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BILANZ EINER REVOLUTION (VI)


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Bilanz einer Revolution
Das kapitalistische Russland Nr. 2
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Bilanz einer Revolution (VI)

Das kapitalistische Russland Nr. 2

Um es kurz zu machen, werden wir von einer guten Formulierung der gegnerischen These ausgehen, vom genauen Gegenteil der richtigen marxistischen Einschätzung der Wendung von 1927–30 und des zeitgenössischen Russlands: »Der Konflikt zwischen Stadt und Land und der Zusammenstoss zwischen den beiden Revolutionen beherrschten den inneren Schauplatz der UdSSR […] während der ganzen 20er- und 30er-Jahre. […] Lenin versuchte in den letzten Jahren seines Lebens das Dilemma mit Hilfe der Neuen Ökonomischen Politik […] friedlich zu lösen; aber um 1927 oder 1928 musste der Versuch als gescheitert betrachtet werden. Stalin versuchte den Konflikt dann mit Gewalt zu lösen. […] Er trennte die sozialistische Revolution von der bürgerlichen, indem er diese vernichtete.«[184]

Dieser Auffassung zufolge soll der Stalinismus die Strömung gebildet haben, die vor der Zerschlagung des Kulakentums und der ländlichen Kleinbourgeoisie nicht zurückschreckte und damit die unreine sozialistische Revolution in Russland in eine rein sozialistische verwandelte. Gegenüber dem Stalinismus sollen Linke und Rechte nichts anderes dargestellt haben als einen grossen rechten Flügel, der sich aus Pazifismus und Demokratismus der Befreiung der sozialistischen Revolution vom Joch der aus der bürgerlich-demokratischen Revolution hervorgegangenen Produktionsverhältnisse – d. h. der vorherrschenden unproduktiven Parzellenwirtschaft – entgegenstellten. Es tut weh, zuschauen zu müssen, wie solche Antiwahrheiten einem wehrlosen Publikum als Inbegriff marxistischen Denkens präsentiert werden!

Und doch genügt der blosse Vergleich der »Verfassung« von 1918 mit derjenigen von 1936, um feststellen zu können, dass nicht die bolschewistische Partei der Jahre 1917–1929 vor der bürgerlich-demokratischen Revolution kapituliert hat, sondern gerade die stalinistische Partei, die die Macht an sich gerissen hatte und bis heute in der Regierungspartei der UdSSR fortlebt. Die erste Verfassung hatte im Gegensatz zu allen Verfassungen in der Geschichte keine dieser persönlichen Rechte (Eigentum und Sicherheit) verkündet, die das bürgerliche Zeitalter charakterisieren (aber in der kapitalistischen Praxis tagtäglich mit Füssen getreten werden). Im Gegenteil: Das sozialistische Ziel, das sie laut verkündete – die restlose Abschaffung der Teilung der Gesellschaft in Klassen –, ist nicht nur mit dem Fortbestehen einer Klasse von kleinen Landwirten unvereinbar, sondern auch mit der Existenz einer Klasse von Genossenschaftsbauern, denen die Bodennutzung für das ganze Leben gesichert wird, und die ihre Erzeugnisse über den Markt an die Gesellschaft liefern. Die »Verfassung« von 1918 täuschte nicht vor, die Nationalisierung des Bodens (der den Grundbesitzern ohne Entschädigung entrissen und unter den werktätigen Bauern verteilt wurde) sei einer Vergesellschaftung des Bodens gleich; sie erklärte sie vielmehr als juristische Massnahme, die dadurch gerechtfertigt war, dass diese Vergesellschaftung das Endziel darstellt, ein Endziel, das man erst dann erreichen kann, wenn die Gesellschaft als Ganzes und ohne Umwege über die landwirtschaftliche Produktion verfügen kann, d. h. wenn alle Hindernisse, die vor diesem Ziel stehen (ob diese nun im kleinen Parzelleneigentum, im genossenschaftlichen oder im kapitalistischen Eigentum bestehen werden) beseitigt werden konnten. Ganz anders die Verfassung von 1936: Hier erhält die Genossenschaft das Land zur ewigen und unentgeltlichen Nutzung, hier wird das genossenschaftliche Eigentum als »sozialistisches Eigentum« gesetzlich verankert! Es geht nicht mehr um die Abschaffung einer Produktionsweise, die antagonistische Klassen erzeugt: Genossenschaften und staatseigene »Maschinen- und Traktorenstationen« tauschen Lebensmittel gegen Dienstleistungen aus, bilden dennoch als Ganzes einen Komplex, der als ausgestaltetes sozialistisches System definiert wird. Man stellt sich nicht mehr das Ziel, den Klassengegensatz zwischen Proletariat und der in einem ewigen Zwist mit dem Staat begriffenen, besitzenden Bauernschaft in der klassenlosen Gesellschaft aufzulösen; oh nein: man negiert ganz einfach diesen Gegensatz und stellt die Gleichheit der politischen und Stimmrechte wieder her (die Erklärung von 1918 hatte dem Arbeiter vier Stimmen und dem Bauern nur eine zuerkannt). Das neue System wird offiziell als politische Demokratie bezeichnet, während sich das frühere ohne Zögern als Diktatur des Proletariats erklärt hatte, eine Diktatur, die mit der Bauernschaft einen Pakt des Gewaltverzichts geschlossen hatte aus dem wohl leicht verständlichen Grund, dass die Gewalt die Geburtshelferin, nicht jedoch die Mutter des Fortschritts ist – beruht letzterer ja auf dem Wachstum der Produktivkräfte. Diese antisozialistischen Neuigkeiten sollten 1953 völlig bestätigt werden: In seiner Schrift über die »Ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR« wendet sich Stalin gegen diejenigen, die das Kolchoseeigentum, diese Säule des Systems, so behandeln möchten, wie man 1917 (und 1929) das kapitalistische Eigentum behandelt hatte; gegen jede bessere Einsicht erklärt er die Kolchosen als sozialistische Eigentumsform, weil sie ja »kollektivwirtschaftliches« (genossenschaftliches) Eigentum sind. Das ist so idiotisch wie die Behauptung, die Verfügungsgewalt eines Unternehmens (und im Grenzfall aller Unternehmen) über seine Produktion komme einer gesamtgesellschaftlichen Verfügungsgewalt über die Produktion gleich, vorausgesetzt… das Unternehmen dürfe offiziell keine Lohnarbeiter beschäftigen (!).

Wenn man die Tatsachen in Ruhe betrachtet, so muss eine so vollzogene »sozialistische Revolution« nur noch eine Bedingung erfüllen, um eine vollständige Kapitulation vor der »bürgerlich-demokratischen Revolution« darzustellen: Sie muss nämlich nur noch den Versuch einstellen, mittels des Staatsdespotismus der Anarchie der Produktion Schranken zu setzen. Davor hat sie sich bekanntlich schwer gehütet; sie steigerte den staatlichen Zwang im Gegenteil in einem solchen Masse, dass die ganze Weltbourgeoisie vor Neid erblasste; mehr noch, sie erklärte nicht nur die heiliggesprochene Kolchose zur ewigen Eigentumsform, sondern auch in demselben Masse den staatlichen Zwang zum ewigen Produktionsfaktor. Das sollte aber niemanden täuschen, denn wo hat man je eine auf der bürgerlich-demokratischen Revolution errichtete Macht gesehen, die den Hoffnungen und naiven Illusionen entsprochen hätte?

Vor einer politischen Untersuchung kann die Auffassung von der Stalin’schen Ära als Ära der rein kommunistischen Revolution noch weniger bestehen[185]. Sie kann sich allenfalls auf eine einzige Tatsache zu stützen versuchen: Die Bolschewiki hatten ja befürchtet, ihre Macht könnte infolge eines Bürgerkrieges des Landes gegen die Stadt zugrunde gehen; nun wurde die bolschewistische Ära durch einen Bürgerkrieg der Stadt gegen das Land abgeschlossen. Gerade das müsst ihr berücksichtigen, mahnen uns die Thesen der Renegaten; ihr müsst dann noch bedenken, dass sich dieser »Krieg« nach der militärischen Phase dann unter ökonomischen Formen bis 1940 fortgesetzt hat (??? es wäre konsequenter zu sagen: bis 1956, d. h. bis zu den Reformen der Ära Chruschtschow!); und eins dürft ihr vor allem nicht vergessen: Das Staatseigentum in Industrie und Planwirtschaft; wenn ihr das alles in Betracht zieht, habt ihr das getreue Bild einer rein kommunistischen Revolution.

Das Misstrauen und die Feindseligkeit des Proletariats gegenüber der besitzenden Bauernschaft waren mehr als berechtigt, und man versucht geschickt, dort einen Ansatzpunkt zu finden. Aber der Kampf der Stadt gegen das Land ist an sich weit davon entfernt, den Kommunismus zu charakterisieren: Dieser Kampf ist im Gegenteil so alt wie die Zivilisation selbst! Ohne Zweifel besteht dieser Kampf unter der Diktatur des Proletariats, in der Phase des Übergangs zum Sozialismus, weiter, aber gerade hier und erst hier verliert er seinen uralten Charakter von ökonomischer, moralischer und geistiger Unterdrückung des Landes durch die Stadt, gerade hier und erst hier verwandelt er sich in eine fortschreitende Abschaffung der Trennung von Stadt und Land. Sicherlich kann (und wird) das Proletariat seinen Klassenzwang gegen die ländlichen Kleinbesitzer ausüben; ohne Zweifel kann es sich im Laufe des russischen Bürgerkrieges veranlasst sehen, ihnen Gewalt anzutun. Aber niemals, auf keiner Entwicklungsstufe seines Kampfes (nicht einmal auf der äusserst niedrigen Stufe, auf der es diesen Kampf in Russland gezwungenermassen führen musste), wird sich das Proletariat dadurch befreien können, dass es andere Klassen unterdrückt und ausbeutet und zum elenden Dasein von Kleinbesitzern verurteilt. Nichts lag der leninistischen Politik ferner als jegliche Form von »Pazifismus« und »Demokratismus« (!): Diese Politik entsprach lediglich dem Wesenskern der sozialistischen Auffassung; und der Sozialismus ist ein absolut leeres Wort, wenn damit nicht der Prozess der Emanzipation des Proletariats gemeint ist, eine Emanzipation, die im Gegensatz zur bürgerlichen Emanzipation nicht die Errichtung der Herrschaft einer Klasse über die anderen bedeutet, sondern die Auflösung aller Klassen in eine harmonische, klassenlose Gesellschaft.

Die Stalin’sche Politik bildete sich ein, den »Sozialismus in einem Land«[186] aufzubauen; in Wirklichkeit verdient sie nicht einmal, als Fortsetzung der Lenin’schen Politik der »Errichtung der materiellen Grundlagen des Sozialismus« betrachtet zu werden: Diese stellte zwar unvergleichlich bescheidenere Ansprüche, verdiente aber voll und ganz, als proletarisch und kommunistisch bezeichnet zu werden.

Ob man nun die Beziehungen zwischen Stadt und Land, die sich herausgebildet haben, oder die Lage des Proletariats in der russischen Gesellschaft betrachtet: Die ganze ökonomische Geschichte dieses Landes nach 1929 beweist, dass es seitdem von einer neuen ursprünglichen Akkumulation des Kapitals beherrscht wird, die der Staatseigentümer so »plant«, wie ihm das von den Bedürfnissen einer imperialistischen Machtstellung der UdSSR aufgezwungen wird. Und die einzigen Hindernisse, die er beseitigen muss, um dieses Werk zu vollenden, bestehen in den bescheidenen Bedürfnissen an erster Stelle der Arbeitermassen, aber in einem bestimmten Masse auch der Bauernmassen. Mögen für dieses Werk der kapitalistische Zynismus und die jahrhundertealten Traditionen des Betrugs und der Klassenunterdrückung auch ausreichen, so hindert das diesen Staat nicht daran, in der Attitüde des heroischen Kämpfers gegen einen mächtigen und furchtbaren Feind zu posieren!

Die Beweisführung muss natürlich mit der Untersuchung der ökonomischen Ergebnisse der »Zwangskollektivierung« beginnen, die, wie wir gesehen haben, mit Hilfe eines gross angelegten Manövers unter dem Motto »Entfaltung des Klassenkampfes im Dorfe« und »Entkulakisierung« durchgeführt wurde. Stalin selbst schätzte den Wert des den Kolchosen übereigneten Kulakenbesitzes auf 400 Mill. Rubel (!). Wenn man bedenkt, dass ein guter Teil davon im folgenden Durcheinander mit Sicherheit verschwendet wurde, so ersieht man, dass die Massnahme ökonomisch absolut unwirksam war für eine Produktivitätserhöhung der kaum ausgerüsteten russischen Landwirtschaft[187]. Andererseits, wie wir weiter oben schilderten, sollte Stalin selbst einige Jahre später zugeben, dass die Operation zu einer massiven Vernichtung von ökonomischen Ressourcen geführt hatte. Was die Ernte angeht, so soll sie 1930 835 Mill. Zentner erreicht haben, fiel jedoch 1931 auf 700 Mill. (gegen 801 Mill. 1913 unter dem Zaren) und 1932–33 noch tiefer zurück. In diesen Jahren herrschte auf dem Lande der schreckliche »Stalin-Hunger«, der Millionen Tote zur Folge hatte: Zustände aus dem selbst gegenüber Russland unvergleichlich rückständigeren Indien prägten das Bild dieser sich »voll entwickelnden«, »rein kommunistischen Revolution«! Dieses schöne Ergebnis ist glücklicherweise nicht der Passiva des Klassenkampfes des modernen Proletariats zuzuschlagen, sondern derjenigen des archaischen »Klassenkampfes im Dorfe« und dessen Bestrebung, zulasten der allgemeinen Interessen der Gesellschaft und der Entwicklung der Produktivkräfte eine Gleichheit der Kleinproduzenten bei der Nutzung des Bodens und seiner Produkte wiederherzustellen[188]. Stalin hatte selbstverständlich nicht vor, den Staat in den Dienst der utopischen Gleichheitsbestrebungen der Bauern zu stellen. Hätte er aber irgendeine Sorge um den Sozialismus im Sinne gehabt, so würde er niemals versucht haben, im Dorfe einen Antikapitalismus reaktionärer Prägung neu zu beleben und zu fördern[189]. Das Ergebnis davon war nicht nur weitere Leiden und Entbehrungen für das Proletariat infolge der Versorgungsschwierigkeiten, sondern auch die Herausbildung eines modus vivendi zwischen Stadt und Land, der in einem doppelten Gegensatz zur emanzipatorischen Aufgabe des Proletariats stand. Einerseits verfolgte die Politik der niedrigen Agrarpreise (die Bucharin zu Recht bekämpfte) eine maximale Ausbeutung des Landes durch die Stadt; andererseits wurden die Bauern der Barbarei des zwerghaften Familienbetriebs ausgeliefert: In der neuen Organisation der Landwirtschaft, die sich nach vier Jahren beispielloser Erschütterungen 1930 aus dem Chaos herausbildete, wurde dem Bauern als eine Art Ausgleich für die staatliche Ausplünderung der freie Besitz über ein Stück Hofland zugestanden, dessen ökonomische Bedeutung immer mehr wachsen sollte. Aus allen diesen Gründen, die wir rekapituliert haben, erkannte die marxistische Linke Italiens, aus der die Internationale Kommunistische Partei hervorgegangen ist, in der Kolchose »die wahre Kapitulation des glorreichen Bolschewismus« auf sozio-ökonomischem Gebiet.

Die beschleunigte Industrialisierung, die gerade anfing, führte den Städten eine wachsende Arbeitskraft zu, und die einzige Bedeutung der stalinschen Politik bestand darin, die Ernährung dieser Städte, gleichwie, sicherzustellen. Ein »kommunistischer« Zug ist darin nicht zu erkennen, denn auf allen, ja selbst auf den rückständigsten Stufen der Zivilisation mussten sich die verschiedensten Regime um die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln kümmern. Und dieses Werk war so wenig proletarisch, dass die Staatsmacht fast gleichzeitig mit der »Hexenjagd« der »Entkulakisierung« auch eine Offensive gegen die Arbeiter entfesselte. Die Tatsachen sind bekannt[190]:

»Am 19. Oktober 1928, auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen die Moskauer Rechten, nahm das Zentralkomitee eine Resolution über eine neue industrielle Politik an: ›Infolge der Rückständigkeit unserer Technik können wir unsere Industrie nur dann mit solchen Wachstumsraten entwickeln, die es ihr erlauben, den Abstand zu den kapitalistischen Ländern nicht nur zu verringern, sondern diese Länder einzuholen und zu überholen, wenn wir alle Mittel und Kräfte des Landes ins Werk setzen und wenn in den proletarischen Reihen eine grosse Beharrlichkeit und eine eiserne Disziplin herrschen‹«.

Die Zurückhaltung bestimmter Schichten der Arbeiterklasse und gewisser Teile der Partei wurde als »Flucht vor den Schwierigkeiten« bezeichnet. Indessen befasste sich der Wirtschaftsrat mit dem Projekt eines Fünfjahresplanes für die Industrie. Der Zusammenstoss mit der zweiten Bastion der Rechten, nämlich den von Tomski geführten Gewerkschaften, war unausweichlich. (Nebenbei gesagt, der von Trotzki des Trade-Unionismus bezichtigte Tomski war ein alter revolutionärer Militanter; er gehörte seit 1904 der Sozialdemokratie an, wurde unter dem Zarismus zur Zwangsarbeit verurteilt, schloss sich den Bolschewiki an, rückte 1919 ins Zentralkomitee, 1922 ins Politbüro und war von 1917 bis 1929 Vorsitzender des Zentralrats der Gewerkschaften.)

»Tomski war fest entschlossen, die allgemeine Rolle der Gewerkschaften als Verteidigungsorgan der Arbeiterinteressen zu wahren […], [darin] sah er ein unentbehrliches Element der Sowjetordnung. Demgegenüber verringerte die neue Politik die Rolle der Gewerkschaften auf den blossen Kampf um eine Erhöhung der Rentabilität und der Produktion. Seit Juni kritisierte das Zentralkomitee zahlreiche ›bürokratische Missbräuche‹ der Gewerkschaftsführung und rief die Partei dazu auf, in die Gewerkschaften einzugreifen, um die ›Fehler‹ über Tomskis Kopf hinweg zu berichtigen. Die ›Prawda‹ warf [der Gewerkschaftsrechten] vor, sie verweigere eine Selbstkritik und mobilisiere nicht die Massen für den sozialistischen Aufbau. Ende Dezember gab Tomski auf dem gesamtrussischen Gewerkschaftskongress einige Unzulänglichkeiten zu, forderte jedoch erneute Anstrengungen, um die Arbeiterlöhne insgesamt zu erhöhen. Dessen ungeachtet unterbreitete die kommunistische Fraktion [d. h. die stalinistische Fraktion in den Gewerkschaften, IKP] eine Resolution […] mit der Forderung einer beschleunigten Industrialisierung und mit der Zurückweisung einer ›rein arbeitermässigen‹ [sic!] Auffassung der Gewerkschaften, denn diese hätten die Aufgabe, die Massen für eine Überwindung der Schwierigkeiten der Wiederaufbauperiode zu mobilisieren. Diese Resolution wurde mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Dieser Desavouierung Tomskis folgte die Wahl von fünf wichtigen Mitgliedern des Parteiapparates in die Führung der Gewerkschaften. Die Rechte war geschlagen.«

Es ist klar, dass in dieser Phase die Unterscheidungen zwischen »Rechten« und Zentrum jegliche Bedeutung verloren haben: Rechts vom Zentrum gibt es nichts mehr (genau das Gegenteil der These Deutschers). Und die schwache Verteidigung der Gewerkschaft durch Tomski soll man nicht als Manifestation von »Zunftdenken« abtun, sondern als leider äusserst schwachen Widerstandsversuch gegen die Erdrückung der russischen Arbeiterklasse durch den »sozialistisch« verkleideten Staatskapitalismus.

Wir wollten zeigen, dass die russische Arbeiterklasse 1927–29 nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomische Niederlage erlitten hat, dass also der so gerühmte Sieg über die ländliche Bourgeoisie und Zwergbourgeoisie keineswegs ein Sieg der Arbeiterklasse war. Wenn man dies verstanden hat, so kann man auch leicht begreifen, dass die stalinistische Bauernpolitik schliesslich nichts anderes darstellte, als eine zugespitzte Form der Unterdrückung der kleinen Produzenten durch das Kapital. In einem mehr oder weniger grossen Masse gehört diese Unterdrückung überall und zu allen Zeiten zum Kapitalismus, und ihre extreme Zuspitzung in Russland ist nicht auf einen geheimnisvollen Wesenszug der stalinschen Macht und noch weniger auf die »falschen Auffassungen« Stalins über den Sozialismus zurückzuführen. Die Ursache für diese Zuspitzung liegt in einem Phänomen, das mindestens in den Ländern alter Besiedlung als klassisch gelten kann, nämlich das Missverhältnis zwischen kapitalistischer Industrie und kleinbürgerlicher Landwirtschaft: Gerade dieses Missverhältnis hatte in Russland infolge der Verspätung der bürgerlichen Revolution einerseits und das Ausgestossensein vom Weltmarkt andererseits ein wahrscheinlich einmaliges Ausmass erreicht. Der Grund für den Unterschied zwischen Bauernpolitik des Stalinismus und der Bauernpolitik jener Staatsmächte, die sich in der Vergangenheit ebenso mit den Ergebnissen einer bürgerlich-demokratischen Revolution konfrontiert sahen, liegt also keineswegs in einer jeweils anderen Klassennatur. Auch der Stalinismus gehorchte bürgerlichen Klassenimperativen, aber unter spezifischen Bedingungen: kurz gesagt, der Konflikt zwischen XX. Jahrhundert und »Mittelalter« wurde hier nicht zwischen entfernten Kontinenten ausgetragen sondern in den Grenzen eines einzigen, isolierten Landes!

Wenn der Stalinismus in einem grossen Masse mit dem vermeintlichen Radikalismus seiner Bauernpolitik prunkte, so stützte sich seine sozialistische Demagogie doch vor allem auf das Staatseigentum an den Produktionsmitteln in der Industrie und auf das Vorhandensein einer zentralen Planung. Das hat sich bei den Erben Stalins fortgesetzt: Sie sind zwar liberaler gegenüber der Landwirtschaft und viel vorsichtiger im Hinblick auf den ökonomischen Nutzen einer durchgreifenden staatlichen Intervention in die Sphäre der Produktion und Zirkulation, auf das heilige Dogma aber lassen sie nichts kommen: Nach wie vor bedeuten Verstaatlichung der »wichtigsten« Produktionsmittel und Sozialismus ein und dasselbe. Trotz des fatalen Echos, das dieser Glaubenssatz bei der Arbeiterklasse gefunden hat, ist er völlig unhaltbar. Der Begriff Staatseigentum bezeichnet eine juristische Form und nicht ein ökonomisches Produktionsverhältnis, vor allem liefert er überhaupt keine Antwort auf die Frage nach der Richtung, in der sich diese Entwicklung vollzieht. Fangen wir mit einem einfachen Beispiel an. Die Stalinisten selbst haben die Leiter der Staatsbetriebe periodisch wegen Sabotage, Korruption und Machtmissbrauch angezeigt; damit gaben sie klar zu, dass die Ersetzung der besoldeten Angestellten der Aktiengesellschaften durch die besoldeten Angestellten des Staates keineswegs zu den von ihnen gepriesenen sozialistischen Vorteilen der Nationalisierung gehört, d. h. dass diese sozialistischen Vorteile im Gegenteil nur in der wachsamen Kontrolle durch die Partei gesucht werden können. Gerade so geht der Moskauer Revisionismus in der »Theorie« vor: Der potentielle Kritiker wird anscheinend von dem unsicheren und unbeständigen Bereich der Politik auf die handfesten Tatsachen der Wirtschaft zurückgewiesen (»jawohl, man hat viele Fehler gemacht, es bleibt aber die unwiderlegbare Tatsache des sozialistischen Staatseigentums«), aber in Wirklichkeit hält man ihn immer im Kreise eines einzigen und unhaltbaren politischen Axioms gefangen: Die Kontrolle durch die Partei sei eine proletarische und sozialistische Kontrolle. Die Stalinisten täuschten vor, neue Verhältnisse zwischen den Menschen einzuführen im Rahmen einer Wirtschaftsordnung, die nach wie vor auf der Lohnarbeit beruhte und alle anderen Charakteristika des Kapitalismus aufwies: Doppelcharakter der Produkte als Gebrauchswerte und Tauschwerte, d. h. Warenproduktion; Verwandlung des Warenkapitals in Geldkapital und umgekehrt. Nun, auf dieser Grundlage sind die Verhältnisse einer universellen Kooperation unmöglich; auf dieser Grundlage müssen sich alle Interessen durchkreuzen und zur allgemeinen Konkurrenz führen: Damit sie ihr Plansoll erfüllen, treten die Staatsbetriebe in Konkurrenz zueinander, um sich die notwendigen aber unausreichenden Rohstoffe zu beschaffen und Arbeitskräfte anzuwerben; der Staat steht in Konkurrenz zu seinen Kontrahenten, ob es sich dabei um die bäuerlichen Kolchosen handelt oder um die »Organisationen«, die unter Vertrag unzählige »Montage- und Bauarbeiten« durchführen; zwischen Stadt und Land besteht Konkurrenz. Und die Arbeiterklasse, die theoretisch die Säule des Systems ist? Konnte sie sich unter dem Vorwand, dass der gewerkschaftliche Kampf (Ausdruck der Konkurrenz zwischen Lohnarbeitern und Arbeitgebern) verboten ist, fernhalten lassen von all dieser bürgerlichen Gärung, die den offiziellen Mythos der auf Lohnarbeit und Warenaustausch beruhenden Erlösung der Sowjetbürger so krass Lügen strafte? Selbstverständlich nicht. Vielmehr zwang das nackte Bedürfnis sie dazu – und zwar so heftig wie jede andere Gesellschaftsschicht. Und keine Klassentradition konnte sie mehr aufhalten, nachdem sie sich ja zum grössten Teil aus soeben zugewanderten, von einem tiefen Individualismus geprägten Bauern rekrutierte[191]. Auch sie kämpfte also, aber unterschwellig und in den primitivsten Formen, die von der vollkommenen Trägheit in der Produktion bis zur Beschädigung der Produktionsmittel und zur allgemeinen Plünderung des »Staatseigentums« reichten – genau wie die Bauernschaft.

Hier geht es nicht darum, ob die Partei an der Macht proletarisch und revolutionär ist oder nicht; es geht auch nicht darum, jede Einflussmöglichkeit des Staates über die Wirtschaft zu bestreiten. Hier geht es ganz einfach darum, dass es absolut unmöglich ist, eine solche Produktionsweise einer gesellschaftlichen Kontrolle zu unterziehen, sei es, weil die zersplitterte Einzelarbeit und das Eigentum von einzelnen sozialen Gruppen einen riesigen ökonomischen Sektor nach wie vor beherrschen, sei es, weil die gesellschaftliche Arbeit, sofern sie – wie in der Industrie – besteht, auf Lohnarbeit und Betriebswirtschaft beruht und somit einen antagonistischen Charakter hat, der, wie es unter dem Kapitalismus immer der Fall ist, den gesellschaftlichen Charakter der Produktion unterjocht. Gerade Trotzki, der wie kein anderer für die »Planung« und die Ausdehnung des Verantwortungsbereiches der Planungsinstanz (des Gosplan) gekämpft hatte[192], widerlegte in glänzender Weise die Einbildungen der stalinschen Partei; diese glaubte ganz einfach, die zynische Verkennung der Lebensbedürfnisse der Massen und die Unterjochung der Pläne unter den Selbstzweck des quantitativen Wachstums bedeute einen tatsächlichen Sieg über die Anarchie der Warenproduktion und damit eine tatsächliche Kontrolle über die Wirtschaft:

»Der intellektuellen Fantasie von Laplace verdanken wir die Beschreibung eines universalen Gehirns, das gleichzeitig alle Vorgänge der Natur registrieren, die Dynamik ihrer Bewegung messen und die Ergebnisse ihres Wirkens voraussehen würde. Gäbe es ein solches Gehirn, so würde es selbstverständlich einen endgültigen und vollkommenen Wirtschaftsplan a priori erstellen können, beginnend mit der Futteranbaufläche und endend bei den Westenknöpfen. Die Bürokratie bildet sich freilich ein, vor allem sie besitze ein solches Hirn […] Doch in Wirklichkeit täuscht sie sich völlig […] Trotz ihrer schöpferischen Fähigkeiten[193] ist sie in Wirklichkeit gezwungen, sich auf die Verhältnisse (oder besser Missverhältnisse), die vom kapitalistischen Russland übernommen wurden, zu stützen, sowie auf die gegebene Struktur der zeitgenössischen kapitalistischen Nationen und schliesslich auf die Erfahrungen, Erfolge und Fehler der Sowjetwirtschaft.«
»Selbst eine richtige Verbindung all dieser Elemente erlaubt nur die Ausarbeitung eines unvollständigen Plangerüsts[194] […] Die Prozesse des Wirtschaftsaufbaus spielen sich gegenwärtig noch nicht in einer klassenlosen Gesellschaft ab. Die Fragen der Verteilung des Nationaleinkommens bilden die zentrale Achse des Plans« (Wohlgemerkt nicht des stalinistischen, sondern eines den Tages- und Endzielen des Proletariats unterstellten »Plans«, IKP). »Durch den Kampf zwischen den Klassen und Gesellschaftsgruppen einschliesslich der verschiedenen Schichten des Proletariats drängen sich diese Fragen auf. Die wichtigsten ökonomischen und sozialen Probleme, wie das Verhältnis von landwirtschaftlichen Lieferungen an die Industrie und Industrielieferungen an die Landwirtschaft, das Verhältnis von Akkumulation und Konsumption, von Kapitalfonds und Lohnfonds, die Regelung der verschiedenen Arbeitskategorien (Facharbeiter, Hilfsarbeiter, Gelegenheitsarbeiter, Spezialisten, führende Bürokraten), schliesslich die Verteilung des im Dorf produzierten Nationaleinkommens unter den verschiedenen Bauernschichten, alle diese Probleme erlauben, und zwar schon durch die Tatsache ihrer blossen Existenz, keine aprioristischen Entscheidungen […]«

Für Trotzki kann es nicht um die Beseitigung der »Missverhältnisse binnen weniger Jahre« gehen (das wäre eine Utopie), sondern »um ihre Verringerung und damit um die Vereinfachung der Grundlagen der Diktatur des Proletariats[195] bis zu dem Zeitpunkt, in dem die neuen Siege der Revolution das Schlachtfeld der sozialistischen Planung ausdehnen und das Planungssystem neu gestalten werden« (Hervorhebung IKP; »Ökonomische Probleme der UdSSR«, Prinkipo, 1932).

Die offiziellen Phrasen stehen im vollkommenem Gegensatz zu diesen marxistischen Betrachtungen: Artikel 11 der Verfassung von 1936 verstieg sich gar zu folgender Ungereimtheit, die den stalinistischen Voluntarismus sehr plastisch darstellt: »Das wirtschaftliche Leben der UdSSR wird durch den staatlichen Volkswirtschaftsplan […] bestimmt und gelenkt.« In Wirklichkeit wird das Wirtschaftsleben natürlich durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die Klassenverhältnisse und die Weltlage bestimmt, und was die Lenkungsmöglichkeit angeht, so steht sie selbstverständlich im umgekehrten Verhältnis zu den sozialen Widerstandsbestrebungen, die die Wirtschaftspolitik des Staates in den verschiedenen Gesellschaftsschichten hervorruft: Die Wirklichkeit kümmert sich Überhaupt nicht um verfassungsmässige Glaubensparagraphen. Die stalinistische »Wirtschaftslenkung« widersprach voll und ganz den Klassensorgen, von denen Trotzkis zitierter Text getragen wird; und wenn Stalins Erben ihrerseits ab 1956 das System nach ihrer Façon »ummodeln« sollten, so keineswegs weil die sozio-ökonomische Natur ihrer Sorgen sich verändert hätte, sondern ganz einfach weil die UdSSR eine neue Stufe der Entwicklung ihrer Produktivkräfte (Produzenten inbegriffen) erreicht hatte.

Der absolute Siegesmarsch der kapitalistischen Imperative über die unmittelbar proletarischen, geschweige denn sozialistischen Bedürfnisse geht aus allen ökonomischen Zahlen hervor, wohl aber am krassesten aus der Gegenüberstellung der jeweiligen Entwicklung von Sektor A (Produktionsgüter) und Sektor B (Konsumtionsgüter)[196]. Die Zahlen der untenstehenden Tabelle geben den Jahresindex der Gesamtindustrieproduktion sowie jeweils der Produktion von Sektor A und Sektor B, immer im Vergleich zum Jahre 1913 wieder; die Werte für 1913 wurden in allen drei Fällen gleich 100 gesetzt, natürlich nicht (versteht sich!) weil die absoluten Werte in jenem Jahr gleich gewesen wären, sondern weil hier nicht die absoluten Werte sondern die Wachstumsraten wichtig sind:

Jahr gesamte Industrieproduktion davon Sektor A
(Produktionsgüter)
davon Sektor B
(Konsumgüter)
1913 100 100 100
1917 71 81 67
1921 31 29 33
1940 852 1554 497
1945 782 1744 295
1958 3662 8332 1379
1964 6182 14 207 2023

Selbst der Leser, der sich mit Zahlen schwer tut, kann eine sehr einfache Tatsache feststellen: Wenn die falschen russischen »Sozialisten« die Massen dazu auffordern, ihre »grandiosen Errungenschaften« zu bewundern, nämlich die Tatsache, dass ihre Industrieproduktion zwischen 1913 und 1964 um das 62-fache gestiegen ist, so möchten sie wohlgemerkt glauben machen, dass sich das Los der proletarischen und bäuerlichen Massen unheimlich ohne Vergleich zu dem, was man im Westen beobachten konnte, verbessert hat. In Wirklichkeit war die Steigerung der Produktion von Industrieerzeugnissen für den Verbrauch sehr viel geringer: 20fach als Ganzes und, wenn man die Bevölkerungszunahme zwischen 1913 (159 Millionen) und 1958 (208 Millionen) berücksichtigt, nur 12fach pro Einwohner. Berücksichtigt man dazu noch, dass 1913 das Lebensniveau der russischen Bevölkerung unvergleichlich hinter dem der europäischen stand, so ist das Ergebnis mehr als bescheiden. Ganz anders sieht es mit dem Sektor A, mit der Produktion von Investitionsgütern und Waffen aus, die wegen ihrer Beschaffenheit zum Verbrauch im üblichen Sinne des Wortes nicht geeignet sind. Hier haben wir einen Zuwachs, der absolut das 141-fache, pro Kopf immerhin das 113-fache beträgt, also eine in jedem Fall beachtliche Zahl. Was bedeutet das? Dass die nationale Macht Russlands unter Stalin spektakulär gewachsen ist, ohne dass sich das Los der Bevölkerung – und vor allem des Proletariats, versteht sich[197] – wesentlich verbessert hätte. Darin liegt eine schlagende Bestätigung der marxistischen These, derzufolge nationale Grösse und proletarische Interessen nicht miteinander übereinstimmen, sondern in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen – und ebenfalls, dass der Sozialismus in einem Lande eine reaktionäre Utopie darstellt. Um solche Schlussfolgerungen abzutun, wenden die Moskaufreunde im allgemeinen mit der üblichen Heuchelei ein, der Sozialismus reduziere sich überhaupt nicht auf die Erhöhung des individuellen Verbrauchs, ja es sei im Gegenteil der Kapitalismus, der mit allen verfügbaren Mitteln oft absurde und selbst schädliche Bedürfnisse wecke, um den Massenverbrauch künstlich aufzublähen, und zwar allein mit der Absicht, dem Kapital neue Akkumulationsmöglichkeiten zu eröffnen. In einem gewissen Masse stimmt das auch[198], der Einwand nimmt sich aber lächerlich aus, denn es geht weniger um die Entwicklung des Massenverbrauchs an sich als vielmehr um des eklatante Missverhältnis zwischen diesem Verbrauch und der Gesamtbewegung der Produktion des materiellen Kapitals.

Dieses Missverhältnis kennzeichnet den Kapitalismus: Diese Produktionsweise unterscheidet sich darin von allen früheren und ebenso von der künftigen, der sozialistischen Produktionsweise. Im Kapitalismus ist die Produktion von Konsumtionsgütern nicht der Zweck, sondern eine einfache Bedingung der ökonomischen Tätigkeit. Wenn die Erzeugnisse des Sektors B für die Unternehmen dieses Sektors ein Warenkapital darstellen, dessen Verkauf wie jeder andere die Realisierung eines Profits ermöglicht, so verhält es sich ganz anders vom Standpunkt der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit: Die Verbrauchsgegenstände, die den ökonomischen Kreislauf verlassen, erscheinen in dem Augenblick ihrer Konsumtion nicht als Kapital sondern als Revenue, denn sie werden entweder gegen den Lohn oder gegen den Teil des Mehrwerts ausgetauscht, den die herrschende Klasse für ihren persönlichen Verbrauch bestimmt. Für den bürgerlichen Staat wird das wirkliche Kapital im gesamtstaatlichen Rahmen durch die Produktionsgüter gebildet, d. h. durch die Gesamtheit der Industrieanlagen, Maschinen und Rohstoffe, die man, wie es die Kapitalisten sagen, »produktiv konsumiert«. Dieses materielle Kapital ist nicht nur die scheinbare Quelle des Ganzen, von der Nationalwirtschaft in einem gegebenen Produktionszyklus erbrachten Profits sondern auch die Grundlage ihrer ökonomischen und militärischen Macht im Weltmassstab. Dem Kapitalismus geht es in Wirklichkeit um das Wachstum dieses materiellen Kapitals: der Verbrauch im eigentlichen Sinne des Wortes ist etwas »Unproduktives«. Er wird lediglich einerseits als ein Mittel unter anderen betrachtet, um Geschäfte zu machen und einen Profit zu realisieren, andererseits als eine Bedingung, bei deren Ausbleiben die Arbeiter nicht mehr arbeiten könnten (die obige Tabelle erfasst nur die von der Industrie erzeugten Konsumtionsgüter, es ist aber klar, dass der grösste Teil der Agrarproduktion zum Sektor B gehört), und die Kapitalisten selbst, von ihrem Leben völlig enttäuscht, nicht mehr zur Investition getrieben würden. Es ist klar, dass das Kapital nicht den Wohltätigkeitszweck verfolgt, die Arbeiter und die anderen Werktätigen mit allen möglichen Gütern zu beliefern, wenn es sich Jahr für Jahr vergrössert und akkumuliert. Das wird allein schon durch die allgemeine Wehklage bewiesen, welche ein Generalstreik für die Erhöhung der gegen Konsumtionsgüter auszutauschenden Löhne oder bereits eine »gefährliche Konjunkturerhitzung« infolge einer zu starken Nachfrage hervorrufen. Allerdings verfolgt das Kapital entgegen der idiotischen Auffassung der Opportunisten ebensowenig den plausibleren, aber viel zu eng gefassten Zweck, einer Handvoll Grossbourgeois ein Leben wie Gott in Frankreich zu erlauben. Kurzum, es stand dem Kapitalismus zu, die Unterordnung der Produktion unter die Bedürfnisse der Menschen, die so alt war wie die Zivilisation, auf den Kopf zu stellen, um eine neue Zivilisation zu schaffen, in der das Leben der Menschen bis in die kleinsten Einzelheiten den Bedürfnissen der Produktion unterstellt ist.

Aber warum zeigt sich dieses Missverhältnis in der russischen Wirtschaft noch krasser als überall sonst? Das hängt zum Teil, aber nur zum Teil, damit zusammen, dass sie von einer sehr niedrigen Stufe ausgehen musste, dass sie sich mit einem Grundstock an Kapital ausrüsten musste, was – wie wir sahen – die Marxisten ja nie bestritten haben. Das ausufernde Missverhältnis ist aber nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass die machthabende Partei den »Mut« hatte, eine kapitalistische Politik zu praktizieren ohne jegliche Zugeständnisse an die »vergeblichen Illusionen« der Massen, die sich naiv vorstellten, dass die Produktion für den Menschen da sei und nicht der Mensch für die Produktion, und noch weniger an die »sentimentalen und sozialdemokratischen« Einwände der Revolutionäre, die geltend machten, dass diese Überzeugung den proletarischen Sozialismus kennzeichne. Aber wenn sie zumindest bis zu den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg eine solche Unnachgiebigkeit zur Schau stellen konnte, so hängt das nicht mit etwaigen Eigenarten der sowjetischen Institutionen zusammen sondern lediglich mit einem ausserordentlichen Verhältnis zwischen den Klassenkräften, die sich gegenseitig neutralisierten, und mit der weltweiten Isolierung Russlands. Selbst der Fachmann für sowjetische Wirtschaft, Bettelheim, der Russland für sozialistisch hält[199], muss zugeben, dass »die Frage der ökonomischen Wahl in der UdSSR keineswegs durch die alleinige Handhabung der Planungsinstrumente entschieden wird«. Mit anderen Worten, die ökonomische Wahl entspringt einer Politik, die durch die »Planungsinstrumente« ermöglicht wird, die aber durch Klassenerwägungen bestimmt wird und nicht – wie sich die Idioten einbilden – durch das Vorhandensein der Nationalisierung. Gerade das meinen wir auch. Es ist das kapitalistische Streben nach nationaler Grösse, das, selbst wenn eine kapitalistische Klasse nicht offen in Erscheinung tritt, sich der stalinistischen und nachstalinistischen Macht aufgezwungen hat und das sie dazu führte, für die absolute Vorherrschaft der Schwerindustrie einzutreten. Und die heutigen »Liberalisierer« können auf dieses Credo nicht verzichten, welche kleinen Reformen sie in die Wirtschaftsverwaltung auch einführen mögen. Das »Planungsinstrument«, das am geeignetsten ist, ihnen die praktische Verwirklichung dieser Wahl zu ermöglichen, heisst Umsatzsteuer zulasten der Staatsunternehmen und Genossenschaften. Nicht umsonst wird sie von den Sowjetökonomen »eine der wichtigsten Methoden der Verteilung der sozialistischen [sic!] Akkumulation und der finanztechnischen Einwirkung auf die sozialistische Wirtschaft« genannt. Diese Steuer, deren Satz je nach Tätigkeitsgebiet und Unternehmenslage variiert[200], bildet zusammen mit der »Ertragssteuer« (die sich zwischen 10 % und 80 % der jeweiligen Gewinne bewegt) eine der wichtigsten Quellen der staatlichen Finanzierung der Betriebe; diese verbindet sich in den verschiedenen Proportionen mit der Finanzierung der Betriebe aus Eigenmitteln; auf diese Weise wird die erforderliche Kapitalinvestition gewährleistet. Ob der Staat ohne die Beseitigung der mehr oder weniger selbständigen und rivalisierenden Gruppen der durch die Oktoberrevolution gestürzten städtischen Bourgeoisie je in der Lage gewesen wäre, eine so systematische und rigorose Wertübertragung von der Konsumtionsgüterindustrie in die Industrie des Sektors A sicherzustellen, ob er dann je in der Lage gewesen wäre, die Konsumtionsgüterindustrie so hoch zu besteuern, ohne dass sie dabei ihre gesellschaftlich so unentbehrliche wie in den Augen der neokapitalistischen Macht politisch zweitrangige Tätigkeit hätte einstellen können, sei dahingestellt. In dem Masse, in dem die Entpersonalisierung des Kapitals einen realen »Vorteil« darstellte, diente dieser Vorteil lediglich der hemmungslosesten Akkumulation des Kapitals und keineswegs dem Proletariat, vom Sozialismus ganz zu schweigen, denn dieser war, wie wir ausführlich belegt haben, im unmittelbaren Programm der Bolschewiki nicht enthalten, und fängt übrigens gerade dann an, wenn die Fragen der Finanzierung und Subvention, der Wertübertragung und der Wirtschaftspolitik aufhören zu existieren: Diese Fragen gehören entweder zu einer sehr niedrigen Phase des Übergangs zur neuen Gesellschaft, oder, wie es in Russland seit 1929 der Fall ist, des Übergangs zum modernen Imperialismus[201].

Befassen wir uns nun mit der Agrarproduktion. Sie bildet den wesentlichen Teil des Sektors B (Konsumtionsgüter), denn von ihr hängt ja die Ernährung der Bevölkerung ab. Für die Darstellung ihrer Entwicklung verfügen wir über keine Tabelle, die mit der vorhergehenden vergleichbar wäre; wir verfügen aber über eine Tabelle, die mit Zahlen sowjetischen Ursprungs[202] zusammengestellt wurde und doch eine beredte Sprache spricht. Während die Kurve der Industrieproduktion seit 1921 einen ständigen Aufstieg zeigt (Stagnation und Verfall waren nur zwischen 1940 und 1945 zu verzeichnen), läuft die Kurve der Agrarproduktion fast horizontal mit Schwankungen unterhalb des Indexes 100; bis 1953–54 bewegt sie sich weit unter dem Index 200; während des Krieges ist aus offensichtlichen Gründen wie bei der Industrie ein Sturz zu verzeichnen, er geht allerdings bis unter den Index 100. Wir verfügen auch über eine Tabelle mit den Durchschnittserträgen für die verschiedenen Agrarprodukte je Hektar: Hier zeigt sich die landwirtschaftliche Bilanz des kapitalistischen Russland Nr. 2 als noch beklagenswerter als die der Konsumtionsgüterindustrie:

Durchschnittlicher Ertrag in Zentner pro Hektar
  1903–1913 1938–1940 1949–1953 1954–1958
Getreide 6,9 7,7 7,7 9,2
Zuckerrüben 150 135 150 174
Kartoffeln 78 71 89 90
Rohbaumwolle 13 12,0 15,4

Um diese Ergebnisse richtig beurteilen zu können, muss man sie mit den Ergebnissen anderer Länder, wo die Landwirtschaft ebenso unter kontinentalem Klima und extensiv betrieben wird, vergleichen. Nehmen wir die Getreideproduktion: In den USA war 1909–13 der Ertrag 9,9 Zentner/haha, 1954–56 13 Zentner/ha; für Kanada lauten die Zahlen 11,2 und 13,7 Zentner. Die Ertragserhöhung in Russland stand fast in derselben Proportion, war aber schwächer. Was die Zuckerrüben und die Kartoffeln angeht, so stehen die Erträge noch deutlicher unter denen von Ländern vergleichbarer Naturbedingungen. Der Abstand vergrössert sich noch, wenn man die Erträge der Viehzucht, insbesondere bei den Milchkühen betrachtet. Was die Entwicklung des Viehbestandes pro Kopf der Bevölkerung angeht, so zeigt sie eine deutliche Verschlechterung der Ernährungslage des Landes – Schweinefleisch ausgenommen.

Index des Viehbestandes je Kopf der Bevölkerung[203]
1916 1960 Veränderung in %
Rinder 100 82 − 18 %
Kühe 100 77 − 23 %
Schafe und Ziegen 100 98 − 2 %
Schweine 100 163 + 63 %

Ein anderes grundlegendes Element, um das Agrarbild des kapitalistischen Russland Nr. 2 abzurunden, liegt in der Entwicklung der qualitativen Struktur. Sie geht aus folgender Tabelle hervor, die ebenso russischen Ursprungs ist:

Aufteilung der Saatfläche 1913 – 1959
Jahr Gesamtfläche Getreide Industrierohstoffe Gemüsse und Kartoffeln Futtermittel
1913 100 % 89,9 % 4,3 % 3,6 % 2 %
1940 100 % 73,5 % 7,8 % 6,7 % 12 %
1953 100 % 67,9 % 7,3 % 6,6 % 18,2 %
1956 100 % 66 % 6,7 % 6,1 % 21,2 %
1959 100 % 61 % 6,3 % 5,9 % 26,8 %
  (jeweiliger Anteil an der Gesamtfläche in %)

Diese Tabelle zeigt, dass Russland die »Getreidephase«, die die Landwirtschaft der vorkapitalistischen Gesellschaften und die ersten Stufen des Kapitalismus charakterisiert, immer noch nicht verlassen hat. Mit der Einführung des Futtermittelanbaus in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts holt Russland mit 150 Jahren Verspätung die in Europa gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts begonnene Agrarrevolution ein[204].

Aber welche Bedeutung haben alle diese wohl bekannten Zahlen, für die das abgedroschenste bürgerliche Denken natürlich den Kommunismus verantwortlich macht? Nun, das Missverhältnis zwischen der Industrieentwicklung und der Landwirtschaftsentwicklung (und wenn wir hier von Industrie reden, meinen wir die Industrie als Ganzes, also einschliesslich der Produktion von Konsumtionsgütern, deren Ergebnisse alles andere als brillant sind) charakterisiert gerade das geschichtliche Zeitalter des Kapitalismus. Der erste Grund dafür ist sehr einfach: Die jährliche Umschlagszahl des Kapitals, die in der Industrie erreicht werden kann, ist viel höher als in der Landwirtschaft, die ja vom natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten abhängig ist. Nun ist gerade die Beschleunigung der Umschlagszeit des Kapitals ein Mittel im Kampf gegen den Fall der Profitrate, der den technischen Fortschritt tendenziell begleitet. Sieht man von Einwanderungsländern wie den USA oder Australien ab, wo das Bedürfnis nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen mit beschleunigtem Tempo wuchs und die Entwicklung der grossen kapitalistischen Landwirtschaft von der Existenz des kleinbäuerlichen Eigentums nicht gehemmt wurde, so musste das Kapital vorzugsweise der Industrie und nicht der Landwirtschaft zuströmen; hinzu kommt, dass die Nahrungsbedürfnisse viel weniger »elastisch« sind als der Bedarf an den verschiedenen Industrieerzeugnissen. So blieb die Landwirtschaft trotz der Konzentration des Bodens und der fortschreitenden Mechanisierung ein Sektor kleinbürgerlicher Produktion; in verschiedenen Ländern zeigt die jüngste Entwicklung das Schwinden der Landarbeiter, bzw. die maschinelle Bearbeitung immer grösserer Flächen durch die Bauernfamilie, während die absolute Lohnarbeiterzahl in der Industrie nach wie vor unbestreitbar wächst. Der Rückstand der russischen Landwirtschaft gegenüber der Industrie hat also nichts Geheimnisvolles an sich; er entspricht vollkommen den Gesetzen der kapitalistischen Produktion. Dieser Rückstand der russischen Landwirtschaft im Vergleich zu den entwickelten Ländern wird allerdings dem »Kommunismus« angelastet. Es ist eine Tatsache, dass die russische Landwirtschaft eine gewisse Konzentration erfahren hat; sie ist heute nicht mehr die elende Parzellenwirtschaft der Jahre 1927–28, die auf den Städten so vernichtend lastete bzw. die Niederlage der proletarischen Partei und die grosskapitalistische Offensive der stalinschen Ära hervorrief. Worauf ist also die ungeheure Stagnation zurückzuführen? Die Gegner des Kommunismus antworten natürlich sofort: auf den »Kollektivismus«. Diese Erklärung erklärt aber überhaupt nichts, denn wenn es in der UdSSR »Kollektivismus« gibt, so in der Industrie nicht weniger als in der Landwirtschaft – und wie liesse sich dann die spezifische Rückständigkeit der Landwirtschaft erklären? Hier erscheint der reaktionäre Hintergrund dieser vulgären, aber weit verbreiteten These ganz deutlich: in ihrem Kern liegt der Gedanke, dass es irrsinnig sei, die landwirtschaftliche Arbeit nach den Grundsätzen der Industriearbeit zu organisieren; assoziierte Arbeit und Aufgabenteilung (nicht zu verwechseln mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung) sollen demzufolge nur in der Industrie anwendbar sein. Wenn dem so wäre, müsste man alle kommunistischen Hoffnungen ablegen, denn ohne Abschaffung des vorhandenen Gegensatzes von Stadt und Land, von Industrie- und landwirtschaftlicher Arbeit wird man nie zu einer Gesellschaft gelangen, die »nach einem gemeinsamen Plan« arbeitet und keine Klassenunterschiede kennt. Nun ist aber die These rein faktisch falsch. Es genügt, die Kolchosen (gemischte Kolchosen mit einem genossenschaftlichen und einem privaten Sektor) mit den Sowchosen (landwirtschaftliche Betriebe, die wie die Industrie organisiert sind und Lohnarbeiter beschäftigen) zu vergleichen: Letztere haben eine höhere Rentabilität. Aus dem Bericht von Chruschtschow im ZK der Regierungspartei (5. Dezember 1958) geht hervor, dass der Arbeitseinsatz in den Kolchosen denjenigen in den Sowchosen pro Produktionseinheit um folgende Werte überstieg:

Gebiete Getreide Milch
Schwarzerdegebiet 2,4 1,3
Wolgagebiet 2,6 1,4
Nordkaukasus 3 1,4
Westsibirien 2,2 1,2
Kasachstan 2,2 1,1

In Frage gestellt wird also die Kolchose, die heute vorherrschende Form der sowjetischen Landwirtschaft, sowie die Beziehungen, die der Industriestaat mit ihr unterhält.

Der Vergleich zwischen Investitionen in der Industrie und in der Landwirtschaft einerseits und die Untersuchung der Entwicklung der staatlichen Investitionen in der Landwirtschaft andererseits sind besonders aufschlussreich. Wir übernehmen von Bettelheim in der untenstehenden Tabelle zwei vergleichbare Zahlenreihen (handelt es sich ja um ein und dieselbe Quelle), aus der sich Prozentsätze ergeben, die bestimmt zu hoch sind; andere Quellen liefern viel höhere Zahlen für die Investitionen in der Industrie, sagen aber leider nichts über die in der Landwirtschaft aus. Auf der rechten Seite der Tabelle geben wir daher die Prozentsätze wieder, die man jeweils erhält, wenn man von Bettelheims Zahlenreihe für die Investitionen in der Industrie ausgeht. Die Wahrheit wird wohl zwischen beiden Prozentreihen liegen, man muss aber bemerken, dass die Kurve in beiden Fällen gleich läuft[205].

Investitionen in Millionen Rubel zum Wert des laufenden Jahres
Jahr Industrie Landwirtschaft Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtinvestition in %
1928 1880 379 16,7 -
1929 2615 840 24,9 9,9
1930 4115 2590 38,3 12,1
1931 7407 3645 32,9 16,5
1932 10 431 3820 26,8 15,0
1933 8864 3900 30,6 17,8
1934 10 624 4661 30,4 16,4
1935 11 880 4983 29,5 15,1
1936 13 956 2633 15,8 7,2
1937 13 928 2614 15,8 6,4
1938 - 1600 - 3,7
1940 - 1300 - 2,9

Aus dieser Tabelle (die dennoch die Stalinisten in einem günstigen Licht erscheinen lässt, unterstreicht sie ja in sicherlich übertriebener Weise ihre Anstrengungen, um eine äusserst rückständige Landwirtschaft auszurüsten) geht auf jeden Fall deutlich hervor, dass die Landwirtschaft die »arme Verwandte« blieb, selbst in den schlimmsten Krisenjahren 1930–35, in denen die Belieferung der entstehenden Kolchosen[206] mit Maschinen und Kunstdünger eine Lebensnotwendigkeit für das Fortbestehen des Regimes darstellte. Ebenso klar geht daraus hervor, dass der Staat, sobald die Gefahr gebannt war, eiligst einen grösseren Teil seiner Mittel für die Industrie, an erster Stelle, wie wir gesehen haben, für die Schwerindustrie bestimmt hat. So fallen die Investitionen in der Landwirtschaft seit 1936 auf das ziemlich bescheidene Niveau von 15,8 %, das 1939–40 noch weiter sinkt; für diese beiden Jahre gibt es zwar eine Unterbrechung in der ersten Zahlenreihe unserer Tabelle, ihre Tendenz, sich von den Zahlen für die Landwirtschaft abzuheben, ist aber unverkennbar. Für die Nachkriegszeit muss man sich auf Hypothesen beschränken. Nach den massiven Kriegszerstörungen sah der IV. Plan nur für die Jahre 1945–50 ein Investitionsvolumen in der Landwirtschaft von 19,9 Milliarden, d. h. ca. 3,3 Milliarden jährlich vor. Wenn man bedenkt, dass sowjetische Quellen die Planinvestitionen später mit folgenden Zahlen bezifferten, so wäre der Anteil der Investitionen in der Landwirtschaft 1945 auf 7,7 und 1950 gar auf 3,6 % gefallen!

Investitionen der IV. Wirtschaftsplans
Jahr Industrie Landwirtschaft Anteil der Investitionen in der Landwirtschaft in %
1945 39,2 3,3 7,7
1946 46,8 3,3 6,8
1947 50,8 3,3 6,4
1948 62,1 3,3 5,3
1949 76,0 3,3 4,3
1950 90,8 3,3 3,6
  (in Milliarden Rubel)

In seinem »Les paysans soviétiques« (Die sowjetischen Bauern) erklärte Chombart de Lauwe (1960): »Im Laufe der fünf ersten Fünfjahrespläne, ja bis 1956 betrugen die in der Landwirtschaft getätigten Investitionen insgesamt 13 bis 15 % der Globalinvestitionen in der Nationalwirtschaft«[207]. So gross waren die Sorgen des sogenannten »Arbeiterstaates« um die Versorgung der städtischen Arbeiter…

Diese Investitionspolitik der industriellen Überspannung zu Lasten der Landwirtschaft hat nicht nur einen strikt kapitalistischen Charakter: in ihr liegt auch die stalinistische Bevorzugung der Kolchose, jener genossenschaftlich-privaten Mischform, gegenüber der Sowchose, dem fortgeschritteneren Staatsgut, begründet. In der Tat, um die Sowchosewirtschaft in den Vorkriegsjahren oder in der Wiederaufbauperiode nach dem Krieg (1945–50) verallgemeinern zu können, hatte der Staat seine direkten Investitionen in der Landwirtschaft weiterhin erhöhen müssen, statt sie auf die unbedeutenden Prozentsätze zurückfallenzulassen, die wir für die Jahre 1936–40 und 1945–50 beobachten konnten (und die sich im Laufe der Ära Chruschtschow übrigens keineswegs erhöht haben; darauf werden wir aber später zurückkommen). Die Kleinproduzenten waren in der Kolchose individualistische Kleinbürger geblieben; aber schon als solche erregten sie, nachdem sie infolge der »Zwangskollektivierung« weniger zersplittert waren, die Furcht des Staates; hätte nun der Staat sie in ein riesiges Landproletariat verwandelt, würde er sich bald einem unvergleichlich furchterregenderen Feind gegenüber sehen, als es das zahlenmässig kleine Industrieproletariat der Städte war[208]. Schliesslich wäre eine Verallgemeinerung der Sowchosen nicht zu vereinbaren gewesen mit der Aufrechterhaltung einer relativen Überbevölkerung auf dem Lande, wie sie in der Kolchose infolge der Toleranz gegenüber dem kleinen Familienhof durchaus gegeben ist. Viel mehr Arbeitskraft würde freigesetzt werden, als die Industrie, selbst bei vollem Wachstum, unmittelbar hätte eingliedern können; damit würde man zugleich die Gefahr von grossen sozialen Bewegungen heraufbeschwören. Das Kolchosensystem erlaubte hingegen eine im Vergleich zu dem normalen Bedarf der mechanisierten Grossbetriebe viel höhere Anzahl an Arbeitskräften auf dem Lande, während die Staatsmacht dadurch noch den Vorteil genoss, auf diese überschüssige Landbevölkerung in dem Masse zurückgreifen zu können, in dem zusätzliche Arbeitskräfte in der Industrie benötigt wurden. Wenn die Sache in Russland auch eine besondere Form annahm, so waren es hier nicht weniger als in allen anderen Ländern die Bedürfnisse der kapitalistischen Entwicklung selbst, welche die Abschaffung der archaischen Form der Kleinproduktion auf dem Lande verhindert haben. War aber das mehr oder weniger verschleierte Fortbestehen dieser archaischen Formen eine Folge der Entwicklung, so sollte es gleichwohl zu einem bestimmenden Faktor der schwachen Rentabilitätssteigerung in der russischen Landwirtschaft werden. Spart man einerseits mit den Investitionen, so wird das vorhandene Kapital andererseits nur miserabel genutzt, was der Gleichgültigkeit des Kolchosenkleinbürgers gegenüber den allgemeinen Gesellschaftsinteressen und vor allem dem technischen Unvermögen des Parzellenbauern gut entspricht; die »kulturelle Revolution« auf dem Lande (Alphabetisierung, Entsendung von Fachleuten in die Kolchosen) scheint bis heute noch nicht vollendet zu sein.

Gerade die im kapitalistischen Russland Nr. 2 feststellbare Bodenkonzentration zeigt sehr deutlich die Lebenskraft des Parzellenanteils der Kolchosenwirtschaft. Der Stalin’sche Opportunismus der Jahre 1934–45 schützte die kleinen Bauernhöfe als »Nebenerwerb« der Kolchosbauern (und musste sie auf jeden Fall tolerieren als Ausgleich für die drakonischen Forderungen, die er sehr bald der Bauernschaft ebenso wie dem Proletariat stellen sollte); er sah nicht voraus, dass die Parzelle sich in einen unersättlichen Parasiten verwandeln würde, der die Arbeitskraft, welche der Kollektivhof, selbst wenn er mechanisiert ist, benötigt, unentwegt an sich reisst. Zwischen 1928, als die erste Maschinen- und Traktorenstation gebildet wurde, und 1959 ging die durchschnittliche Fläche der Kolchosen von 33 Hektar und 13 Höfen auf 5800 Hektar und 300 Höfe zurück[209]. In der Kolchose mit 13 Höfen belief sich die autorisierte Grösse der Einzelparzellen im Prinzip auf 0,25 bis 0,70 ha, erreichte aber zusammen mit dem Weideland 3–6 ha; die von den Bauernfamilien privat bewirtschaftete Gesamtfläche durfte 39 bis 78 ha erfassen: Verglichen mit den durchschnittlichen 33 ha des Kollektivhofes bedeutete dies 54 bis 70 % der jeweiligen Gesamtkolchosefläche. Auch 1958 deuten die Verhältnisse auf dieselbe Toleranz hin: In der Kolchose mit 300 Höfen werden 900 bis 1800 ha privat bewirtschaftet, was gegenüber den durchschnittlichen 3200 ha kollektiv bewirtschafteter Fläche immerhin 21 bis 36 % der Gesamtfläche darstellt – entschieden zu viel für eine vermeintlich »kollektivierte« Landwirtschaft.

Und entschieden zu viel, wenn man an die »barbarische Verschwendung« von Arbeit – und insbesondere von Frauenarbeit – denkt, die eine solche Produktionsweise zwangsläufig mit sich bringt: Hier ist der Widerspruch zu dem von den Bolschewiki unaufhörlich anvisierten Ziel der Emanzipation der gesamten arbeitenden Masse unter Führung des Proletariats geradezu schmerzlich. Und ebenfalls entschieden zu viel, wenn man bedenkt, dass die Familienbetriebe der Kolchosen keineswegs eine schwache Rolle in der russischen Landwirtschaft spielen, denn 1957 befanden sich in ihren Händen 54 % der Kartoffel- und Gemüseanbauflächen und 1959 41 % der Rinder, 57 % der Kühe, 36 % der Schweine und 26 % der Schafe – 1958 bestritten sie die Hälfte der Fleisch- und Milchproduktion der UdSSR[210].

Es ist nicht nötig, auf die Unverfrorenheit der Sowjetmacht hinzuweisen: Nachdem sie Sozialismus und verstaatlichte Wirtschaft miteinander identifiziert hatte (was ja ein vollkommener Begriffsmissbrauch ist, denn, wie wir gesehen haben, schliesst das eine das andere aus: Nur in der durch die Diktatur des Proletariats gekennzeichneten Phase des Übergangs zum Sozialismus kann die Wirtschaft einen verstaatlichten Charakter haben), verstieg sie sich zu der Behauptung, die Wirtschaftsstruktur sei nach 1929–30 völlig sozialistisch, obwohl diese in der Landwirtschaft einen bedeutenden privaten Sektor wie ein Krebsgeschwür in sich barg, von der wirklichen Lage in der Industrie ganz zu schweigen (darauf werden wir später bei der Behandlung der Reformen der Ära Chruschtschow und dessen Nachfolger zurückkommen). Die einzige Frage, die sich stellt, betrifft die Ursachen für die ungeheure Lebensfähigkeit des archaischen Familienhofes in der UdSSR, denn die Toleranz seitens der Regierung erklärt an sich so viel wie der berühmte »Besitzinstinkt« der Kleinbauernschaft, also nichts. In Frankreich zum Beispiel hat die Regierung keine sozialistischen Ansprüche, die »Toleranz« gegenüber der Bauernschaft ist eine Selbstverständlichkeit, und doch ist die kleinbäuerliche Wirtschaft im Laufe der letzten 15 oder 20 Jahre wahrscheinlich noch viel weiter zurückgegangen als in Russland; und was den »Besitzinstinkt« angeht, so ist er entgegen den Behauptungen der Diener der Bourgeoisie nichts der »menschlichen Natur« (selbst nicht einmal der bäuerlichen) inhärentes, sondern eine einfache Schutzreaktion der Individuen (die selbstverständlich an erster Stelle ihre eigene physische Erhaltung im Sinn haben), die in allen Gesellschaftsformationen in Erscheinung tritt, in denen derjenige, der kein Kapital oder ganz einfach keine Reserven besitzt, zum Sklavendasein, zum Verfall, wenn nicht gar zum Tode verurteilt ist – die Diktatur des Proletariats wird diesen »Instinkt« wenn nicht gleich, so doch mindestens treffsicher vertilgen, denn sie wird die elende und illusorische »Sicherheit« des persönlichen Eigentums durch eine unvergleichlich höher stehende und wirkungsvollere gesellschaftliche und kollektive Sicherheit ersetzen. Das Geheimnis für die Versteinerung des russischen Pseudosozialismus in privatwirtschaftlichen Formen, die noch hinter denen der entwickelteren Länder des Westens zurückbleiben, liegt, wie man bereits erraten haben wird, in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Industriestaat und den Kolchosbauern, und diese Frage geht über die Untersuchung der Investitionspolitik des Staates hinaus.

Bereits 1928 hatte Trotzki darauf hingewiesen, die Verhältnisse zwischen Sowjetstaat und Bauernschaft seien rechnungsmässig so verwickelt, dass man ziemlich ausgekocht sein müsste, um feststellen zu können, ob der Staat nun faktisch Eigentümer der ihm als theoretischem Besitzer des Bodens rechtmässig (d. h. vom rein juristischen Standpunkt aus) zustehenden Grundrente war oder nicht. Bis zu Chruschtschows halber Kapitulation kann man wohl sagen, dass zwischen stalinistischem Staat und Bauernschaft die Verhältnisse eines verbissenen Kampfes herrschten; dieser Kampf spielte sich hinter dem Schutzschirm der »Arbeiter- und Bauerndemokratie« ebenso ab, wie sich auch der Kampf der bürgerlichen Klassen gegen das Proletariat in den westlichen Ländern hinter der noch brüchigeren Fassade der parlamentarischen Demokratie abspielt. Und jener Kampf wurde eben um die Rente geführt, d. h. um den landwirtschaftlichen Produktionsüberschuss, der nach Deckung des seinem Wesen nach unkontrollierbaren Selbstbedarfs der Bauern unter dem Strich bleibt.

In der Landwirtschaft tangiert die sogenannte Planung, von der die Bewunderer des »russischen Sozialismus« den Mund immer so voll nehmen, nicht die Produktion selbst, oder besser sie betrifft nur indirekt die Produktion. Ihre Grenzen werden von den staatlichen Kapitalinvestitionen in der Landwirtschaft gegeben, und nach allem, was wir geschildert haben, kann man sich gut vorstellen, wie eng sie sind. Hinzu kommen noch die wiederholten Interventionen des Staates, um zu verhindern, dass die Kolchosen den ganzen, aus dem wohlfeilen Verkauf ihrer Erzeugnisse resultierenden Geldertrag unter ihren Mitgliedern verteilen, statt ihn zu behalten und damit den gesetzlich vorgeschriebenen »unteilbaren Fonds«, der ja das Betriebskapital der Genossenschaft bilden sollte, zu vermehren. In Sachen Agrarproduktion beschränkt sich die ganze »Planung«, wie man sieht, schliesslich darauf, dass die Kolchosen zu einer privaten Kapitalakkumulation ermuntert werden, was den Staat auch von der schmerzlichen Pflicht entbindet, einen Teil seiner Mittel von der Schwerindustrie in die Landwirtschaft abzuzweigen. Also alles andere als eine sozialistische Planung, die im Gegenteil bestrebt sein müsste, den Spielraum für private Unternehmungen möglichst einzuengen, und übrigens zugleich auch alles andere als eine Planung schlechthin, denn private Unternehmungen sind ihrem Wesen nach unkontrollierbar und unvorhersehbar.

Wenn es überhaupt eine »Planung« gibt, so wirkt sie erst auf der Stufe der Eintreibung der Produkte, die auf der Grundlage eines komplizierten Systems von Lieferpflichten an den Staat organisiert wird; von Plan kann also nicht die Rede sein, denn gerade das Element der Vorplanung fehlt – es bleibt nur (und zwar keineswegs zugunsten des Stadtproletariats sondern des kapitalistischen Staatsindustrialismus) die Zwangseinwirkung… anhand der empirischen Erfahrung einer »langen Praxis«. Um die »Normen« für die Lieferpflichten der jeweiligen Republiken, Gebiete und Bezirke festzusetzen, geht man von den ortsüblichen Agrarprodukten und deren traditionellen Ertrag, der sich aus den klimatischen Bedingungen und vorhandenen Produktionskapazitäten ergibt, aus. Es geht nicht um die direkte Einwirkung auf diese Faktoren, sondern um deren Berücksichtigung, und das ist alles: Wenn sich Veränderungen von selbst ergeben und offensichtlich werden, wird die Aufteilung der Lieferkontingente unter den Gebieten und Betrieben ihrerseits den veränderten Voraussetzungen angepasst. Schöne »Planwirtschaft«!

Es gibt nicht weniger als fünf verschiedene Handelskreisläufe für die Agrarprodukte (mindestens bis zur Reform von 1958), die folgendermassen aussehen[211]:

»Kreislauf Nr. 1 (Naturalkreislauf):
Die Kolchosen liefern einen Teil ihrer Produktion an die Maschinen- und Traktorenstationen (staatliche Industrieunternehmen, die mehrere Kolchosen beliefern) in Naturalien ab; dieser wird von den MTS an den Staat weitergegeben. Als Gegenleistung betreibt der Staat die MTS, die für die Kolchose arbeitet. In der Theorie entspricht die Produktenlieferung seitens der Kolchose den geleisteten MTS-Diensten.«

Worauf kommt es bei diesem angeblich »sozialistischen« Austausch an? Auf dasselbe wie bei jedem Austausch, nämlich wer wen übers Ohr haut. Dabei ist alles eine Frage der Kräfteverhältnisse. Der »planende« Staat gibt vor, grundsätzlich daraus den Nutzen zu ziehen, was allerdings wenig wahrscheinlich ist; die um ihre Autonomie bedachte und sich über die Staatstyrannei bitter beklagende Kolchose verfolgt dasselbe Ziel: Schöne »sozialistische« Harmonie!

»Kreislauf Nr. 2:
Die Kolchose muss ihre Pflichtlieferungen an den Staat abführen; der Staat kauft diese Produkte zu einem sehr niedrigen Preis und verkauft sie zu einem viel höheren Preis an die Verbraucher weiter; der Staat realisiert also einen beträchtlichen Profit.«

In dieser Beziehung erinnert man sich an die Worte Lenins: Vor der Revolution hatte der kapitalistische Handel die Verbindung zwischen Stadt und Land nur durch Ausplünderung und Diebstahl hergestellt, aber er hatte ihn immerhin hergestellt; wir Kommunisten können unter den gegebenen Bedingungen leider auch nur durch den Handel diese Verbindung herstellen, wir müssen sie aber durch einen europäischen, durch einen modernen Handel herstellen und nicht durch den primitiven, wucherartigen Handel des alten Spekulanten. Was machte nun der stalinistische Staat? Er vernichtete nicht diesen alten Handel, der die Produzenten ausraubte, sondern nahm ihn in seine eigenen Hände, praktizierte ihn selber, wurde zum Oberwucherer und Oberspekulanten. Und das Einzige, was diese Wirklichkeit vor den Augen der Dummköpfe verschleiert, die an den »Sozialismus in einem Land« glauben, ist, dass dies für die beschleunigte Industrialisierung Russlands geschah – schöne »Diktatur des Proletariats«!

»Kreislauf Nr. 3:
Die Kolchose schliesst mit dem Staat Lieferverträge ab, hauptsächlich für den Anbau industrieller Rohstoffe; der Staat bezahlt die vereinbarte Summe und liefert der Kolchose die im Vertrag vorgesehenen Produktionsmittel (Düngemittel, Saatgut). Er verkauft das landwirtschaftliche Produkt wiederum an den Verbraucher, und da der Verkaufspreis, den der Verbraucher zahlen muss, höher ist, als der Einkaufspreis, den die Kolchose erhielt, realisiert der Staat auch bei dieser Operation einen Gewinn.«

Es sei darauf hingewiesen, dass die »Verträge« nicht weniger als der Austausch im Gegensatz zum Sozialismus stehen, denn sie setzen die Existenz von unabhängigen und gegeneinander kämpfenden Wirtschaftseinheiten voraus.

»Kreislauf Nr. 4:
Einen Teil der Kolchosenproduktion kann der Staat zu festgesetzten Preisen kaufen, welche jedoch viel höher sind als die der Pflichtlieferungen. Die Kolchose ist nicht zur Lieferung verpflichtet, so dass die Preise sich denjenigen des Kolchosmarktes annähern.«

»Kreislauf Nr. 5:
Nachdem die Kolchose ihre Lieferpflichten gegenüber der MTS und dem Staat erfüllt hat, darf sie die verbleibende Produktion auf dem Kolchosmarkt direkt an den Verbraucher verkaufen. (Hier) werden die Preise durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt; sie sind sehr günstig für die Kolchose, jedoch betreffen diese Transaktionen nur kleine Mengen.«

Hier liegt das ganze Geheimnis für das Fortleben der Parzellenwirtschaft. Theoretisch ist das Kolchosmitglied ein »Genossenschaftler«; es erhält nicht nur einen Lohn für die geleisteten »Arbeitstage«, sondern auch seinen Anteil an den Gewinn der Kolchose. In der Praxis sieht es jedoch anders aus, denn die Lieferungspflichten gegenüber dem Staat sind mengenmässig so bedeutend und der hierfür bezahlte Preis so niedrig (er steht unter dem Marktpreis und im Falle von Zwangslieferungen selbst unter den Produktionskosten), dass nach Abzug des »unteilbaren Fonds« (d. h. des zur Kapitalisierung bestimmten und vom Staat aus den erläuterten Gründen streng überwachten Teils der Geldrevenue) nichts mehr übrig bleibt zur Verteilung unter den Mitgliedern der Kolchose[212]; letztere erweist sich damit schliesslich eher als Arbeitgeber, denn als Genossenschaft. Der Kolchosbauer erhält im Endeffekt also nur einen niedrigen Lohn, und es ist anzunehmen, dass dieser Lohn in den zurückgebliebenen Kolchosen, bzw. in den ärmlichen Gebieten noch niedriger ist als die Arbeiterlöhne in der Industrie, zumal alle Beobachter feststellen, dass der Lebensstandard auf dem Lande deutlich hinter dem in den Städten zurückbleibt.

»Verkauft er auf dem Kolchosmarkt einige Tonnen Gemüse aus seinem Nebenbetrieb, so erhält der Bauer, der dafür nur ein paar Arbeitsstunden verausgabt hat, eine Summe, die höher liegt, als das von der Kolchose für das ganze Jahr ausgezahlte Einkommen«[213].

Noch 1958 erwirtschaftet der Bauer mit seinen Zwerghandel durchschnittlich 50 % seines Gesamteinkommens. Es ist also nicht verwunderlich, wenn der Kolchoshandel sehr lange zum grössten Teil von den Kolchosbauern und nicht von der Kolchose selbst betrieben wurde[214]: Die Arbeit des Sowjetbauern auf seiner Parzelle hat dieselbe Ursache wie die »Schwarzarbeit« des schlechtbezahlten Arbeiters in Industrie und Handwerk, und solange die ihnen zugrundeliegenden Bedingungen bestehen bleiben, ist die eine so unausrottbar wie die andere. Wie der schlecht zahlende kleine Unternehmer seinem Arbeiter nie untersagen wird, der mehr oder weniger unerlaubten Zusatzbeschäftigung nachzugehen, die ihm dazu verhilft, sein Schicksal zu ertragen, so sieht der Sowjetstaat sorgsam davon ab, den Nebenerwerb des Kolchosbauern zu verbieten; sollte er es absurderweise tun wollen, so bliebe es dennoch dabei, denn die Kleinproduktion kann man nicht per Dekret abschaffen. Die Kleinproduktion verschwindet erst, wenn sie ökonomisch absurd geworden ist; das ist übrigens in den Ländern, die kapitalistisch fortgeschrittener sind als Russland, bereits der Fall; ökonomisch und sozial gesehen befinden sich diese Länder deshalb auch weiter vorne auf dem Wege, der zum Sozialismus führt, obwohl sie politisch ebenso reaktionär sind. In krasser Widerlegung der amtlichen Lügen über den russischen Sozialismus hat die kleine Nebenwirtschaft der Kolchose immer auf der »genossenschaftlichen« Wirtschaft gelastet, denn die Arbeitsstunden, die auf dem persönlichen Hofland verausgabt werden, müssen je der Kollektivwirtschaft gestohlen werden[215]. Der Sozialismus war der stalinschen und post-stalinschen Macht zwar immer völlig egal, die verheerende Bilanz ihrer Landwirtschaft konnte ihr à la longue[216] jedoch nicht egal bleiben. Es liegt also nichts Verwunderliches darin, wenn die letzten Veränderungen in Russland, die nach Chruschtschow benannten Reformen, auf der Agrarfrage beruhen wie früher alle anderen Wenden, die sich unter ganz anderen Bedingungen vollzogen: Die NEP, die Liberalisierung der Agrarpolitik 1925, dann die Wende von 1929–30. Man muss allerdings darauf hinweisen, dass die letzte Veränderung im kapitalistischen Russland Nr. 2 noch andere Probleme als nur die Agrarpolitik der Regierung betroffen hat.

Mit seinem bäuerlichen Proletariat, das die Stalin’sche Macht ohne Zögern unter eine Arbeitsgesetzgebung stellte, die nichts zu wünschen übrig liess im Vergleich zur Gesetzgebung, die in der Morgendämmerung des Kapitalismus im Vaterland dieser Produktionsweise (in England) geherrscht hatte; mit seinen riesigen Kolchosmassen, die diese Macht hofierte, aber dennoch im selben Elend und dazu noch in der Idiotie der Kleinproduktion behielt, ging das kapitalistische Russland Nr. 2 erfolgreich durch die Prüfung des zweiten imperialistischen Krieges. Dieser Krieg, der die russische Bevölkerung 23 Millionen Menschenleben kostete (das »wertvollste Kapital« Stalins), lieferte damit wohl die blutigste Widerlegung der irrsinnigen Doktrin von der Emanzipation des Proletariats und der Werktätigen im nationalen Rahmen. Aber das Land, das aus dem Wiederaufbau der Jahre 1947–55 (IV. und V. Fünfjahresplan) hervorging, war keineswegs mehr das Land aus der Epoche der Industrialisierung. Die Vergleichsmassstäbe zu den Jahren 1929–30, d. h. zu dem Beginn der Offensive der kapitalistischen Revolution, fehlen zwar, dennoch spricht allein schon die Progression der städtischen Bevölkerung eine beredte Sprache: Sie stieg von 56 Millionen im Jahre 1938 auf 61 Millionen 1940, 87 Millionen 1956 und 99,3 Millionen 1958. Weil die Zuwachsrate der Bevölkerung auf dem Lande höher liegt als in den Städten, geht die Abnahme der Landbevölkerung langsamer vor sich als das städtische Wachstum: Von 115 Millionen 1938 geht die Landbevölkerung 1956 auf 113 Millionen und 1958 auf 109 Millionen zurück. Interessanter ist die Zusammensetzung der aktiven Bevölkerung; sie lässt auf eine gesellschaftliche Arbeitsteilung schliessen, die an sich schon die These von der Existenz des »Sozialismus« in Russland völlig zerstört[217] und darüber hinaus eine genaue Kennzeichnung der vom russischen Kapitalismus erreichten Entwicklungsstufe erlaubt:

Aktive Bevölkerung 1958: 90 000 000 (45,4 % Der Gesamtbevölkerung)
Landwirtschaft 42 % (38 Millionen)[218]
Industrie 31 % (28 Millionen)[219]
Dienstleistungen 23 %
Handel 5 % (aufgerundet)

Es handelt sich um einen reifen Kapitalismus, hat er ja die Schwelle der 50 %igen Beschäftigung der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft hinter sich; es handelt sich aber auch um einen jungen Kapitalismus, denn der Anteil der Bauernschaft ist noch sehr hoch (zum Vergleich: im selben Jahr betrug er 12 % in den USA und 28 % in Frankreich) und der Anteil des Dienstleistungssektors noch sehr gering (23 % gegen 51 % in den USA und 35 % in Frankreich). Was den geringen Anteil des Handels angeht (5 % gegen 16,5 % in den USA und 13,4 % in Frankreich), so hängt er mit der schwachen Zirkulation von Konsumtionsgütern und nicht mit einem hypothetischen Sozialismus zusammen; wenn er nach der Bemerkung eines bürgerlichen Publizisten »spartanischen Sitten« entspricht, so sind es nicht diejenigen eines proletarischen Regimes, das den hemmungslosen und idiotischen Konsumfimmel der westlichen Gesellschaft sicherlich mit Verachtung überwinden würde, sondern diejenigen, die der kapitalistische Industrialismus Stalins ohne Schwierigkeiten einer Bevölkerung aufzwingen konnte, deren Bedürfnisse geringfügig waren, war sie ja zum Zeitpunkt der Revolution wenig »zivilisiert« wobei der berühmte »eiserne Vorhang«, der nicht nur die ausländischen Waren, sondern auch jede Information über die Welt ausserhalb des »sozialistischen Paradieses« zurückhielt, sie im Übrigen vor gefährlichen Gelüsten schützte. Mag es auch noch arm sein, so verfügt dieses Land im Vergleich zu 1929–30 doch über eine weit grössere Produktionskapazität. Das beschränkt sich nicht nur auf die intensive Mechanisierung, die man den Wachstumszahlen über die Schwerindustrieproduktion ohne Schwierigkeit entnehmen kann, und auch nicht nur auf die zahlenmässige Vergrösserung der Arbeiterschaft (so dürfte es 1958 23–24 Millionen Arbeiter gegeben haben gegenüber 11 590 000 im Jahre 1928, wenn die Zahl von 4 bis 5 Millionen »Industriekadern« und »-technikern« richtig ist. Es geht auch um qualitative Veränderungen, die bei der zweiten Generation einer vor kurzem aus dem Land zugewanderten Stadtbevölkerung immer zu beobachten sind. Im Falle Russlands reichten sie immerhin dazu aus, die Abschaffung der unter Stalin geltenden drakonischen Arbeitsgesetzgebung zu erlauben, jener Gesetzgebung, die von der Notwendigkeit herrührte, ungeheure Menschenmassen unter die Disziplin der Industriearbeit zu zwingen: Millionen Bauern, die an das langsamere Tempo der überlieferten landwirtschaftlichen Arbeiten gewohnt waren, »entwurzelte Dorfbewohner, Städter wider ihren Willen, verzweifelt, anarchisch und hilflos […] die mit dem groben Individualismus der Muschiks in die Fabriken kamen«, was sich der Stalinismus zunutze machte, indem er »die Industrierekruten anstachelte, miteinander um Zulagen, Prämien und Akkordlöhne zu konkurrieren«[220] oder sie unter der Fuchtel des »stachanowistischen Wettbewerbs« hielt. Unter »qualitativen Veränderungen« ist die Gesamtheit der Bedingungen zu verstehen, die mindestens ebenso viel wie die Anwendung von Maschinen dazu beitragen, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen: Alphabetisierung, Disziplinverbesserung infolge des Industrie- und Stadtlebens usw. Auch sie gehören zu jenen »materiellen Voraussetzungen des Sozialismus«, die die Bolschewiki, solange sie auf die Weltrevolution warten mussten, zu schaffen gedachten, allerdings ohne in die Schande und Grausamkeit des Kapitalismus zurückzufallen; sie stellen aber keine »sozialistischen Errungenschaften« dar, o nein, sie sprengen nicht den Rahmen jenes bürgerlichen Fortschritts, der in allen Ländern die Industrialisierung begleitet hat. Aber früher wurde dieser Fortschritt niemals mit der knechtischen Ehrfurcht angebetet, die ihm die Pseudomarxisten unserer Tage im Fahrwasser der Sowjetherren bezeugen.

Die erste grundlegende Konsequenz dieses bürgerlichen Fortschritts, verbunden mit den komplexen Folgen des Krieges, war die, die Aufrechterhaltung des »eisernen Vorhangs« unmöglich zu machen. Stalin wähnte, hinter dem Schutz dieses »Vorhanges« dem alles verschlingenden kapitalistischen Merkantilismus widerstehen zu können, aber je entwickelter eine Nationalwirtschaft ist und je grösser zugleich die Bedürfnisse der Bevölkerung sind, desto mehr bedarf sie der Weltwirtschaft, desto weniger kann sie das Joch der Wirtschaftsautarkie ertragen[221].

Auf politischer Ebene äusserte sich diese Konsequenz in der »Theorie« der »friedlichen Koexistenz« (die in der Klassenpolitik seit langem praktiziert wurde, wenn auch nicht unbedingt in den zwischenstaatlichen Beziehungen); auf wirtschaftlicher Ebene äusserte sie sich durch eine spektakuläre Wende in der Entwicklung des russischen Aussenhandels. Nun, selbst wenn die absoluten Werte dieses Aufschwungs des russischen Welthandels zunächst sehr bescheiden blieben, so brachte die Tendenzwende doch eine unterschwellige Strömung zum Ausdruck, die dazu bestimmt war, das mühsame Lügengebäude des stalinschen »Sozialismus« fast gänzlich zu zertrümmern. Das Bild des sowjetischen Aussenhandels sieht folgendermassen aus: Von 1932 bis 1945 spektakulärer Sturz mit einer durchschnittlichen Jahresabnahme von 7 % (die Einfuhrzahl von 2514 Millionen Rubel für 1945 entspricht den geliehenen und vorgeschossenen Kriegslieferungen); von 1946 bis 1961 (wir verfügen nicht über vergleichbare Zahlen für spätere Jahre) ein ebenso spektakulärer Wiederaufschwung zu einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich 15 % :

Volumen des Aussenhandels der UdSSR
Jahr Ausfuhr Einfuhr Total
1913 1192 1078 2270
1932 451 273 662
1933 389 273 662
1934 328 182 510
1935 288 189 477
1936 244 242 486
1937 295 129 524
1938 230 245 475
1939 104 167 271
1940 240 245 485
1945 243 2514 2757
Hier wird die Fahrtrichtung umgekehrt:
1946 588 692 1280
1947 694 672 1364
1948 1177 1102 2279
1949 1303 1340 2643
1950 1615 2310 2925
1951 2061 1792 3853
1952 2511 2255 4766
1953 2653 2492 5145
1954 2900 2864 5764
1955 3084 2754 5838
1956 3254 3251 6505
1957 3943 3544 7487
1958 3868 3915 7783
1959 4897 4566 8463
1960 5006 5066 10 072
1961 5399 5249 10 648
  (in Millionen Rubel von 1961)

Im Zusammenhang mit der Wiederherstellung von Handelsbeziehungen zum Ausland, d. h. zum kapitalistischen Weltmarkt, ist in Russland seit 1956 eine merkwürdige Veränderung zu beobachten: Nach einem Vierteljahrhundert »Sozialismus in einem Land« verlangt man von allen Seiten eine »Rückkehr zur NEP!« Was darunter zu verstehen ist, liegt auf der Hand: Es handelt sich keineswegs um eine Linderung des Druckes, den die Erfordernisse der Kapitalakkumulation auf das russische Proletariat oder auf die russische Kleinbauernschaft ausüben – diese Zeiten, in denen man von proletarischen Erwägungen ausging, sind längst dahin und werden nie wieder zurückkommen.

Es handelt sich um die Rationalisierung des Akkumulationsprozesses im kapitalistischen Sinne. Die Losung des Vorrangs der Schwerindustrie bleibt in voller Gültigkeit bestehen, zumal die Verpflichtung, das entwickeltste kapitalistische Land (die USA) »einzuholen und zu überholen« bei Strafe der ökonomischen und dann der militärischen Zerdrückung ebenso bestehen bleibt. Die Tatsache, dass dieses Rennen von vornherein verloren ist[222], reicht mitnichten aus, Russland zum Aufgeben zu verleiten. Im Gegenteil, jene Unterlegenheit, die Russland als tödlich empfindet, diktiert die neue Losung: »Senkung der Produktionskosten!«. Wie davon besessen ergreift es seit einem Jahrzehnt all jene Massnahmen, in denen bürgerliche Geistesschwäche eine »Wiedereinführung des Kapitalismus« erblickt – als hätte unter Stalin etwas anderes als das unpersönliche Staatskapital geherrscht!

Das Wesen der zunehmend bitteren Vorwürfe gegen die »alte Planwirtschaft«, bzw. das Wesen der durchgeführten Reformen lässt sich mit wenigen Worten beschreiben: Solange es darum ging, Russland mit einem früher völlig fehlenden Produktionsapparat zu versehen, taugten die zentralistischen, autoritären und administrativen Methoden sehr gut, während sie jetzt zu einem Hindernis auf dem Wege der weiteren Wirtschaftsentwicklung wurden. Die Wirtschaftsreform von 1957 fing dementsprechend damit an, die vertikale gesamtstaatliche Leitung durch eine horizontale Regionalleitung zu ersetzen. Das bedeutet die Abschaffung von 25 (von insgesamt 35) zentralen Industrieministerien und die Unterordnung der Betriebe unter lokale Behörden, die Sownarchosen, deren Zahl sich in ganz Russland auf 104 erstreckt. Diese Massnahme ist vom kapitalistischen Standpunkt aus völlig berechtigt: Die Anmassung des Zentralstaates, die Tätigkeit von nunmehr 200 000 Industriebetrieben und über 100 000 Bauunternehmen im Einzelnen zu kontrollieren, konnte nur noch zur administrativen Anarchie führen. Es geht nicht, wie im Sozialismus, darum, verfügbare Mittel und Bedürfnisse zentral zu erfassen, um die sozialen Aufgaben nach Massgabe der Möglichkeiten und des gesellschaftlichen Nutzens aufzuteilen, bzw. die jeweiligen örtlichen Bedingungen nach und nach anzugleichen und Missverhältnisse zu beseitigen. Es geht lediglich darum, die Produktion nicht zu hemmen. In dieser Optik bringt die zentrale Kontrolle, die unter dem Sozialismus unabdingbar wäre, keinen Nutzen mehr; im Gegenteil, wenn die Anzahl der Produktionseinheiten eine bestimmte Grösse erreicht, verwandelt sie sich in einen Bremsfaktor. Das System der Sbyts, d. h. der Vermittlungsbehörden, an die sich alle Unternehmen zu wenden hatten, wenn sie in Beziehung untereinander treten wollten, war besonders verhasst. Solange das Volumen dieser Handelsbeziehungen noch gering und der Warenverkehr zwischen den Unternehmen qualitativ noch wenig differenziert war, stellten die Sbyts ein gutes Mittel zur optimalen Verteilung der vorhandenen Produktionsmittel dar. Die Steigerung des Austauschvolumens und vor allem die zunehmende Differenzierung des Produktionsmittelbedarfs der jeweiligen Betriebe (und eine solche Differenzierung ist den Bürokraten nicht zugänglich, denn von Technologie verstehen sie nichts, was andererseits nicht heissen soll, dass sie von Volkswirtschaft viel verstehen) verwandelte die Sbyts in das beste Mittel, um die Unternehmen daran zu hindern, die benötigten vervollkommneten oder seltenen Maschinen bei anderen, einschlägigen Unternehmen schnell und ohne Komplikationen zu beschaffen. So müssen die Sbyts ins Museum des »Sozialismus in einem Land« wandern, wo sie an der Stelle der Zentralministerien stehen werden.

Das ist aber nicht alles. Man wirft ja den autoritären Methoden vor, sie hätten einen rein administrativen und antiökonomischen Charakter: Sie beruhten viel zu sehr auf Gehorsam gegenüber den hierarchischen Vorgesetzten und liessen wenig Spielraum für die Suche nach einer kapitalistischen Wirtschaftsrationalität im Sinne der Rentabilität der einzelnen Betriebe und nicht der gesamten Volkswirtschaft. Das System des Hin-und-her von der zentralen Planstelle zu den Unternehmen und von den Unternehmen zu der zentralen Planstelle löste sich zunächst in einem Duell zwischen den Unternehmen und der zentralen Leitung auf: Die einen versuchten, den am leichtesten durchführbaren Plan durchzusetzen, die anderen, ein hohes Plansoll aufzuzwingen. Der schliesslich gefundene Kompromiss hatte nicht nur nichts »Wissenschaftliches« an sich, sondern führte vielmehr dazu, dass die bestfunktionierenden Unternehmen geradezu bestraft wurden. Statt eine gründliche Ausnutzung der jeweiligen Produktionskapazität herbeizuführen, verleitete dieses System im Übrigen die Unternehmen dazu, einen Teil dieser Kapazität »in Reserve« zu halten, um eventuellen Erhöhungen der gerade laufenden Staatsaufträge nachkommen zu können. Lediglich von der Sorge gelenkt, den Plan zu erfüllen, ja zu übertreffen, kümmerten sich die Betriebe nicht um eine bessere Auslastung ihrer Anlagen, denn in dieser Beziehung konnten sie besser oder schlechter abschneiden – dies hatte keinen Einfluss auf die staatliche Zuteilung der für die Produktionserweiterung erforderlichen Mittel. Da die Ausrüstungen vom Staatshaushalt finanziert wurden ohne eine auch nur gering bedeutende Beteiligung der Unternehmen selbst, waren diese weder für die eigene Vergrösserung noch für die eigene Modernisierung verantwortlich. Das Prinzip der Rentabilität der einzelnen Produktionseinheiten wurde zwar stets verfochten, konnte sich aber unter solchen Umständen in der wirklichen Betriebspraxis nicht durchsetzen: Den Betrieben ging es einzig und allein darum, solche Aufgaben zu erhalten, die leichter zu erfüllen waren oder deren Erfüllung, bzw. Übererfüllung der Betriebsleitung, ja der Belegschaft die grössten materiellen Vorteile versprachen. Auch auf dem Lande wollte man diese »Wirtschaftsrationalität« reinsten bürgerlichen Wassers erreichen. Die Kolchosen kümmerten sich früher hauptsächlich um die Einhaltung der Produktionsmengen für die Zwangslieferungen; sie betrieben eine wahrhaft skandalöse Verschwendung der staatseigenen Produktionsmittel. Jetzt wurden sie gezwungen, den Maschinenpark der staatlichen Stationen zu erwerben; dieser soll damit zum Kapital der Kolchose werden, für das sie allein die Verantwortung trägt. Man hofft, die Kolchosen dadurch zur »gesunden« Gewohnheit erziehen zu können, ihre »Kosten« zu kalkulieren, Sparmassnahmen zu treffen, bzw. die Verschwendung an Produktionsmitteln einzuschränken. Dasselbe erwartet man auch von einer Erweiterung des Verantwortungsbereiches der Direktoren der Industrieunternehmen.

Die Krönung des ganzen neuen Gebäudes liegt in einer Politik der »ehrlichen Preise«, deren Ausgangspunkt wohl nicht banaler sein könnte: Wenn die staatlich festgesetzten Preise systematisch unter den Selbstkostenpreisen liegen – und dies gilt vor allem für die Landwirtschaft dann hat der Betrieb kein Interesse daran, die Produktionskosten zu senken, zieht er ja keinen Profit aus seinen Anstrengungen. Im Falle der Kolchose begünstigt dieser Mangel an Interesse den persönlichen Nebenbetrieb zulasten der Kollektivwirtschaft, was eine Fortsetzung »unserer« Versorgungskrise, die mit der »Würde eines zivilisierten Landes« unvereinbar ist, zur Folge hat. Kurz und gut, seit über zehn Jahren mischen sich in die Würdigung des »grossen Werkes von Stalin« die Klageseufzer über den überholten Charakter seiner Methoden, bzw. die Forderung nach den altbekannten, »gesunderen« Wirtschaftsprinzipien des klassischen Kapitalismus.

Aus diesem Anlass wiederholt sich die alte und völlig überflüssige Diskussion über die »historischen Notwendigkeiten«. Schwörend, dass der russische Sozialismus der russische Sozialismus bleibt, beugen sich alte Stalinisten mit zerrissener Seele vor ihnen. Vom Standpunkt der historischen Notwendigkeiten des Kapitalismus besteht kein Zweifel darüber, dass die »Prinzipien«, die sie über Bord werfen, in der Tat hinfällig geworden sind. Den Marxisten und Revolutionären stellt sich jedoch ein ganz anderes Problem, das eigentlich nichts damit zu tun hat, ob die Stalinisten oder deren Kritiker Recht haben, ob Zentralisation oder Dezentralisation, Autoritarismus oder Liberalismus, materieller Anreiz oder Zwang besser sind. Marxisten und Revolutionären geht es nicht um solche restlos langweiligen Auseinandersetzungen: Die authentisch kommunistische Auffassung von der Wirtschaftsrationalität unterscheidet sich völlig vom Rationalitätsverständnis, das in Russland den Ton angibt, unterscheidet sich von ihm so radikal, wie der Sozialismus sich vom Kapitalismus unterscheidet. Mit anderen Worten, es ist die von den Marxisten und Revolutionären verkörperte »historische Notwendigkeit« selbst, die sich von derjenigen unterscheidet, der die Sowjetunion gehorcht. Und vom Standpunkt dieser Rationalität, vom Standpunkt dieser historischen Notwendigkeit schneiden die poststalinistischen Kritiker des Stalinismus so schlecht, vielleicht sogar schlechter ab, als die Stalinisten selbst. Um es kurz zu sagen, die »Rationalität« dieser »Neo-Sozialisten-in-einem-Land« beschränkt sich darauf, das konstante Kapital ökonomischer einzusetzen, um den Fall der Profitrate zu verlangsamen und aufzuhalten, um damit auf dem Weltmarkt den »friedlichen Wettbewerb« mit den entwickeltesten kapitalistischen Ländern unter günstigeren Bedingungen aufnehmen zu können.

Wir proletarischen Kommunisten erkennen eine einzige »Rationalität« als solche an, und diese heisst Abschaffung der gigantischen Ausplünderung und Vergeudung der lebendigen Arbeit, die den Kapitalismus immer und überall charakterisiert.

Die eine »Rationalität« bedarf des Respekts vor dem Wertgesetz, sie bedarf der Wirtschaftsfreiheit, der Konkurrenz, kurzum der Anarchie des Marktes und der schmutzigen bürgerlichen Vorteilssuche; die andere verlangt die Abschaffung dieser Freiheit, dieser Konkurrenz und damit dieser Anarchie, sie verlangt, dass an Stelle des Wertgesetzes das Gesetz des gesellschaftlichen Nutzens tritt, an Stelle des »Anreizes« die Solidarität; die eine erzeugte die monströse »Theorie« Chruschtschows vom » merkantilen Sozialismus«, nachdem sie die nicht weniger monströse »Theorie« Stalins vom »nationalen Sozialismus« erzeugt hatte; die andere führt die kleine internationale Partei von heute zur bedingungslosen Verteidigung der internationalistischen und antimerkantilen Prinzipien, denen die Bolschewiki niemals abschworen; die eine führt zu einem dritten imperialistischen Krieg; die andere wird der internationalen Arbeiterklasse den Weg der Revolution und der proletarischen Diktatur aufzwingen; und wenn deren Stunde wieder schlagen wird, dann wird es nicht nur die Stunde der Vergeltung des roten bolschewistischen Oktobers sein, der in der Zwangsjacke der hinter dem Schutzwall des »nationalen Sozialismus« wiederaufblühenden kapitalistischen Verhältnisse langsam erstickte: Es wird die Stunde einer totalen Emanzipation sein, der Emanzipation des Proletariats und mit ihm der ganzen Menschheit – der Abschluss dieser barbarischen Vorgeschichte, der kein bürgerlicher und kapitalistischer Fortschritt jemals ein Ende wird setzen können.

Notes:
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  1. Unzählige Leser werden diese »Erklärung« in der Schrift »Die unvollendete Revolution« des »Marxisten« Isaac Deutscher gefunden haben (S. 27 der Taschenbuchausgabe in der Fischer Bücherei, Frankfurt 1970). Man muss Deutscher das »Verdienst« zugutehalten, die unhaltbarsten Thesen des Opportunismus in aller Reinheit zu formulieren und auf den üblichen Rückgriff auf die Demagogie, mit welcher sie im Allgemeinen umgeben werden, zu verzichten

  2. Die weiter oben zur einfacheren Beweisführung zitierte These impliziert ja, dass die Zerstörung der bolschewistischen Partei (die nur von ausgekochten Stalinisten geleugnet wird) keine Zerstörung der proletarischen Klassenpartei bzw. keine Entfernung des Proletariats von der Macht bedeutet habe, sondern lediglich die Beseitigung der bis dahin vorherrschenden Strömung, die durch eine Mischung aus Kommunismus und bürgerlich-revolutionärem Demokratismus gekennzeichnet sei. Behalten wir einen klaren Kopf und schauen wir uns an, was daraus folgt. Wenn das stimmen sollte, dann hätte die politische Konterrevolution von 1927–29 im Hinblick auf den Sozialismus keine grössere Tragweite gehabt als z. B. die Ablösung der Jakobinerrepublik (politische Form der demokratischen Revolution durch das bürgerliche Empire Napoleons (man kann hier von den Übergangsstufen absehen). Man könnte dann zwar in beiden Fällen diejenigen, die über die Geschichte zu meditieren pflegen, ruhig dem Gedanken nachgehen lassen, ob diese politische Änderung nun »bedauernswert« war oder nicht; in keinem der beiden Falle hätte diese Änderung jedoch die ökonomische und soziale Revolution (d. h. der Sozialismus im Falle des stalinistischen Russlands und der Kapitalismus in Napoleons Frankreich) daran gehindert, ihren Siegesmarsch fortzusetzen, was ebenso für alle Nachfolgeregimes einschliesslich des heutigen poststalinistischen gelten müsste. Aber dann könnte man den weltweiten revolutionären Internationalismus der bolschewistischen Partei nicht mehr als eine unabdingbare Charakteristik der Klassenpartei, d. h. als ein unantastbares Prinzip des kommunistischen Programms betrachten. Der revolutionäre Internationalismus wäre damit eine Art Schmuckgegenstand der Lenin’schen Republik gewesen, dasselbe, was die jakobinische Tugend in der Republik Robespierres bedeutet hatte und so überflüssig wie diese: Der Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale; der Misskredit, in den der Kommunismus weltweit geraten ist; der zweite imperialistische Krieg und die Unfähigkeit des Proletariats, ihm ein Ende zu setzen; die ein Vierteljahrhundert danach immer noch herrschende politische Desorganisation des Proletariats, die dem zeitgenössischen Kapitalismus die schönsten Tage beschert – das alles soll nichts zählen oder wird als nebensächlich betrachtet. Es fragt sich nur, welche Doktrin, so konservativ und traditionalistisch sie auch sein mag, erbärmlicher als eine solche mondäne Verwässerung des revolutionären Marxismus sein könnte.

  3. Deutscher offenbart seinen unglücklichen Lesern (die durch keine Parteitradition und keine Klassentheorie vor seiner Sophistik geschützt werden, da ja die Klassenpartei heute extrem schwach ist und mit ihrer Propaganda nur eine verschwindende Anzahl Proletarier erreichen kann), dass Eugen Varga, der offizielle Ökonom des Regimes, sich in den 1930er-Jahren nicht davor scheute, im privaten Kreise zuzugeben, die Theorie des »Sozialismus in einem Land« sei eine »Trosttheorie«. Damit soll der Leser offenkundig zur Schlussfolgerung ermuntert werden, dass es schliesslich egal ist, wie man darüber denkt, da das vollbrachte Werk ja sowieso proletarisch war. Das heisst so viel, als dass die Rolle der Partei nichts zählt, welche nicht nur die Arbeiterklasse, sondern tendenziell die ganze Gesellschaft erziehen und emanzipieren soll, statt sie – wie bisher alle Klassenherrschaften – zu belügen und zu betrügen. Das heisst so viel, als die in Wirklichkeit grundlegende Bedeutung der Theorie des »Sozialismus in einem Land« bei der Zerschlagung der internationalen proletarischen Bewegung (der im Namen dieser »Theorie« die verheerendsten politischen Wenden aufgezwungen wurden) völlig zu leugnen. Nun war diese Frage seit dem XIV. Parteitag von 1925 sehr deutlich gestellt worden. Obwohl er niemals ein Nationalkommunist gewesen ist, entgegnete Bucharin der Linken in übelster opportunistischer Manier: »Man will den neuen Schichten der Arbeiterklasse erklären, dass wir nicht den Sozialismus sondern den Staatskapitalismus aufbauen, dass wir es nicht fertigbringen werden, die Schwierigkeiten, die sich aus unserer mangelhaften Technik und aus der Verspätung der Weltrevolution ergeben, zu überwinden – gerade diese Geistesstimmung müssen wir zurückweisen und bekämpfen.« Sinowjew gab darauffolgende schöne Antwort, die noch deutlicher ist als viele Ausführungen des grossen Trotzki, leider aber nicht so bekannt wie diese: »Die Arbeiter haben nicht das Bedürfnis, durch schöne Phrasen ermuntert zu werden. Sie kennen sehr gut die starken und die schwachen Seiten unserer Wirtschaft, insbesondere der Staatsindustrie. Sie wissen genau, dass wir diese Betriebe erobert und ihre Ausbeuter verjagt haben […] aber sie wissen ebenso gut, dass ihre Fabriken an den Markt gebunden sind. Sie erkennen sehr deutlich alle Schatten des Bildes, und es ist nutzlos, ihnen die Pille zu vergolden […] Es ist klar, dass es bei uns einen Kapitalismus und einen Staatskapitalismus gibt. Man muss das den Arbeitern offen sagen. Wenn wir das nicht tun, dann werden wir ihnen als Lügner vorkommen, und damit werden sie Recht haben. Das ist eine ernste politische Frage, über die man nicht hinweggehen kann. Auf diesem Gebiet wird es niemandem gelingen, den Leninismus so schnell zu revidieren

  4. 1929 betrug die Investition in der Industrie 7,6 Milliarden, eine im Übrigen äusserst niedrige Summe. Wir wissen nicht, welcher anteilige Investitionsumfang erforderlich wäre, um die Landwirtschaft mit den 250 000 Traktoren zu versehen, die damals für notwendig erachtet wurden. Der Besitz des Kulakentums in Höhe von 400 Millionen Rubel war in dieser Beziehung jedoch auf jeden Fall unbedeutend.

  5. Von diesem groben und verteilerischen Kommunismus sagt Marx, sein Wesen sei der Neid, also die Kehrseite und nicht die Negation des bürgerlichen Eigentums.

  6. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die hysterischen Ausrufe zur »Ausrottung« der Kulaken (die man übrigens, wie Trotzki erzählt, ins Zuchthaus steckte, überall verfolgte und denen man keine ökonomische Aktivität, nicht einmal als Industriearbeiter erlaubte, so dass sie mitunter zu Banditen wurden) mit den klaren Argumenten zu vergleichen, mit denen Lenin 1921–22 die Verpachtung der russischen Betriebe an ausländische Kapitalisten verteidigte, die bereit wären, ihr Kapital in Russland anzulegen, oder mit seinen sarkastischen Bemerkungen gegen die Genossen, die damit prahlten, den »Kommunismus mit ihren eigenen Händen aufbauen« zu können. Lenins Antikapitalismus steht über jedem Verdacht: Es handelt sich um einen modernen und proletarischen Antikapitalismus und nicht um eine Ideologie utopischen oder reaktionären Gehalts.

  7. Zitiert nach P. Broué »Parti bolchévique«.

  8. Nach 1929 hat man mit einer neuen Arbeiterklasse zu tun, die absolut nicht mehr mit dem Proletariat des Oktobers identisch ist, jenem »Wunder der Geschichte«, wie es Preobraschenski einmal in einem Augenblick der Rührung zu Recht bezeichnete. Um den ungeheuerlichen politischen wie sozialen Rückschritt der Arbeiterklasse nach den Bürgerkriegsjahren zu verstehen, muss man sich diese gigantische Mutationserscheinung stets vor Augen halten.

  9. Man muss darauf hinweisen, dass Lenin, der in seinem »Testament« Trotzki eben dessen »übermässige Vorliebe für rein administrative Massnahmen« vorwarf, einer Erweiterung der Befugnisse des Gosplans (die von Trotzki gefordert wurde) sehr lange widerstand. In seiner Kritik der stalinistischen Planung wird Trotzki selbst später die mutmasslichen Beweggründe Lenins untersuchen: Keine behördliche Autorität ist imstande, über den Rahmen der tatsächlich gegebenen ökonomischen Bedingungen zu gehen, der Wille allein kann noch keine sozialistische Kontrolle der Volkswirtschaft durchsetzen. In seinem Kampf gegen die »Planer« stand Bucharin deshalb der Position Lenins und dem Marxismus näher als Trotzki selbst: Andererseits darf man nicht vergessen, dass Trotzki in seiner Kritik an den Ungereimtheiten des ersten stalinistischen Fünfjahresplanes den Kern der Argumente Bucharins übernahm. Wie wir im Hinblick auf die Auseinandersetzung von 1923 bemerkten, hat Trotzki der Staatsplanung niemals jene magischen Eigenschaften zugeschrieben, die der Stalinismus darin sah. Der in der Folge zitierte Artikel Trotzkis markierte also keine »Wende« im eigentlichen Sinne des Wortes: Er blieb nach wie vor im Rahmen des marxistischen Determinismus.

  10. Die Ironie richtet sich selbstverständlich gegen den stalinschen Voluntarismus, der sich einbildete, allein dank der Staatsgewalt eine gesellschaftliche Kontrolle über die Produktion durchsetzen zu können. Diese Kontrolle ist andererseits im Gegensatz zu den impliziten oder expliziten Auffassungen der poststalinistischen Sowjetreformer keineswegs ein an sich unmögliches Ding; sie setzt aber eine Verallgemeinerung der assoziierten Arbeit und das Aufhören des vom Bedürfnis erzwungenen Kampfes Aller gegen Alle voraus.

  11. Daraus geht klar hervor, dass Trotzki sich nicht einbildet, die Bolschewiki würden, wären sie noch an der Macht, die gesellschaftliche Kontrolle der Warenproduktion durchführen können. Trotzki richtet sich in seiner Kritik gegen die Illusion, die der Stalinismus verbreiten möchte.

  12. 1932, als der zitierte Artikel geschrieben wurde, erkannte Trotzki bekanntlich nicht, dass die proletarische Diktatur gestürzt worden war. Das mindert aber nicht den Wert seiner Kritik an den Prahlereien des »Sozialismus in einem Land«.

  13. Die Lebensmittelproduktion gehört zum Sektor B. Wir werden sie gesondert behandeln, weil sie, nicht nur alle Fragen, die sich aus der obigen Tabelle ergeben, wieder stellt, sondern auch die Frage der Reaktion der Kolchosbauern auf die ökonomische Unterdrückung durch das staatseigene industrielle Grosskapital.

  14. Wenn man bedenkt, dass nach der »kühnen« Konstruktion Deutschers die demokratisch-bürgerliche Revolution »zerstört« wurde, um dem Fortschritt der »rein kommunistischen« Revolution Platz zu machen, mutet es etwas merkwürdig an, dass die Sowjetherren selbst ganz offen zugeben, die Oktoberrevolution habe schliesslich vor allem der Bauernschaft materiell »genutzt«, deren Lebensstandard sich um 11 % erhöht haben soll, wohingegen die Arbeiterschaft mit 7 % vorliebnehmen musste.

  15. Der Sozialismus wird zugleich eine Rationalisierung und eine Erhöhung der Konsumtion bringen; infolge der Abschaffung der Klassen mit auseinandergehenden Interessen wird er jedoch vor allem eine Harmonisierung des gesellschaftlichen Lebens bedeuten. Zweifellos erhöht der Kapitalismus in seiner letzten und parasitären Phase zeitweise den Massenverbrauch; allerdings werden solche Perioden von anderen abgelöst, wo die Konsumtion infolge von Kriegen und Krisen wieder sehr tief sinkt. Man darf auch nicht vergessen, dass der Kapitalismus die Bedürfnisse noch mehr erhöht als die wirkliche Konsumtion. Andererseits, wenn er in einem bestimmten Masse die Arbeitermassen korrumpiert, so unterscheiden sich Bedürfnisse und Verbrauchsstruktur dieser Massen immer sehr deutlich von den in derselben Zeit vorhandenen Bedürfnissen und der Verbrauchsstruktur der Grossbourgeoisie, ja selbst der Mittelklassen, denn in diesen beiden letzten Fällen steht die schamlose Verschwendung in einem direkten Zusammenhang mit der Sorge um das soziale Ansehen. Betrachtet man sie mit den Massstäben der Jahrhundertwende, so können die heutigen Bedürfnisse der Arbeitermassen und selbst deren Konsumtion wohl »bürgerlich« erscheinen, ein solcher Vergleich hat aber kaum einen Sinn. Was hier zählt, ist, dass der bürgerliche Fortschritt den ökonomischen Antagonismus zuspitzt und nicht abstumpft, sowie dass die heutigen Arbeiter keineswegs eine Kopie der Bourgeois der Jahrhundertwende sind, sondern mit oder ohne Autos, Kühlschränken und dergleichen Bagatellen die Unterdrückten und Ausgebeuteten von heute. Jede andere Erwägung ist an sich schon verdächtig. Was soll man aber erst sagen, wenn zum einen beschleunigte Mechanisierung mit Sozialismus, zum anderen Konsumtionserhöhung mit… Kapitalismus gleichgestellt werden? Eine solche Gleichstellung ist, gelinde gesagt, eine Gemeinheit. Nebenbei gesagt bildet die »beschleunigte Mechanisierung« lediglich einen Aspekt der Entwicklung der Produktivkräfte; in der marxistischen Auffassung bestehen diese im Wesentlichen in den Produktionsfähigkeiten der Menschen, die der Kapitalismus infolge der Abstumpfung und der Fachidiotie auf einem niedrigen Niveau hält.

  16. Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Herr Bettelheim hat sich inzwischen dem Druck der Tatsachen gebeugt, freilich um sich noch besser dem Druck der bürgerlichen Ideologie beugen zu können. Siehe seine »Klassenkämpfe in der UdSSR«, deren erster Teil bereits in Deutsch vorliegt und deren zweiter Teil vor kurzem in Frankreich erschien.

  17. Für die Produktion von Pflanzenölen, Nahrungsfetten und Fleisch geht der Satz von 33 % bis 88 %; bei Tabak und Branntwein beträgt er 100 %, das ist aber nicht weiter anstössig.

  18. Der zaristische Imperialismus ist infolge seiner halbkolonialen Abhängigkeit gegenüber den Ententeländern und des unglaublich archaischen Charakters seiner Armee keineswegs als ein moderner Imperialismus zu betrachten!

  19. Diese Zahlen wurden von J. Chombart de Lauwe in seinem gut dokumentierten Werk »Les paysans soviétiques« (1961) veröffentlicht. Wir haben diesem Werk die Angaben über die Hektarerträge und die qualitative Struktur der russischen Landwirtschaft entnommen.

  20. Für 1965 haben wir folgende Zahlen (Indexe): Rinder 110 (+10 %), Kühe 95 (−5 %), Schafe 103 (+3 %), Schweine 180 (+80 %).

  21. Die ausserökonomische und aussergeschichtliche Auffassung, derzufolge diese Revolution – die die Fleischnahrung zusätzlich zur überlieferten Getreidenahrung eingeführt und dann verallgemeinert hat – verheerende Folgen für die Gesundheit der Menschen hatte, kann man hier getrost beiseitelassen: Es handelt sich um die Theorie der »Vegetarier«, eine Variante des »bürgerlichen Sozialismus«, über die sich schon Marx und Engels lustig machten.

  22. Die andere Reihe liefert folgende Zahlen für die Investitionen in der Industrie: 1929 = 7,6 Milliarden (gegen 2,615 in der obigen Tabelle) – 1930 = 18,7 – 1931 = 18,4 – 1932 = 21,6 – 1933 = 18 – 1934 = 23,7 – 1935 = 27,8 – 1936 = 33,8 – 1937 = 38,1 (anstelle von 13,928!) – 1939 = 40,8 – 1940 = 43,2 Milliarden. Die Quellen für beide Zahlenreihen sind sowjetisch, und der Grund für die riesigen Abweichungen ist uns nicht bekannt. Bettelheim, der seine Zahlen einem Werk von 1936 (»SSSR Strana sotsializma«) entnahm, nennt selbst einen Anteil von 25 % für das Jahr 1931, bzw. 20 % für 1932 und 18 % für 1935, also Anteile, die deutlich hinter denen zurückliegen, die man anhand der Zahlen ausrechnen kann. Der Grund für die Abweichung scheint darin zu liegen, dass es die Investitionen in der Landwirtschaft nicht mit den Investitionen in der Industrie allein vergleicht, sondern mit den Gesamtinvestitionen (also einschliesslich Transportwesen und Handel).

  23. Die Progression der Kolchosen geht ausfolgender Zahlenreihe sowjetischen Ursprungs hervor (es handelt sich um den Kolchosenanteil an der Saatfläche): 1929 = 3,9 % (vor der Herbstoffensive, wohlgemerkt!) – 1930 = 52,7 % – 1932 = 61,5 % – 1937 = 93 %.

  24. Chombart de Lauwe bezieht sich hier auf ein »unveröffentlichtes Dokument«, das ihm wahrscheinlich von einem Mitglied eines von ihm aufgesuchten wissenschaftlichen Instituts gezeigt wurde. Dass die pseudokommunistische Partei kein Interesse an der Verbreitung eines solchen Dokuments haben kann, liegt auf der Hand, denn daraus geht eine der Ursachen ihres landwirtschaftlichen Misserfolges hervor. Chombart de Lauwe selbst wurde dessen nicht gewahr, und das ist nicht verwunderlich. Er ist ein naiver französischer Fachmann, der Stalinismus mit Kommunismus in einen Pott wirft. So kann er, ganz in der offiziellen Optik der Sowjetregierung, dazu schreiben: »Wenn man von der Optik der sowjetischen Agrarpolitik ausgeht, der ja der Fortschritt zum Kommunismus zugrunde liegt«, dann kann man an der absoluten Priorität für die Industrie »keinen Anstoss nehmen«!!! Schon wieder einer, der nicht verstanden hat, dass der »Fortschritt zum Kommunismus« der Prozess der Emanzipation des Proletariats ist, ein Prozess, der sich wohlgemerkt nicht auf eine gute Lebensmittelversorgung beschränkt, diese allerdings – zumal für ein kommunistisches Regime, das angeblich seit fünfzig Jahren besteht – voraussetzt!

  25. In seiner Stalin-Biografie schreibt I. Deutscher, dass Stalin im Januar 1934 (also als der Höhepunkt der »Entkulakisierungs«-Krise und der Hungersnot vorüber war) auf einer Vollversammlung des ZK erklärte, nunmehr sei die »mörderische Gefahr« auf dem Lande überwunden, andererseits werde der erste Fünfjahresplan nicht erfüllt werden. Deutscher fährt fort:
    »Einige Tage später stand er schon wieder auf der Rednertribüne, um die Gefahren an die Wand zu malen, die nach wie vor in dem Agrarproblem steckten. Er setzte die Partei mit der Feststellung in Erstaunen, dass die Kollektivfarmen unter Umständen für das Regime eine noch viel grössere Gefahr darstellen könnten als die private Landwirtschaft. In den Tagen von einst sei die Bauernschaft zerstreut und isoliert gewesen. Man hätte sie nur schwer in Bewegung bringen können. Damals habe ihr die Fähigkeit zum politischen Zusammenschluss gefehlt. Seit der Kollektivierung seien die Bauern in Gruppen organisiert. Sie könnten die Sowjetregierung unterstützen, sich aber ebenso gut auch gegen sie wenden, wobei ihre Tätigkeit wirkungsvoller sein würde als die einer unorganisierten, privaten Bauernschaft. Um eine scharfe Aufsicht der Partei über die Kolchosen zu gewährleisten, wurden jetzt die ›Politischen Abteilungen auf dem Lande‹ eingerichtet.« (Deutsch bei Kohlhammer, Stuttgart 1962, S. 358f, Unterstreichungen IKP). Der Unterschied zur bolschewistischen Phase zeigt sich hier am Beispiel der Parteirolle mit aller Deutlichkeit: Früher hatte man die schwache politische Verankerung der kommunistischen Partei Russlands im Dorfe als ernstes Problem angesehen, weil darin gerade zum Ausdruck kam, wie schwach der proletarische und kommunistische Einfluss noch war. 1934 geht es hingegen schlicht und einfach um die polizeiliche Staatsaufsicht auf dem Lande!

  26. Diese Zahlen lieferte Chombart de Lauwe in »Les paysans soviétiques«. Dieser Autor hat das Verdienst, nachdrücklich auf das Fortbestehen der privaten Kleinwirtschaft innerhalb der Kolchose hinzuweisen, während die Sowjetregierung ihrerseits vermeidet, das erdrückende Gewicht dieser privaten Kleinhöfe herauszustreichen. Das ist auch verständlich, denn der schreiende Widerspruch zu der Auffassung, die dem Statut der Kolchose von 1935 und der Verfassung von 1936 zugrunde liegt, würde sonst in aller Schärfe auftreten. (Die Kolchose ist demnach bekanntlich eine »gesellschaftliche Form der sozialistischen Wirtschaft«, der »Weg des allmählichen Übergangs zum Kommunismus«, gar eine »Schule des Kommunismus für die Bauernschaft«). Nach den zwei erwähnten Denkmälern opportunistischer Niederträchtigkeit mussten die Kolchosbauern sich verpflichten, »ihre Kolchose zu festigen, gewissenhaft zu arbeiten, den Ertrag nach der Arbeitsleistung zu verteilen, Staats- und Kolchoseigentum zu bewahren, die Pferde sorgfältig zu pflegen, die vom Arbeiter- und Bauernstaat erteilten Aufgaben durchzuführen« usw. usf., wobei sie ihrer Kolchose einen »wahrhaft bolschewistischen Charakter« verleihen und zugleich den eigenen »Wohlstand« sichern würden. Da nun der »Wohlstand« sich allerdings nicht so bald zu kommen bequemte, taten die Bauern nichts von alledem (wobei all diese schönen Aufgaben mit »Bolschewismus« nichts zu tun hatten).

  27. Quelle, »Recueil statistique de l’économie nationale de l’URSS«, 1957 und »Étude sur la situation économique de l’Europe en 1958« (UNO, 1959), zitiert von Chombart de Lauwe im mehrfach erwähnten Werk.

  28. Diese klare Schilderung befindet sich auch in »Les paysans soviétiques« von Chombart de Lauwe.

  29. So belegen die Tatsachen wieder einmal die Richtigkeit der marxschen Kritik an der utopischen Vorstellung, die Arbeiter könnten sich durch die Bildung von Genossenschaften, die an die Stelle der traditionellen kapitalistischen Unternehmen treten würden, emanzipieren.

  30. Chombart de Lauwe, »Les paysans soviétiques«.

  31. Für das Jahr 1938 liefert Bettelheim folgende Zahlen: Anteil der einzelnen Kolchosbauern an dem Kolchoshandel: 73 %; Anteil der Kolchosen: ⅗ der verbleibenden 27 %; die restlichen ⅖ lagen in den Händen der »letzten Mohikaner« der freien Kleinbauernschaft.

  32. Chombart de Lauwe, ein sehr guter Beobachter, schreibt dazu:
    »Ein Landwirt des Pariser Beckens wäre äusserst verlegen, wenn man ihm sagen würde, er könne über zwanzig Arbeiter für den Anbau seiner 200 Hektar verfügen, es sei jedoch nicht möglich zu erfahren, ob jeder Arbeiter ihm 1500 oder 3000 Arbeitsstunden liefern werde. Nun, der Vorsitzende der Kolchose befindet sich in einer ähnlichen Lage, weil der Kolchosbauer seine Zeit zwischen seinem Einzelhof und der Kolchose aufteilt. […] Das Fernbleiben von der Arbeit gehört zu den ernsten Krankheiten der Kolchose«.
    Er zitiert ein Beispiel aus der sowjetischen Wirtschaftsliteratur:
    »Die zweite Anbaubrigade einer Kolchose im Gebiet von Kaluga erfasst 63 arbeitsfähige Personen. Ein grosser Teil davon hat 1955 an der kollektiven Produktion nicht teilgenommen. Im Januar haben 26 Personen nicht gearbeitet, im Februar waren es 31, im März 32, im April 26, im Mai 29, im Juni 23, im Juli 15, im August 11, im September 23, im Oktober 20, im November 27 und im Dezember 25. Doch hatte die Kolchose Arbeit für alle Kolchosmitglieder. Sie besitzt genügend Land, um ihren Viehbestand um ein Mehrfaches zu vergrössern, den Kolchosmitgliedern mehr Arbeit in der Kollektivwirtschaft zu geben und die ganze Produktion zu steigern.«
    Warum dieser Aderlass von Arbeitskräften?
    »Wenn die Preise auf dem Kolchosmarkt hoch sind, arbeitet das Kolchosmitglied zunächst für sich und dann für die Kolchose
    Eine »abartige Kolchose« in der Tat! Noch abartiger ist allerdings die Einbildung Stalins, den Markt auf administrativem Weg abschaffen zu können, oder seine Absicht, eine schnellere Entwicklung der russischen Gesellschaft durch eine überzogene Auspressung von Arbeit und Produkten zugunsten der Industrialisierung zu gewährleisten (wobei klar ist, dass keine Macht von einer Belohnung der Industrialisierungsanstrengungen hätte absehen können).

  33. = auf die Dauer

  34. Zumal wenn man bedenkt, dass dieser Sozialismus entsprechend der These von der »rein kommunistischen Revolution« in den Jahren 1929–30 nunmehr 28 Jahre als sein soll!

  35. Bei Deutscher und Lauwe wird die erstaunliche Zahl von 17–18 Millionen Kolchosarbeitern gegeben. Das ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass nur die Familienoberhäupter gezählt werden.

  36. Die in dieser Zahl enthaltene Anzahl reiner Arbeiter ist nicht genau zu ermitteln.

  37. Deutscher, »Die unvollendete Revolution«, 1967, S. 45 der deutschen Taschenbuchausgabe in der Fischer-Bücherei.

  38. Alle anderen Erwägungen beiseitegelassen, liegt hier der Grund dafür, dass Linke wie Rechte dem Stalinismus entgegenhielten, der Stolz über die »prächtige Ökonomische Isolierung« Russlands käme dem Stolz über dessen Rückständigkeit gleich.

  39. Dieser Punkt wurde in allen unseren Parteiarbeiten über Russland ausführlich behandelt, und wir werden nicht erneut bei ihm verweilen. Für den Leser, der unsere sonstigen Publikationen nicht kennt, dürfte folgender Hinweis zunächst genügen: Während das kapitalistische Russland Nr. 2 endlos hinter dem amerikanischen Konkurrenten herläuft, wartet dieser nicht ganz ruhig, bis er eingeholt wird: Er läuft selber auch in der Geschwindigkeit, die ihm seine Macht und sein Alter gestatten, und er hat den Vorteil eines beachtlichen Vorsprungs. Russland wurde sehr lange durch die höheren Jahreswachstumsraten, die für jüngere kapitalistische Lander charakteristisch sind, begünstigt, aber auch Russland leidet unter dem Gesetz der Abnahme der Wachstumsraten; darin äussert sich das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, und das ist in allen Ländern feststellbar. Mit einfacheren Worten: Der Konkurrent, der später auftrat, wird auch älter und wächst dementsprechend immer langsamer. Seine Chancen, den mächtigeren Rivalen einzuholen, werden damit geringer, selbst wenn auch dieser immer langsamer fortschreitet. Dieses Gesetz der Abnahme findet in folgenden Zahlen eine gute Illustration:
    Wachstumsraten der russischen Industrie (durchschnittliches Jahreswachstum)
    Periode vor den Plänen (1922–28) : 23 %
    1. Fünfjahresplan (1929–32) : 19,2 %
    2. Fünfjahresplan (1933–37) : 17,1 %
    3. Fünfjahresplan (1938–40) : 13,2 %
    Kriegsperiode (1941–46) : 4,3 % (durchschnittliche Jahressenkung)
    4 Jahr des 4. Plans (1947–51) : 22,6 %
    5. Fünfjahresplan (1951–55) : 13,1 %
    6. Fünfjahresplan (1956–58) : 10,3 %
    Siebenjahresplan (1959–65) : 9,1 %

    Ergänzung zur deutschen Ausgabe:
    Sieht man von den im Krieg eroberten Gebieten ab, die äusserst rückständig waren und damit unverhältnismässig hohe Wachstumsraten erlaubten, so beträgt die Wachstumsrate für die Wiederaufbauperiode (1946–50): 13,5 % im Jahresdurchschnitt. Nach neueren Angaben betrug die jährliche Wachstumsrate im Laufe des Siebenjahresplanes für die Jahre 1961–65: 8,6 %. Zwischen 1966–70 (8. Plan) betrug sie 8,4 %, zwischen 1971–7,4 %. Für den 10. Plan (1976–80) werden amtlicherseits 6,5 % erwartet, diese Zahl wird jedoch – so viel steht schon jetzt fest – nicht erreicht werden können. Diesbezüglich siehe auch »Der Mythos von der ›sozialistischen Planung‹ in Russland« im Bulletin der IKP Nr. 11, Juli 1976.



Source: »Kommunistisches Programm«, № 15/16, Oktober 1977, S. 90–107 (Dritter Teil des III. Kapitels: »Die sowjetische Wirtschaft vom Oktober bis heute«)

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