletariats und ein Einparteiensystem nach dem Vorbild Russlands schaffen wird. Wir antworten darauf, dass zwischen einem neudemokratischen Staat des Bündnisses einiger demokratischen Klassen und einem sozialistischen Staat unter proletarischer Diktatur ein prinzipieller Unterschied besteht. Es unterliegt keinem Zweifel, dass unsere neudemokratische Ordnung unter Führung des Proletariats, unter Führung der Kommunistischen Partei geschaffen werden wird [Kann denn das kommunistische Proletariat eine Macht errichten, die nicht die seiner Diktatur sei? IKP]. Doch in China ist die Diktatur einer einzigen Klasse und die Monopolstellung einer einzigen Partei in der Regierung während der gesamten Periode der Neuen Demokratie unmöglich, und es darf daher diese Staatsordnung nicht geben«. (ebenda, S. 276).

Diese »prinzipiellen« Beteuerungen sind mindestens pikant, wenn man an die »marxistisch-leninistischen« Lehren denkt, die Peking heute Moskau erteilen möchte. Gestern erklärte sich Moskau für eine »Diktatur des Proletariats«, später wurde uns gesagt, diese habe sich in einen »Staat des ganzen Volkes« verwandelt, in Klarschrift in eine bürgerliche Demokratie. Dies kann man verstehen, denn es handelt sich um nichts anderes , als um die verzögerte juristische Auswirkung der stalinistische+n Konterrevolution. Durch welches Wunder aber sollte der chinesische Staat, der auf den »drei Prinzipien des Volkes« gründet, sich in einen sozialistischen Staat, in eine Diktatur des Proletariats verwandelt haben?

Mao hat nicht mehr die jungfräuliche Unschuld des Populisten Sun Yat-sen, von der Lenin sprach. Er wird sich wohl kaum vorstellen können, dass die »drei Prinzipien des Volkes« und das Aufkommen der bürgerlichen Demokratie den Schlüssel für die Befreiung der Menschheit liefern. Der kleinbürgerliche Revolutionär trägt die Muttermale der bürgerlichen Konterrevolution: Sun Yat-sen + Stalin = Mao Tse-tung. Dasselbe Argument, mit dem er 1945 die Diktatur des Proletariats in China zurückwies, benutzte er 20 Jahre später, um die »neue Demokratie« in »sozialistischen Staat« umzutaufen:

»Die Ordnung in Russland ist durch die historische Entwicklung Russlands hervorgebracht worden. Dort wurde die Gesellschaftsordnung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft und die politische, ökonomische und kulturelle Ordnung der Demokratie neusten Typus, nämlich des Sozialismus, verwirklicht«. (ebenda, S. 276)

Hatte man 1917 in Russland die »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« abgeschafft? Hatte man eine sozialistische Wirtschaft errichtet oder selbst an die Möglichkeit einer solchen »Errichtung« ohne Sieg der Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern geglaubt? Nein. Darin liegt nicht der Sinn des Bolschewismus, der sehr genau wusste, auf welcher materiellen Grundlage er sich befand. Sein Sinn liegt in der Forderung der proletarischen Diktatur als universelle Form der Klassenmacht des Proletariats, auch in den »besonderen« Fällen wie Russland oder China; in der Behauptung, dass diese Staatsmacht nicht nur möglich ist, sondern auch in den Ländern notwendig, die rückständig sind und nur eine schwache Entwicklung der »nationalen Wirtschaft« kannten. Das, was Mao 1945 der UdSSR als grossrussisches nationales Privileg zugestand, fordert er heute mit Ausschliesslichkeit für sein Vaterland: nicht die proletarische Diktatur, sondern den »sozialistischen Aufbau« durch die Akkumulation des Kapitals.

Viele Seiten des Berichtes von Mao »Über die Koalitionsregierung« sind der Untersuchung der ökonomischen Losungen von Sun Yat-sen gewidmet: »Die neudemokratische Wirtschaft, für die wir sind, entspricht ebenfalls den Prinzipien Dr. Sun Yat-sen (S. 271). Im Agrarbereich hatte Sun die Losung ausgegeben, die von der KPCh übernommen wurde: »Jedem Pflüger sein Feld«; in der Industrie und im Handel forderte das »Manifest« von 1924 eine »Einschränkung des Kapitals«. Mao formuliert sein Programm wie folgt:

»Manche Leute argwöhnen, die chinesischen Kommunisten wären gegen die Entfaltung der individuellen Initiative, gegen die Entwicklung des Privatkapitals und gegen den Schutz des Privateigentums. Das ist aber ein Irrtum. Die ausländische und die feudale Unterdrückung fesseln brutal die Entfaltung der individuellen Initiative des chinesischen Volkes und die Entwicklung des Privatkapitals und zerstören das Eigentum der breiten Volksmasse. Die Aufgabe der neudemokratischen Ordnung dagegen, für die wir eintreten, besteht gerade darin, die Fesseln abzuschütteln und diesem Zerstörungswerk ein Ende zu setzen, damit den breiten Massen des Volkes die Möglichkeit gewährleistet wird, die Individualität im Gemeinschaftsleben frei zu entfalten, damit die privatkapitalistische Wirtschaft, die ›nicht die Lebenshaltung der Nation kontrolliert‹, sondern ihr Nutzen bringt, frei entwickelt werden kann, damit das gesamte, auf anständige Weise erworbene Privateigentum geschützt wird.« (ebenda, S. 271).

Die Untersuchung der »Verwirklichung« des bürgerlichen Programms im maoistischen China wird Gegenstand folgender Artikel sein. Hier geht es uns nur darum, auf das sozialistische Mäntelchen dieses Programms hinzuweisen, ein Element, das Lenin bereits bei Sun Yat-sen als reaktionär bezeichnete. Der politische Grundsatz des Reformismus war: nur durch die Demokratie kann man zum Sozialismus gelangen. Seinen, ökonomischen Grundsatz kann man so zusammenfassen: Die Entwicklung des »nationalen« Kapitalismus ist eine absolute Voraussetzung des »sozialistischen Aufbaus«.

Wir haben gezeigt, wie die revolutionäre Strategie der Kommunistischen Internationale die Beziehungen zwischen rückständigen Ländern und kapitalistisch entwickelten Ländern in der weltweiten Perspektive eines proletarischen Angriffs gegen die bürgerliche Macht erblickte. Die Grösse Trotzkis in der Frage der chinesischen Revolution lag nicht nur darin, die Taktik der Bolschewiki – Vorherrschaft des Proletariats, Klassendiktatur – zu verteidigen. Trotzki kämpfte auch für die Strategie der Weltrevolution, ohne die der Bolschewismus keinen Sinn hätte:

»Die Machteroberung durch das Proletariat schliesst die Revolution nicht ab, sondern eröffnet sie nur. Der sozialistische Aufbau ist nur auf der Basis des Klassenkampfes im nationalen und internationalen Massstab denkbar. Unter den Bedingungen des entscheidenden Übergewichts kapitalistischer Beziehungen in der Weltarena wird dieser Kampf unvermeidlich zu Explosionen, d. h. im Innern zum Bürgerkrieg und ausserhalb der nationalen Grenzen zum revolutionären Krieg«. (»Thesen über die Permanente Revolution«, 1929).

Die »Trotzkisten« von heute, die die Entwicklung des chinesischen Kapitalismus und seinen Konflikt mit Moskau als Sieg der permanenten Revolution feiern, zeigen dadurch nur, wie weit sie unter den Einfluss des Stalinismus und des bürgerlichen Fortschrittlertums geraten sind. Es ist eine Tatsache, dass der Kapitalismus mit seiner Entwicklung sein eigenes Grab vorbereitet. Er kann in China alle möglichen günstigen objektiven Bedingungen für das zahlenmässige Wachstum des Proletariats und für das Wiederaufflammen des proletarischen Kampfes schaffen. Dies aber gegen sich selbst. Alles, was das Proletariat von ihm erwarten kann, ist, dass er dem Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital die reinste, die gewaltsamste Form verleiht, so weit wie möglich von reformistischen und kleinbürgerlichen Illusionen befreit. Unter diesem Gesichtspunkt sind aber die Verdienste des »chinesischen Sozialismus« während der revolutionären Periode gar nicht vorhanden gewesen, und nach der Machteroberung durch die maoistische Partei sind sie kaum grösser geworden. Bekanntlich verneint Peking, das darin strikt der stalinistischen Tradition, von der sich Moskau abwandte, folgt, nicht, dass es in China Klassengegensätze gibt. Hören wir aber, was Mao immer nach seinem Bericht von 1945, darüber denkt:

»Selbstverständlich gibt es zwischen diesen Klassen nach wie vor Widersprüche, von denen beispielsweise der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital besonders augenfällig ist. Deshalb stellt jede dieser Klassen unterschiedliche Forderungen. Diese Widersprüche und diese unterschiedlichen Forderungen abzuleugnen wäre eine Heuchelei und ein Fehler. Doch diese Widersprüche, diese unterschiedlichen Forderungen werden im Verlauf des ganzen neudemokratischen Stadiums nicht derart anwachsen, dass sie gemeinsamen Forderungen übersteigen, und dürfen es auch nicht« (ebenda, S. 269–270, Hervorhebungen IKP).

So machte sich der Staat der »Neuen Demokratie« zum Meister der Klassenkollaboration. Er ist bestrebt, den grundlegenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit von oben, »über den Klassen« stehend, zu regeln, und die Forderungen des Proletariats auf die allgemeinen Interessen des bürgerlichen Staates zu reduzieren. Es ist kristallklar, dass das chinesische Proletariat, wenn es von der »neuen Demokratie« etwas erhalten will, es nur im Kampf gegen sie und in der Vorbereitung, sie revolutionär zu begraben, erhalten kann. Denn, wie Marx sagte, »nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein«.[11]

Es gibt also nichts »Neues« in der chinesischen Staatsform. Die Untersuchung der Entwicklung des Kapitalismus in China wird dies erneut bestätigen. Gleichwohl gibt es in der chinesischen Revolution nichts »Besonderes« oder »Originelles«, ausser der völligen und anhaltenden Niederlage des proletarischen Internationalismus in Asien und in den alten Metropolen.

Anhang

Als Anhang:
»Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage«, angenommen auf dem II. Kongress der Kommunistischen Internationale am 28. Juli 1920

Notes:
[prev.] [content] [end]

  1. Für eine Kritik der Positionen Chinas in der Phase, wo es noch scheinbar »antiimperialistische« Töne anschlug (heute sieht man es Seite an Seite mit den Amerikanern) siehe »Les leçons de la polemique russo-chinoise« in »Programme Communiste«, № 23, 1964.

  2. Wir erinnern den Leser daran, dass die Artikelreihe »Die soziale Bewegung in China« 1964 veröffentlicht wurde. Die Periodisierung ein paar Zeilen weiter wurde unter Berücksichtigung der erst später durchgesetzten Bildung von Nationalstaaten (z. B. Indochina, das jüngste Beispiel Angola usw.) ergänzt.

  3. Wir können im Rahmen dieses Artikels nicht auf die Entstehung der einzelnen Staaten eingehen und noch weniger auf die Bildung der Nationalstaaten z. B. in Lateinamerika. Es muss aber unterstrichen werden, dass das weltweite Verschwinden des Proletariats von der politischen Bühne die nationale Revolutionen der Kolonialländer nicht nur ihrer Perspektiven auf eine permanente Entwicklung zum Sozialismus hin beraubte, sondern diese Revolutionen voll den einheimischen Bourgeoisien auslieferte. Die Folge davon war und ist, dass eine radikale demokratische und Agrarrevolution ausblieb und die nationalen Bourgeoisien sich im Rahmen von Kompromissen mit den alten herrschenden Klassen und dem Imperialismus an die Macht hievten, um einen langwierigen Prozess der reformistischen Umwandlung der alten Verhältnisse einzuleiten. Das Proletariat und die Bauernmassen dürfen alle Gräuel des Kapitalismus und der vorkapitalistischen Strukturen kosten.

  4. Die zitierten Texte von Stalin sind in deutsch in einem maoistischen Sammelband zu finden, »Stalin und die chinesische Revolution«, Verlag 20. Mai, München 1971, dessen Herausgeber sich bemüht haben, die niederträchtigsten Beispiele stalinistischer »Politik« selbstverständlich mit apologetischen Zielen zusammenzufassen.

  5. »Das Elend der Philosophie«, letzter Absatz. (MEW, Bd. 4, S. 182)



Source: »Kommunistisches Programm« (»Bulletin«), № 11, Juli 1976, S.29–48

Digitalisierung und redaktionelle Bearbeitung im Oktober 2025. Rechtschreibungs-, Übersetzungs- und andere Fehler wurden stillschweigend berichtigt, chinesische Namen und Bezeichnungen wurden partiell korrigiert und vereinheitlicht.
Wir weisen darauf hin, dass der ursprünglich französische Text und die deutschsprachige Variante vor allem in den letzten Teilen voneinander abweichen, von daher verlinken wir jeweils auf den Anfang der anderssprachigen Artikelserie.

Zur Schreibung chinesischer Namen in diesem Text siehe die Tabelle im ersten Teil.
Zu Fragen der Romanisierung chinesischer Namen etc. siehe unsere Seite (in Englisch) «A Non-Exhaustive Euro-Hannic Transcription Engine»

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