IBKL - Internationale Bibliothek der Kommunistischen Linken
[home] [content] [end] [search] [print]


BILANZ EINER REVOLUTION (II)


Content:

Bilanz einer Revolution (II)
Die falschen Lehren aus der Konterrevolution in Russland
Nur der Marxismus zieht die Lehren aus der Geschichte
Die klassische bürgerliche »Lehre«
Die Warenproduktion: Wiege des Kapitalismus
Die kapitalistische Revolution ist lediglich eine halbe Revolution
Die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung: Schlüssel für den tragischen Verlauf der bürgerlichen Herrschaft
Vergebliche Harmonisierungsbemühungen der Bourgeoisie
Der Grundwiderspruch des Kapitalismus verlangt eine revolutionäre Lösung
Die geschichtliche Aufgabe des Proletariats
Die sozialdemokratische »Lehre«
Die anarchistische »Lehre«
Die »Lehre« der Selbstverwaltungs-sozialisten
Notes
Source



Bilanz einer Revolution (II)

Die falschen Lehren aus der Konterrevolution in Russland

Nur der Marxismus zieht die Lehren aus der Geschichte

Bis jetzt hatte das XX. Jahrhundert ein nur äusserst unvollkommenes Bewusstsein von der Bedeutung und Tragweite der Revolution und der Konterrevolution, die sich seit 1917 in Russland abspielten und in denen sich fünfzig Jahre nach dem Oktober leider nach wie vor das Wesentliche des proletarischen Klassenkampfes der imperialistischen Epoche zusammenfasst.

Sieht man von den Vertretern der Sowjetunion und von ihren engstirnigsten Gegnern ab, so wird man allerdings keine Partei, Strömung oder Schule finden, die nicht mehr oder weniger klar empfunden hätte, dass die historischen Endergebnisse der russischen Revolution von den Zielen, die die bolschewistische Partei des Jahres 1917 verfolgte, nicht nur abweichen, sondern ihnen diametral entgegengesetzt sind. Dass dieser Widerspruch gleichzeitig der Beweis dafür ist, dass die Oktoberrevolution von einer Konterrevolution abgelöst wurde, statt siegreich auf dem ursprünglichen Weg fortzuschreiten, wurde jedoch kaum verstanden oder man hatte kein Interesse, es zu sagen. Und selbst von denjenigen, die sich von der Verschleierung dieser Konterrevolution hinter dem scheinbaren Verbleib derselben Partei an der Macht in der UdSSR nicht völlig täuschen liessen, war wohl keiner imstande, sie – sei es im politischen oder im ökonomischen Bereich – genau zu kennzeichnen, denn ausserhalb der kleinen proletarischen Partei von heute stellen Alle dem »bürokratischen Nationalismus« der Partei Stalins einen vermeintlichen, internationalistischen »Demokratismus« der Partei Lenins entgegen und erblicken andererseits in der russischen Ökonomie und Gesellschaft eine Form von »Sozialismus« oder von »Postkapitalismus«.

Diese wissenschaftliche Ohnmacht der bürgerlichen Welt hat sie wohlgemerkt nicht daran gehindert, auf ihre Art die »Lehren« der stalinistischen Konterrevolution zu »ziehen«, die Lehren eines historischen Prozesses also, den sie nicht verstanden und oft nicht einmal konstatiert hat – so gross ist die politische Umnachtung des Klassenfeindes des Proletariats.

Die traditionellen bürgerlichen Strömungen sehen in der Kluft zwischen Zielen und Ergebnissen der Oktoberrevolution die »Bestätigung« dafür, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die Teilung der Gesellschaft in Klassen und das Staatswesen einen natürlichen und somit unzerstörbaren Charakter haben, mit anderen Worten dass der Kommunismus eine absolut unrealisierbare Utopie ist. Für die Sozialdemokraten würde diese Kluft »beweisen«, dass die Revolution im allgemeinen ein Wahnsinn ist, zumal die Revolution in einem kapitalistisch schwach entwickelten Land; für die Anarchisten würde sie »beweisen«, dass die Revolution zur Niederlage verurteilt ist, wenn man nicht auf der Stelle jede Staatsform – welche auch immer – abschafft; für die Ouvrieristen (Anarchosyndikalisten, Rätekommunisten und Selbstverwaltungskommunisten aller Schattierungen) würde sie »beweisen«, dass die Diktatur des Proletariats eine unbegrenzte politische Demokratie für die Arbeiter, bzw. der Sozialismus eine unbegrenzte Wirtschaftsdemokratie für die Produzenten im allgemeinen sein muss; für die Trotzkisten würde sie »beweisen«, dass der Kommunismus politisch entarten kann, wenn er die Demokratie verbannt: er bestünde dann nur in der Wirtschaftssphäre weiter und bedürfe einer rein politischen Revolution als Kurskorrektur.

Seit vierzig Jahren[101] erdrückt die bürgerliche Welt die Arbeiterklasse unaufhörlich mit der Last dieser vermeintlichen Lehren aus der Konterrevolution in Russland. Doch schon aus der blossen Formulierung geht deutlich genug hervor, dass sie nichts Neues darstellen. Das ist erklärlich, denn aus einem verständlichen Klassenhass oder infolge der Kapitulation der »Meister« des Proletariats vor der herrschenden Ideologie kann die bürgerliche Welt aus der geschichtlichen Erfahrung nichts anderes »Hervorlocken« als ihre eigene Klassenweisheit. Die Schlussfolgerungen, die sie daraus zieht, sind lauter Wiederholungen uralter Thesen, Wiederholungen ihrer eigenen Prämissen. Und so werden diese verschiedenen »Lehren« trotz aller Unterschiede doch durch ein gemeinsames Charakteristikum vereint:

Sie richten sich ausnahmslos gegen den Marxismus, den revolutionären Kommunismus, ob sie nun dessen Zusammenbruch oder Irrtum verkünden, oder – was noch schlimmer ist – den Stalinismus als Vorwand benutzen, ihn zu entstellen und zu verwässern: Um den Marxismus von der »Verantwortung für das Aufkommen des Stalinismus zu befreien«, um die »Ehre des Marxismus zu retten«, zögern sie nicht davor, grosse Kommunisten wie Lenin und Trotzki nachträglich in »authentische Demokraten« zu verwandeln.

Objektiv erscheint die proletarische Niederlage in Russland als ein erneutes Scheitern des Emanzipationskampfes des Proletariats, wie im 19. Jahrhundert die Niederlagen von 1848 und 1871 und am Anfang dieses Jahrhunderts die von 1905. Wenn jedoch diese Niederlage die grosse Niederlage des 20. Jahrhunderts gewesen ist, so weil die Oktoberrevolution der erste grosse Sieg war. Und wenn sie zugleich die grösste Niederlage in der Geschichte der Arbeiterbewegung darstellt, so weil der russische Oktober der einzige Sieg im gesamtstaatlichen Massstab eines grossen Landes war. Was dem Kommunismus anlässlich der früheren proletarischen Niederlagen den Vorwurf des theoretischen und praktischen Zusammenbruchs erspart hatte, war ganz einfach die Tatsache, dass er als Partei noch nicht stark genug gewesen war, die Bewegung zu führen. Und wenn heute die bürgerliche Welt versuchen kann, ihn angesichts der Entwicklung des russischen Oktobers unter diesem Vorwurf zu erdrücken, so musste der Kommunismus doch zunächst soweit erstarken, dass er zur einzigen Partei der Revolution und des Sieges wurde. Dies war kein Zufall doch gerade das vergessen die Revisionisten. Wenn die Bourgeoisie versucht, unter den Trümmern der russischen Revolution den Kommunismus im allgemeinen zu begraben, so macht sie nur einen logischen Gebrauch vom Kriegsrecht: Wehe den Besiegten! Wenn aber die »Führer« des Besiegten sich an »Revisionen« heranmachen, so ziehen sie ebensowenig wie die Bourgeoisie »die Lehren der Geschichte« – sie senken ganz einfach den Kopf unter dem Schmähruf!

Die ganze bürgerliche Welt reagiert so, als liefere die Kommunistische Partei Lenins das einzige geschichtliche Beispiel dafür, dass man die und die Ziele verfolgt und völlig entgegengesetzte Ergebnisse erzielt. Wäre dem so, so würde dies ohne Zweifel gegen uns sprechen. Im Verlauf der ganzen Geschichte der Klassengesellschaft haben jedoch die Ergebnisse der Kämpfe nur im Ausnahmefall den verfolgten Zielen entsprochen, der Widerspruch zwischen beiden war immer die Regel. Und erst der historische Materialismus hatte das Verdienst, diese Wahrheit hervorzuheben und den Beweis zu erbringen, dass der Lauf der Geschichte wie die Entwicklung der Natur objektiven Gesetzen und nicht dem Bewusstsein oder dem Willen der Menschen – Klassen und Parteien – unterworfen ist[102]. Mit anderen Worten: Erst der historische Materialismus stellte klar, dass die Menschen zwar ihre Geschichte machen, dass sie dabei aber keineswegs frei sind. Diese Wahrheit steht allerdings ausserhalb der Verständnissphäre nicht nur der Bourgeoisie sondern aller Sorten des Revisionismus. Keiner kann in der Tat begreifen, dass, wenn die Niederlage unserer Partei in Russland etwas beweist, dann eben ganz einfach, dass wie die anderen Menschen auch die Kommunisten dem Determinismus unterworfen sind[103].

Wenn man wissen will, wie die proletarische Partei an die Niederlagen ihrer eigenen Klasse herangeht, so kann man nichts besseres tun, als sich mit dem hervorragenden Passus zu beschäftigen, in dem Friedrich Engels (»Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« 1886–88) die spezifische Methode des dialektischen Materialismus erklärt:

»Nun aber erweist sich die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft in einem Punkt als wesentlich verschiedenartig von der der Natur. In der Natur […] sind es lauter bewusstlose blinde Agenzien, die aufeinander einwirken und in deren Wechselspiel das allgemeine Gesetz zur Geltung kommt. Von allem, was geschieht […], geschieht nichts als gewollter bewusster Zweck. Dagegen in der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewusstsein begabte, mit Überlegenheit oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichts geschieht ohne bewusste Absicht, ohne gewolltes Ziel. Aber dieser Unterschied, so wichtig er für die geschichtliche Untersuchung namentlich einzelner Epochen und Begebenheiten ist, kann nichts ändern an der Tatsache, dass der Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht wird. Denn auch hier herrscht auf der Oberfläche, trotz der bewusst gewollten Ziele aller einzelnen, im ganzen und grossen scheinbar der Zufall. Nur selten geschieht das Gewollte, in den meisten Fällen durchkreuzen und widerstreiten sich die vielen gewollten Zwecke oder sind diese Zwecke selbst von vornherein undurchführbar oder die Mittel unzureichend. So führen die Zusammenstösse der zahllosen Einzelwillen und Einzelhandlungen auf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbei, der ganz dem in der bewusstlosen Natur herrschenden analog ist. Die Zwecke der Handlungen sind gewollt, aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt, oder soweit sie dem gewollten Zweck zunächst doch zu entsprechen scheinen, haben sie schliesslich ganz andere als die gewollten Folgen. Die geschichtlichen Ereignisse erscheinen so im ganzen und grossen ebenfalls von der Zufälligkeit beherrscht. Wo aber auf der Oberfläche der Zufall sein Spiel treibt, da wird er stets durch innere verborgene Gesetze beherrscht, und es kommt nur darauf an, diese Gesetze zu entdecken.«
»Die Menschen machen ihre Geschichte, wie diese auch immer ausfalle, indem jeder seine eignen, bewusst verfolgten Zwecke verfolgt […] Es kommt also auch darauf an, was die vielen einzelnen wollen […] Aber einerseits haben wir gesehen, dass die in der Geschichte tätigen vielen Einzelwillen meist ganz andere als die gewollten – oft geradezu die entgegengesetzten – Resultate hervorbringen […] Andererseits fragt sich weiter, welche treibenden Kräfte wieder hinter diesen Beweggründen stehen, welche geschichtlichen Ursachen es sind, die sich in den Köpfen der Handelnden zu solchen Beweggründen umformen?«

»Diese Frage hat sich der alte Materialismus nie vorgelegt.«[104] Die modernen Revisionisten ebensowenig!

Die »inneren verborgenen Gesetze« der Konterrevolution in Russland zu entdecken; die »treibenden Kräfte«, die »geschichtlichen Ursachen« für die »Beweggründe« zu suchen, die sich die Menschen – Massen, Parteien und Führer – für ihre Handlungen und Kämpfe selbst gaben – allein die proletarische Partei kann sich diese Aufgabe stellen. Und, um sie zu bewältigen, geht sie von folgendem entscheidenden Leitfaden aus, den Engels im »Anti-Dühring« so formuliert:

»Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, dass die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert wird und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen […], sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise.«[105]

Dies ist all jenen Strömungen nicht zugänglich, die, zwischen einigen marxistischen Wahrheiten und der überlieferten Anschauung hin und her gerissen, zwar die Klassen und Parteien anstelle der Individuen und der Führer zu den Trägern des Bewusstseins und des Willens machen, diese aber nach wie vor in idealistischer Manier als beherrschende Instanz betrachten und sich dessen nicht gewahr werden, dass das Problem des Determinismus dadurch nicht gelöst, sondern nur verlagert wird. Ihnen bleibt deshalb die Einsicht verwehrt, dass die Geschichte zu verstehen – und sei es die der zeitweiligen Niederlage des eigenen Lagers – heisst, den zwangsläufigen Charakter des Geschehenen zu beweisen, und dass die Lehren der Geschichte zu ziehen keineswegs bedeutet, das Programm des wissenschaftlichen Sozialismus zu revidieren, sondern im Lichte der Tatsachen die Bedingungen seines Sieges noch genauer zu zeichnen. Ihnen bleibt daher nichts anderes übrig, als auf uralte Vorurteile zurückzugreifen und im Abstrakten zu suchen, welches andere Bewusstsein, welcher andere Wille den Lauf der vergangenen Geschichte ihren selbst mehr oder weniger willkürlichen Wünschen näher gebracht hätte und in der Zukunft den Sieg unfehlbar sichern würde. An diesem Punkt wird die geschichtliche Sache des Proletariats durch das Sektendogma, bzw. durch die individuelle Phantasie je nach Tagesmode ersetzt, während anstelle der revolutionären Militanten Propheten treten, halb beseelt durch offenbarte Wahrheiten, die nie etwas anderes sein können als ebenso viele Revisionen – und die Bourgeoisie triumphiert!

Die klassische bürgerliche »Lehre«

Heute hängt sich selbst die Bourgeoisie einen »sozialistischen« Mantel um, und es wäre deshalb sicherlich schwierig, ein aktuelles Beispiel für die »Lehre« der russischen Konterrevolution im Sinne des klassischen bürgerlichen Denkens zu bringen. Es ist aber leicht, diese »Lehre« zu rekonstruieren. Sie hat zwei Fassungen: Eine ist gröber, die andere raffinierter; und, wenn beide zwar immer nebeneinander auftraten, so entspricht die erste doch besser der »stalinistischen« Phase der Konterrevolution und die zweite der Phase, die sich mit dem Namen Chruschtschows und seiner Nachfolger verbindet.

Die gröbere Fassung besagt ganz schlicht: »der Kommunismus ist schlechter als der Kapitalismus«. Der Umfang des Elends, der Stumpfsinn, die Unterdrückung und – um mit Trotzki zu reden – die finstere Irrationalität der stalinistischen Ära sicherten dieser These einen Erfolg, den sie in ihrer Grobschlächtigkeit nicht verdient hätte, obwohl ihrerseits auch die stalinistische Weltbewegung nicht die Verteidigung des Kommunismus vor Augen hatte, als sie jahrzehntelang die unglaublichsten Fälschungen betrieb in der Hoffnung, die Wahrheit würde den Arbeitern des Westens verdeckt bleiben.

Dieser Fassung der bürgerlichen »Lehre« entgegnet die proletarische Partei zweierlei. Zunächst selbstverständlich, dass das stalinistische Russland (und das gilt in noch stärkerem Masse für das »entstalinisierte« Russland) nichts, aber auch nichts mit dem Kommunismus oder mit irgendeiner Zwischenstufe zu dieser ökonomischen und gesellschaftlichen Formation zu tun hat[106]. Für sich genommen braucht diese Behauptung allerdings kein Alleingut der proletarischen Partei zu sein; die zweite ist ihr jedoch eigen: Sie zeigt, dass die Phase der russischen Geschichte, die nicht nur der Stalinismus, sondern auch die Bourgeoisie und selbst der Trotzkismus in einer absoluten Begriffsverwirrung für Kommunismus ausgaben, auch nicht die absurde und sinnlose Agonie eines ganzen Volkes, oder etwa die von der idiotischen westlichen Propaganda hingemalte Reihe von überflüssigen, von der »Willkür« des Despoten Stalin verursachten Erschütterungen darstellte, sondern eine grosse soziale Revolution. Und wenn die Klassennatur dieser Revolution derjenigen, die von den Kommunisten um Lenin verfolgt wurde, entgegengesetzt war, so war sie dennoch alles andere als geschichtlich steril, war sie ja vielmehr reich an explosiven Entwicklungen für die fernere Zukunft: Es handelt sich nämlich um dieselbe kapitalistische Revolution, die alle fortgeschrittenen Länder selbst in der Vergangenheit durchmachten, deren Schrecken und masslose Qualen sie aber seit langem vergessen haben. Was die »raffiniertere« Fassung angeht, so hätte sie die Bourgeoisie ohne die Hilfe der pedantischen deutschen und österreichischen Sozialdemokraten aus Stalins Zeiten nicht ausarbeiten können; heute hat sie es insofern leichter, als es ihr diesbezüglich genügt, an die Gedankengänge der »Kommunisten« des Ostens selbst anzuknüpfen. Diese »Lehre« besagt im Grunde folgendes: Wenn Russland (und der Ostblock) sich den kapitalistischen Gesetzen (Wertgesetz, allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, Reproduktionsgesetz des Kapitals) nicht entziehen konnte, wenn es Russland nicht gelang, Produktion und Konsumtion anders als durch den Austausch zu verbinden, wenn es neben dem Handel zwischen Stadt und Land auch den Kauf und Verkauf der Arbeitskraft, d. h. die Lohnarbeit, die der Kommunismus abschaffen wollte, beibehielt, so bedeutet das, dass diese Gesetze und diese Gesellschaftsordnung so naturgegeben und damit unveränderbar sind wie beispielsweise das Planetensystem. Mit anderen Worten die russische Konterrevolution wäre keine Konterrevolution gewesen, sondern die Rückkehr zu einer Ordnung, die die Bolschewiki vergeblich und irrsinnigerweise zu verändern versucht hatten, und zugleich der historische Beweis für den utopischen und wirklichkeitsfremden Charakter dessen, was wir wissenschaftlichen Sozialismus nennen.

In ihrem Versuch, aus unserer Klassenniederlage eine Bestätigung ihrer konservativen und antiproletarischen Thesen zu ziehen, macht die Bourgeoisie so vom Siegerrecht ohne unnötige Bedenken Gebrauch; als »Lehre der Geschichte« sind ihre Ergebnisse jedoch gleich null, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens haben sich die bolschewistische Partei und Lenin niemals eingebildet, sie hätten in Russland kurzfristig den Kapitalismus aus Ökonomie und Gesellschaft verbannen können, wie sie es mit der zaristischen und bürgerlichen politischen Herrschaft getan hatten (hat denn die bürgerliche Welt im Laufe eines halben Jahrhunderts wirklich keinen blassen Schimmer von dieser Tatsache bekommen?). Sie haben im Gegenteil immer erklärt, sie hätten eine internationale proletarische Revolution begonnen, und erst der Sieg dieser Revolution würde erlauben, zwar nicht eines schönen Tages den Sozialismus im rückständigen Russland zu »erlassen«, sondern die notwendige Phase der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung unter politischer Kontrolle des Proletariats auf ein Mindestmass zu kürzen. Die bürgerliche »Lehre« beweist also lediglich, dass die »demokratischen Freiheiten« dem Westen keineswegs erlaubt haben, sich von der bolschewistischen Revolution eine weniger idiotische Auffassung zu bilden als die, die Russland jahrzehntelang von der so verschrienen stalinistischen Diktatur als Staatsdogma aufgezwungen wurde.

Des Weiteren ist diese Lehre gleich null aus dem wesentlichen Grund, dass der wissenschaftliche Sozialismus eine vollständige Geschichts- und Weltanschauung darstellt, welche die Ideologen der Bourgeoisie weder vor noch nach dem Oktober 1917 theoretisch widerlegen konnten. Im Gegenteil, sie wurden von der Wirklichkeit gezwungen, ihr gewisse Wahrheiten zu entnehmen. Man kann also nichts besseres tun, als dem leichtfertigen bürgerlichen Vorwurf des »Utopismus« den wirklichen Kommunismus entgegenzustellen. Damit will man selbstverständlich nicht den Klassenfeind »überzeugen«, sondern den Defätismus innerhalb des Proletariats bekämpfen und zunächst die theoretischen Grundlagen klar zeichnen, von denen in der Folge ausgegangen wird, um die revisionistischen »Lehren« zu widerlegen. Diese haben zwar niemals dieselbe abstumpfende Verwegenheit der klassischen bürgerlichen »Lehren« zu Tage bringen können, drücken jedoch dieselbe Ablehnung des wissenschaftlichen Sozialismus oder dieselbe Unfähigkeit, ihn zu verstehen, aus.

Zu diesem Zweck werden wir die klassische, unübertreffliche aber verkannte Ausarbeitung zusammenfassen, die Engels davon im zweiten Kapitel des dritten Teils (»Sozialismus«) des »Anti-Dühring« gibt. Wir werden dabei den Text etwas anders ordnen, um die verschiedenen Momente einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hervorzuheben, die, weit davon entfernt, zu allen Zeiten bestanden zu haben und einer unwandelbaren »Vernunft« zu entsprechen, aus genau umrissenen historischen Bedingungen entstand und von Anbeginn unter der Irrationalität leidet, welche dieser Ursprung implizierte und welche sie selbst vergeblich zu überwinden sucht, eine Produktionsweise, die schliesslich keine ewige Zukunft hat, sondern aufgrund ihrer Entwicklung ihrer inneren Widersprüche dazu bestimmt ist, in der grössten sozialen Revolution der Geschichte zugrunde zu gehen.

Die Warenproduktion: Wiege des Kapitalismus

Vor der kapitalistischen Produktion bestand allgemeiner Kleinbetrieb auf Grundlage des Privateigentums der Arbeiter an ihren Produktionsmitteln. Die Arbeitsmittel – Land Ackergerät, Werkstatt, Handwerkszeug – waren Arbeitsmittel des einzelnen, nur für den Einzelgebrauch berechnet, also notwendig kleinlich, zwerghaft beschränkt. Wo aber die naturwüchsige Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft Grundform der Produktion ist, da drückt sie den Produkten die Form der Waren auf, deren gegenseitiger Austausch, Kauf und Verkauf die einzelnen Produzenten in den Stand setzt, ihre mannigfaltigen Bedürfnisse zu befriedigen. In der Warenproduktion konnte die Frage gar nicht entstehen, wem das Erzeugnis der Arbeit gehören solle. Der einzelne Produzent hatte es, in der Regel aus ihm gehörenden, oft selbst erzeugten Rohstoff, mit eigenen Arbeitsmitteln und mit eigener Handarbeit oder der seiner Familie hergestellt. Es brauchte gar nicht erst von ihm angeeignet zu werden, es gehörte ihm ganz von selbst. Das Eigentum der Produkte beruhte also auf eigener Arbeit. Aber jede auf Warenproduktion beruhende Gesellschaft hat das Eigentümliche, dass in ihr die Produzenten die Herrschaft über ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen verloren haben. Jeder produziert für sich mit seinen zufälligen Produktionsmitteln und für sein individuelles Austauschbedürfnis. Keiner weiss, wieviel von seinem Artikel auf den Markt kommt, wieviel davon überhaupt gebraucht wird, keiner weiss, ob sein Einzelprodukt einen wirklichen Bedarf vorfindet, ob er seine Kosten herausschlagen oder überhaupt wird verkaufen können. Es herrscht Anarchie der gesellschaftlichen Produktion. Aber die Warenproduktion, wie jede andere Produktionsform, hat ihre eigentümlichen, inhärenten, von ihr untrennbaren Gesetze und diese Gesetze setzen sich durch, trotz der Anarchie, in ihr, durch sie. Sie kommen zum Vorschein in der einzigen fortbestehenden Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs, im Austausch, und machen sich geltend gegenüber den einzelnen Produzenten als Zwangsgesetze der Konkurrenz. Sie sind diesen Produzenten also anfangs selbst unbekannt und müssen erst durch lange Erfahrung nach und nach von ihnen entdeckt werden. Sie setzen sich also durch ohne die Produzenten und gegen die Produzenten, als blindwirkende Naturgesetze ihrer Produktionsform. Das Produkt beherrscht die Produzenten.

Die kapitalistische Revolution ist lediglich eine halbe Revolution

Diese zersplitterten, engen Produktionsmittel zu konzentrieren, auszuweiten, sie in die mächtig wirkenden Produktionshebel der Gegenwart umzuwandeln, war gerade die historische Rolle der kapitalistischen Produktionsweise. Die Bourgeoisie konnte aber jene beschränkten Produktionsmittel nicht in gewaltige Produktivkräfte verwandeln, ohne sie aus Produktionsmitteln des einzelnen in gesellschaftliche, nur von einer Gesamtheit von Menschen anwendbare Produktionsmittel zu verwandeln. Und wie die Produktionsmittel so verwandelte sich die Produktion selbst aus einer Reihe von Einzelhandlungen in eine Reihe gesellschaftlicher Akte und die Produkte aus Produkten einzelner in gesellschaftliche Produkte. Kein einzelner kann von ihm sagen: Das hab ich gemacht, das ist mein Produkt. Diese neue Produktionsweise schob sich also in die Gesellschaft der Einzelproduzenten ein. Mitten in die naturwüchsige planlose Teilung der Arbeit, wie sie in der ganzen Gesellschaft herrschte, stellte sie die planmässige Teilung der Arbeit, wie sie in der einzelnen Fabrik organisiert war; neben die Einzelproduktion trat die gesellschaftliche Produktion. Die Einzelproduktion erlag auf einem Gebiet nach dem anderen, die gesellschaftliche Produktion revolutionierte die ganze alte Produktionsweise.

Aber dieser ihr revolutionärer Charakter wurde so wenig erkannt, dass sie im Gegenteil eingeführt wurde als Mittel zur Hebung und Förderung der Warenproduktion. Sie entstand in direkter Anknüpfung an bestimmte, bereits vorgefundene Hebel der Warenproduktion und des Warenaustausches: Kaufmannskapital, Handwerk, Lohnarbeit. Indem sie selbst auftrat als eine neue Form der Warenproduktion, blieben die Aneignungsformen der Warenproduktion auch für sie in voller Geltung. Die gesellschaftlichen Produktionsmittel und Produkte wurden behandelt, als wären sie nach wie vor die Produktionsmittel und Produkte einzelner. Hatte bisher der Besitzer der Arbeitsmittel sich das Produkt angeeignet, weil es in der Regel sein eigenes Produkt war, so fuhr jetzt der Besitzer der Arbeitsmittel fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Produkt war, sondern ausschliesslich Produkt fremder Arbeit. Produktionsmittel und Produktion sind wesentlich gesellschaftlich geworden. Aber sie werden unterworfen einer Aneignungsform, die die Privatproduktion einzelner zur Voraussetzung hat, wobei also jeder sein eigenes Produkt besitzt und zu Markte bringt. Die Produktionsweise wird dieser Aneignungsform unterworfen, obwohl sie deren Voraussetzung aufhebt.

Die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung: Schlüssel für den tragischen Verlauf der bürgerlichen Herrschaft

In diesen Widerspruch, der der neuen Produktionsweise ihren kapitalistischen Charakter verleiht, liegt die ganze Kollision der Gegenwart bereits im Keim. Je mehr die neue Produktionsweise auf allen entscheidenden Produktionsfeldern und in allen ökonomisch entscheidenden Ländern zur Herrschaft kam, desto greller musste auch die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung an den Tag treten.

Mit dem Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise traten auch die bisher schlummernden Gesetze der Warenproduktion offener und mächtiger in Wirksamkeit. Die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion trat an den Tag und wurde mehr und mehr auf die Spitze getrieben. Das Hauptwerkzeug aber, womit die kapitalistische Produktionsweise diese Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion steigerte, war das gerade Gegenteil der Anarchie: die steigende Organisation der Produktion als gesellschaftlicher in jedem einzelnen Produktionsetablissement. Wo sie in einem Produktionszweig eingeführt wurde, litt sie keine ältere Methode des Betriebs neben sich. Das Arbeitsfeld wurde ein Kampfplatz. Nicht nur brach der Kampf aus zwischen den einzelnen Lokalproduzenten; die lokalen Kämpfe wuchsen ihrerseits an zu nationalen. Die grosse Industrie endlich und die Herstellung des Weltmarktes haben den Kampf universell gemacht und gleichzeitig ihm eine unerhörte Heftigkeit gegeben. Zwischen einzelnen Kapitalisten wie zwischen ganzen Industrien und ganzen Ländern entscheidet die Gunst der natürlichen oder geschaffenen Produktionsbedingungen über die Existenz. Der Unterliegende wird schonungslos beseitigt. Es ist der darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. Der Naturstandpunkt des Tieres erscheint als Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung reproduziert sich als Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der Produktion in der ganzen Gesellschaft.

Vermittels der Anarchie der Produktion in der Gesellschaft verwandelt sich die aufs höchste gesteigerte Verbesserungsfähigkeit der modernen Maschinerie in ein Zwangsgebot für den einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie stets zu verbessern, ihre Produktionskraft stets zu erhöhen. In ein ebensolches Zwangsgebot verwandelt sich für ihn die blosse faktische Möglichkeit, seinen Produktionsbereich zu erweitern. Die enorme Ausdehnungskraft der grossen Industrie tritt uns jetzt vor Augen als ein qualitatives und quantitatives Ausdehnungsbedürfnis, das jeden Gegendruckes spottet. Der Gegendruck wird gebildet durch die Konsumtion, den Absatz, die Märkte für die Produkte der grossen Industrie. Aber die Ausdehnungsfähigkeit der Märkte, extensive wie intensive, wird beherrscht zunächst durch ganz andere, weit weniger energisch wirkende Gesetze. Die Ausdehnung der Märkte kann nicht Schritt halten mit der Ausdehnung der Produktion. Die Kollision wird unvermeidlich – und das sind die Krisen. In den Krisen kommt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung zum gewaltsamen Ausbruch. Der Warenumlauf ist momentan vernichtet; das Zirkulationsmittel, das Geld, wird Zirkulationshindernis; alle Gesetze der Warenproduktion und Warenzirkulation werden auf den Kopf gestellt. Die ökonomische Kollision hat ihren Höhepunkt erreicht: die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschweise, die Produktivkräfte rebellieren gegen die Produktionsweise, der sie entwachsen sind.

Vergebliche Harmonisierungsbemühungen der Bourgeoisie

Es ist dieser Gegendruck der gewaltig anwachsenden Produktivkräfte gegen ihre Kapitaleigenschaft, dieser steigende Zwang zur Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Natur, der die Kapitalistenklasse selbst nötigt, mehr und mehr, soweit dies innerhalb des Kapitalverhältnisses überhaupt möglich, sie als gesellschaftliche Produktivkräfte zu behandeln. Es ist diese Form der Vergesellschaftung, die uns in den verschiedenen Arten von Aktiengesellschaften gegenübertritt. Sowohl die industriellen Hochdruckperioden als auch die Krisen treiben die Vergesellschaftung noch weiter: Ganze Industriezweige werden von Kartellen und Trusts beherrscht, die die Produktion reglementieren, dem Umfang nach bestimmen und unter sich aufteilen; die Konkurrenz verschwindet aus diesen Branchen, um dem Monopol Platz zu machen, die Planlosigkeit der kapitalistischen Produktion kapituliert hier vor der planmässigen Leitung. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe genügt auch diese Form nicht mehr: Der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, muss ihre Leitung übernehmen. Wenn die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur ferneren Verwaltung der modernen Produktivkräfte aufdeckten, so zeigt die Verwandlung der grossen Produktions- und Verkehrsanstalten in Aktiengesellschaften und Staatseigentum die Entbehrlichkeit der Bourgeoisie für jenen Zweck. Alle gesellschaftlichen Funktionen werden jetzt von besoldeten Angestellten versehen.

Aber weder die Verwaltung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äusseren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.

Der Grundwiderspruch des Kapitalismus verlangt eine revolutionäre Lösung

Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts[107], aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung. Diese Lösung kann nur darin liegen, dass die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt, dass also die Produktions-, Aneignungs- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsmittel. Und dies kann nur dadurch geschehen, dass die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den jeder anderen Leitung ausser der ihrigen entwachsenen Produktivkräften[108].

Solange wir uns hartnäckig weigern, die Natur und den Charakter der heutigen gewaltigen Produktivkräfte zu verstehen – und gegen dieses Verständnis sträuben sich die kapitalistische Produktionsweise und ihre Verteidiger –, solange wirken diese Kräfte sich aus trotz uns, gegen uns. Aber einmal in ihrer Natur begriffen, können sie aus dämonischen Herrschern in willige Diener verwandelt werden.

Die geschichtliche Aufgabe des Proletariats

Aber ohne die Aktion einer sozialen Macht kann sich die objektiv empfundene Notwendigkeit einer revolutionären Lösung des Widerspruchs nicht in der Geschichte durchsetzen. Und diese Macht selbst muss in den veränderten Produktionsverhältnissen vorhanden sein. Die kapitalistische Revolution vollzog die Scheidung zwischen den in den Händen der Kapitalisten (oder ihres Staates) konzentrierten Produktionsmitteln hier und den auf den Besitz von nichts als ihrer Arbeitskraft reduzierten Produzenten dort. Indem die kapitalistische Produktionsweise damit mehr und mehr die grosse Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung bei Strafe des Untergangs zu vollziehen genötigt ist. Im Laufe der ganzen Geschichte des Kapitalismus tritt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung als Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie an den Tag. Und da dieser Widerspruch immer mehr auf die Spitze getrieben wird, ist ja auch der daraus resultierende Klassengegensatz dazu bestimmt, sich zu vertiefen. Auf dem Höhepunkt seines Kampfes ergreift das Proletariat die politische Macht, zerstört den Staatsapparat der Bourgeoisie und errichtet seine eigene Staatsgewalt. Alle Produktionsmittel werden nach und nach den besitzenden Klassen entrissen und in Eigentum des proletarischen Staates verwandelt. Aber damit schafft das Proletariat diese Klassen als solche ab und hebt sich demzufolge selbst als Proletariat auf. In dem Masse, in dem alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze aufgehoben werden, verwandelt sich der proletarische Staat von einem Klassenstaat endlich tatsächlich in einen Repräsentanten der ganzen Gesellschaft und macht sich damit selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu unterdrücken, das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat, nötig macht. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produtionsprozessen. Der Staat wird nicht »abgeschafft«, er stirbt ab.

Mit der Besitzergreifung aller Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmässige bewusste Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch – in gewissem Sinn – endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche.

Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen und damit ihre Natur selbst zu ergründen und so der zur Aktion berufenen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eigenen Aktion zum Bewusstsein zu bringen, ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.

Den düsteren Träumen der Bourgeoisie von der ewigen Herrschaft des Kapitals mit seiner Klassenunterdrückung, seinen Krisen und wiederholten Massenausrottungen infolge seiner reaktionären imperialistischen Konflikte setzt der Kommunismus diese kolossale Auffassung entgegen. Und weder die schliessliche Niederlage der Oktoberrevolution noch selbst eine ganze Reihe von neuen eventuellen Niederlagen könnten diese Aufgabe erschüttern, beruhte sie ja vom Ursprung her auf einer gewaltigen Vorwegnahme der Zukunft, dieser letzten Phase des Kapitalismus, deren Zeitgenossen wir sind, und von der die seit der Oktoberrevolution verstrichenen fünfzig Jahre, mögen sie einem auch unendlich vorkommen, nichts anderes als den Anfang darstellen.

Die sozialistische »Lehre«

Wie der klassisch-bürgerlichen, so wird man auch der sozialdemokratischen »Lehre« der stalinistischen Konterrevolution kaum in reiner Form begegnen; sie lässt sich nichtsdestotrotz ebenso leicht rekonstruieren und ist für die Untersuchung aller angeblich modernen »Revisionen« von ebenso grossem Nutzen, denn letztere haben in der Tat nichts Neues erfunden und beschränken sich vielmehr darauf, die Schlussfolgerungen der grossen klassischen Strömungen der Vergangenheit wie auch immer zu übernehmen.

Die Sozialdemokratie war jene Abweichung der Arbeiterbewegung, die, als historisches Produkt des reformistischen Kampfes in der relativ idyllischen Atmosphäre des Kapitalismus der Jahre vor 1914, auf die Vorbereitung der Arbeiterklasse auf ihre revolutionäre Aufgabe verzichtete. Unter den veränderten Bedingungen, die der erste grosse imperialistische Krieg herbeiführte, erfüllte sie dann die genau entgegengesetzte Aufgabe, nämlich die revolutionären Energien zu ersticken, die proletarische Bewegung politisch zu bekämpfen (wie die Menschewiki in Russland) oder gar zu unterdrücken (wie die Noske und Scheidemann in Deutschland). Zur Zeit der russischen Revolution wurde diese Abweichung weniger von dem rechten sozialdemokratischen Flügel, der offen zum Feind übergelaufen war, vertreten, als vielmehr vom versöhnlerischen Zentrum, dessen »internationaler« Theoretiker Kautsky war. Von den traditionellen bürgerlichen Strömungen unterschied sie sich insofern, als sie sich noch nicht zur Behauptung des unüberwindlichen Charakters des Kapitalismus, bzw. des utopischen Charakters einer Gesellschaft ohne Klassen und ohne Staat hatte hinreissen lassen: eine Klassen- und Parteidiktatur, die die Prinzipien des Parlamentarismus und der repräsentativen Demokratie verletzen würde, wurde von ihr jedoch als Weg zum Sozialismus strikt verworfen: Dadurch vereinigte sie sich in der Praxis, d. h. im realen Klassenkampf, mit den bürgerlichen Parteien. Wenn sie auch zumindest im Abstrakten das »Recht auf Revolution« nicht unbedingt negierte[109], so musste sie sich dennoch der Bourgeoisie anschliessen, da sie sich niemals zur Erkenntnis durchringen konnte, die Bedingungen für diese Revolution seien reif. Reichte ihr in Russland die ökonomische Entwicklung für eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht aus und war die Revolution damit nicht auf der Tagesordnung, so verhielt es sich im Westen aus umgekehrten Gründen ebenso: Hier würde die Revolution (wegen des damit einhergehenden bewaffneten Kampfes oder wegen der vermeintlich mangelnden Vorbereitung der Arbeiterklasse auf die Aufgaben einer herrschenden Klasse) die Wirtschaft vom erreichten Niveau zurückwerfen usw.; und in den Augen der rechten Sozialdemokraten liess sich die Revolution im zwanzigsten Jahrhundert ohnehin nicht mehr rechtfertigen, da die Arbeiterklasse ja nunmehr anders als früher »Errungenschaften« der bürgerlichen Gesellschaft zu verteidigen hätte. Kurzum, konnte man damals von Arbeiterbewegung sprechen – was heute nicht mehr und noch nicht wieder der Fall ist – so kann man die Sozialdemokratie nicht treffender kennzeichnen, als Negation dieser Bewegung, die, wie Marx sagte, entweder revolutionär ist oder gar nichts.

Die sozialdemokratische »Lehre« der russischen Konterrevolution ergibt sich in aller Logik aus den eben rekapitulierten Charakteristika. Die Sozialdemokratie hatte die bolschewistische Revolution unter dem Vorwand bekämpft, Russland sei für den Sozialismus noch nicht reif. So konnte sie die ganze ökonomische Entwicklung zum Kapitalismus in der UdSSR seit der NEP als einen Beweis für die Richtigkeit ihrer Opposition zur Revolution auslegen, bzw. auch den vermeintlichen nationalen Aufbau des Sozialismus unter Stalin als eine kapitalistische Entwicklung erkennen[110]. Diese »wissenschaftliche« Überlegenheit kann jedoch nicht über den vordergründigen Charakter und noch weniger über die ganze Niederträchtigkeit dieser scheinbaren Lehre hinwegtäuschen. Auch wir haben die ökonomische Entwicklung Russlands seit dem Ende des Bürgerkrieges bis heute als kapitalistisch gekennzeichnet; auch wir haben dies als geschichtlich unvermeidlich betrachtet. Wir haben es aber bedauert als eine Folgeerscheinung der proletarischen Klassenniederlage in der Nachkriegszeit, während die konservativ gewordene Sozialdemokratie die Unverfrorenheit besass, sich darüber zu freuen; wichtiger ist jedoch, dass wir es nur für den Fall als unvermeidlich betrachtet haben, dass es dem europäischen Proletariat nicht gelingen sollte, seine eigene Revolution zum Sieg zu führen – und für diese Revolution haben wir mit all unseren Kräften gekämpft, während die Sozialdemokratie einerseits die russische Revolution als sozialistische Revolution von vornherein für geschlagen erklärte und andererseits im Westen gegen die Revolution kämpfte.

Die grenzenlose Falschheit der sozialdemokratischen »Lehre« aus der Konterrevolution in Russland geht schon aus der Tatsache mit voller Deutlichkeit hervor, dass sie trotz ihrer wissenschaftlichen Ansprüche gerade vom wesentlichen Faktor »absieht«, nämlich vom lähmenden Einfluss der Sozialdemokratie selbst auf das westliche Proletariat, der die Ausbreitung der Revolution verhinderte und Russland somit dem Kapitalismus auslieferte. »Abstrahiert« man aber von dieser Tatsache, dass nämlich ohne die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herrschaft in Europa eine nationalistische Strömung wie der Stalinismus in Russland nicht hätte triumphieren können, erklärt man diesen verhassten Stalinismus als Strafe für die revolutionären Sünden des russischen Proletariats, während er in Wirklichkeit das authentische Produkt der vom Reformismus geförderten bürgerlichen Reaktion war, dann verflacht man die Lehren der Geschichte zu einer elenden Binsenwahrheit: »ohne Revolutionen hätte es niemals Konterrevolutionen gegeben«; und nur daran kann man diese »wissenschaftliche Überlegenheit« ermessen, deren sich der europäische Reformismus seinerzeit, als er noch als »Arbeiterpartei« existierte, gegenüber dem Bolschewismus so rühmte.

Um überhaupt plausibel zu sein, hätte die platte sozialdemokratische »Lehre« zunächst beweisen müssen, dass die Oktoberrevolution keiner historischen Notwendigkeit entsprach und so lediglich einen vom bolschewistischen »Voluntarismus« verschuldeten Betriebsunfall der Geschichte dargestellt hätte; sie hätte ferner den Beweis erbringen müssen, dass das weltweite Fortbestehen des Kapitalismus nach der Oktoberrevolution erstens für das Proletariat (und im allgemeinen für die Menschheit) etwas Günstiges dargestellt und zweitens alle jene sozialdemokratischen Prognosen über ein fortschreitendes und friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus eindeutig bestätigt hat.

Nun, die Sozialdemokratie hat den ersten Beweis nie erbracht; mehr noch, sie – oder mindestens ihre zentristische Strömung, die sogenannten Zweieinhalb-Internationalisten, die eine selbständige Position zwischen dem rechten Sozialismus und dem Kommunismus zu behaupten wähnten – wagte in den Jahren der Revolution nicht einmal, den Oktober eindeutig zu verurteilen.

Um dies zu veranschaulichen, werden wir den kennzeichnenden Artikel von H. Weber, einem erklärten Kautsky-Verehrer, zitieren, der März 1918 in der österreichischen sozialdemokratischen Zeitschrift »Der Kampf«[111] mit dem Titel »Die Bolschewiki und wir« erschien:

»Theorie und Praxis der Bolschewiki« – [liest man in diesem alten zentristischen Artikel] – »sind die Anpassung des Sozialismus an ein Land, in dem der Kapitalismus noch jung und unentwickelt ist, das Proletariat daher noch eine Minderheit der Nation darstellt.« Und was soll daraus folgen? Nämlich dass der russische Sowjet, wie die Pariser Kommune, »das notwendige Staatsideal des revolutionären Proletariats in Ländern ist, in denen das Proletariat noch eine Minderheit der Bevölkerung ist. Der Bestand der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist unvereinbar mit den Interessen des Proletariats. Im Besitz der politischen Macht musste das Proletariat die industrielle Produktion unter seine Herrschaft zu bringen bestrebt sein. Aber die Revolution hatte den alten bürokratischen Herrschaftsapparat zerstört, ohne eine neue demokratische Verwaltungsorganisation aufzubauen. Die Bolschewiki konnten daher die Industrie nicht der Kontrolle der Organe eines demokratischen Gemeinwesens unterwerfen; sie unterwarfen jeden Industriebetrieb der Kontrolle der Arbeiter, die in ihm beschäftigt sind: die Eisenbahnen den Eisenbahnern, die Textilfabriken den Textilarbeitern usw. Aber damit gaben sie das Organisationsprinzip des Sozialismus auf, der jeden Industriezweig der Gesamtgesellschaft unterwerfen will, und näherten sich dem Gesellschaftsideal des Syndikalismus. Die französischen Arbeiter, eine Minderheit der Nation, die dank dem langsamen Bevölkerungswachstum Frankreichs nicht hoffen kann, bald zur Mehrheit zu werden, sehen ihr Ideal nicht in der Unterwerfung der Industrie unter die demokratische Republik, die ja die Herrschaft der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Mehrheit der Nation über die Industriearbeiter bedeuten würde, sondern in der Unterwerfung jedes einzelnen Industriezweiges unter die Herrschaft der Gewerkschaft dieses Industriezweiges. Dieses Ideal des französischen Syndikalismus versuchen heute die russischen Arbeiter zu verwirklichen. Die von den Bolschewiki dekretierte ›Arbeiterkontrolle in den Fabriken‹ ist das Prinzip der industriellen Organisation, das sich die Arbeiterklasse dort zum Ziel setzen muss, wo sie nicht hoffen kann, ein demokratisches Gemeinwesen und durch dieses die Industrie beherrschen zu können.«
»Der deutsche Sozialismus verdankt seine theoretische Überlegenheit der Tatsache, dass das deutsche Proletariat die Mehrheit, eine schnell wachsende Mehrheit der deutschen Nation ist und darum hoffen kann, auf Grundlage der Demokratie die Macht im Staate zu gewinnen und durch den demokratischen Staat die Industrie zu beherrschen. Wo das Proletariat nur eine Minderheit der Nation ist und dennoch vorübergehend die Staatsgewalt an sich reissen kann, wie 1848 und 1871 in Frankreich, heute in Russland, gewinnt der Sozialismus ein anderes Aussehen; dort verficht er die Klassenorganisation des Proletariats (Kommune oder Sowjet) gegen die Demokratie, die syndikalistische ›Arbeiterkontrolle in den Fabriken‹ gegen die sozialistische Unterwerfung der Industrie unter das demokratische Gemeinwesen […] So unvermeidlich dieses Unternehmen (die Kapitalherrschaft zu brechen, den Sozialismus zu verwirklichen) ist, so gewiss muss es misslingen. Karl Marx hat uns erklärt, warum die proletarische Revolution in Frankreich 1848 und 1871 misslingen musste: ›Die Entwicklung des industriellen Proletariats ist überhaupt bedingt durch die Entwicklung der industriellen Bourgeoisie. Unter ihrer Herrschaft gewinnt es erst die ausgedehnte nationale Existenz, die seine Revolution erheben kann.‹ (K. Marx, ›Die Klassenkämpfe in Frankreich‹, Berlin 1895, S. 28). In einem Land, in dem die kapitalistische Industrie noch ein ›partielles Faktum‹ ist, kann die Aufhebung der Kapitalherrschaft nicht zum Inhalt der nationalen Revolution werden.«

Und welche politische Schlussfolgerung zieht man aus dem Ganzen, wenn man ein Pedant ist, von der Überlegenheit des »deutschen Sozialismus« erfüllt, jedoch die Übertreibungen der Rechten, derzufolge die Oktoberrevolution nur ein irrsinniges Abenteuer war, nicht mitmachen möchte? Eine Schlussfolgerung, die die Verlegenheit ihres Autors schroff offenlegt:

»Die Menschewiki hatten vor ihren Gegnern die Einsicht voraus, dass die soziale Revolution erst auf einer bestimmten Stufe der kapitalistischen Entwicklung möglich ist [sic!] und dass Russland diese Entwicklungsstufe noch nicht erreicht hatte. Aber in der Überzeugung, dass Russland in einer bürgerlichen Revolution stehe, forderten sie vom Proletariat den kampflosen Verzicht auf die Macht, die Abdankung zugunsten der Bourgeoisie. In ihrer stetigen Furcht vor der Konterrevolution, die jedes allzu kühne Auftreten des Proletariats herbeiführen könne, haben sie darauf verzichtet, im Rahmen der bürgerlichen Revolution eine folgerichtige, mutige proletarische Politik zu machen. So haben sie selbst das Proletariat von sich gestossen, es in die Arme der Bolschewiki getrieben
»Die Bolschewiki haben sich in dem Klassenkampf gegen die Bourgeoisie, den die bürgerliche Revolution unvermeidlich entfesseln musste, an die Spitze des Proletariats gestellt. Sie haben in den Stürmen der Revolution den Stimmungen, dem Willen, den Idealen des russischen Proletariats getreuen Ausdruck gegeben. Aber im Proletariat aufgehend, haben sie auch seine Illusionen geteilt. So haben sie das Proletariat zu Experimenten geführt, die nur mit einer Niederlage des Proletariats enden können

Ach, wie die Wirklichkeit für einen »aufgeklärten« Sozialdemokraten von 1918 enttäuschend ist: er kann trotzdem einen Lichtstrahl der Hoffnung erblicken – im »goldenen Mittelweg«, versteht sich:

»Es gibt auch in Russland Sozialdemokraten, die von den Illusionen von rechts und links frei sind. Das sind die Menschewiki-Internationalisten unter der Führung Martows, Martinows, Semkowskys; die Internationalisten, die sich um Maxim Gorkis ›Nowaja Shisn‹ scharen […]; die Minderheit der Bolschewiki, die heute unter Rjasanows Führung die Diktatur von Lenin und Trotzki bekämpft [sic!]. Wir fassen diese Gruppen als ›Internationalisten‹ zusammen [sic sic!] […] Sie haben gegen rechts und gegen links die Aufgabe erfüllt, die dem Marxisten obliegt: sich nicht, wie die Menschewiki, gegen das Proletariat zu stellen [3x sic!][…], aber auch nicht, wie die Bolschewiki, selbst in den jeweiligen Illusionen des Proletariats aufzugehen [???], sondern gegen diese Illusionen die überlegene Einsicht zu verfechten, die die marxistische Analyse der Entwicklungs- und Kampfbedingungen uns verleiht
»In stürmischen Zeiten siegen stets die Extreme von rechts und links: das Zentrum ist vorübergehend immer zur Machtlosigkeit verurteilt [Tja]. Aber nur Erfolgsanbeter sehen darin den Beweis, dass das Zentrum, der ›Sumpf‹, im Unrecht sei [nanu!] […] Die Geschichte wird schliesslich, in Russland wie überall, dem ›marxistischen Zentrum‹ […] recht geben.«

Aber was sollten dann die österreichischen und sonstigen Gesinnungsgenossen der Menschewiki à la Martow in den fortgeschrittenen Ländern tun? Der Artikel schliesst vorsichtig ab:

»Die Oktoberrevolution war ein Sieg des russischen Proletariats. Die Bolschewiki sind heute die Wortführer des russischen Proletariats, an ihr Schicksal ist das Schicksal der russischen Arbeiterklasse gebunden. Darum gebühren ihnen unsere Sympathie und, soweit wir sie zu leisten vermögen, unsere Hilfe, wie sie dem kämpfenden Proletariat aller Länder gebühren. Gehässige Angriffe auf die Bolschewiki[…] sind eine grobe Verletzung der Pflichten, die aus der internationalen Solidarität des Proletariats erwachsen. Gegen die Bourgeoisie, die die Bolschewiki […] bekämpft, müssen wir uns an die Seite der Bolschewiki stellen […] Aber daraus folgt natürlich nicht, dass wir alle Illusionen der Bolschewiki teilen. Der Marxismus hat gegen die Illusionen, die der Augenblick hervorruft, die Lehren zu verfechten, die in der geschichtlichen Erfahrung, in dem Einblick in die historischen Entwicklungstendenzen begründet sind. Indem der Marxismus diese Aufgabe erfüllt, gerät er unvermeidlich in den Kampf gegen Verirrungen rechts und Illusionen links […] Die Österreichischen Marxisten, die sich auf dem Parteitag [der SPÖ] als ›die Linke‹ bezeichnet haben, haben die Grundsätze der marxistischen Politik zu vertreten, sowohl gegen den Opportunismus zu unserer Rechten, der unsere Aufgabe in der Anpassung des Proletariats an den kapitalistischen Staat überhaupt und den österreichischen Nationalitätenstaat im besonderen erblickt, wie gegen den ›Linksradikalismus‹, der links der ›Linken‹ liegt und dessen Grundirrtum der Wahn ist, das Proletariat brauche, ohne die objektiven Bedingungen seiner Kämpfe und seines Sieges zu beachten, nur zu wollen, um die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben

Was für ein trauriges Bild zeigt sich da fünfzig Jahre später beim Lesen dieses alten, verstaubten Artikels! Von der Überzeugung getragen, eine Revolution im europäischen Massstab zu beginnen, die der Bourgeoisie die geschichtliche Rechnung für den von ihr entfesselten Imperialistischen Krieg präsentieren würde, hatte sich das russische Proletariat mit den Bolschewiki an der Spitze heldenhaft geschlagen und bereitete sich darauf vor, den Kampf mit unvermindertem Siegeswillen fortzusetzen; es hatte den imperialistischen Krieg in seinem Lande revolutionär abgebrochen und rief das internationale Proletariat dazu auf, diesem Beispiel zu folgen; es hatte einen vollkommen neuen Staat errichtet, der selbst die Mängel der Pariser Kommune Überwand und die marxistische Losung der »Diktatur des Proletariats« mit Leben erfüllte. Dieser Staat zeigte der Arbeiterklasse der ganzen Welt, wie man ein grosses Land ohne Parlamentarismus regieren kann und regieren muss, wie man der Grossbourgeoisie alle Macht entreissen kann und entreissen muss, wie man den Schwankungen der Kleinbourgeoisie widerstehen kann und widerstehen muss: und sehr bald sollte er zeigen, wie ein entschlossenes und diszipliniertes Proletariat den Sieg im Bürgerkrieg davon trägt. Und worin sehen die »sozialistischen Führer« des Westens demgegenüber ihre ganzen revolutionären Pflichten? Darin, dass sie dem russischen Proletariat »vergeben«, dass es sich der kleinbürgerlichen Mehrheit nicht unterworfen hat, dass es die heiligen Prinzipien der Demokratie verletzt hat; darin, dass sie den Bolschewiki einräumen, diese hätten eine breite und begeisterte Unterstützung im Proletariat und in den Volksmassen (und das war sowieso nicht zu leugnen); darin, dass sie in ihr Lob für die Menschewiki einige Worte des Tadels einfliessen lassen! Ihnen scheint aber nichts dringender zu sein, als den Bannfluch zu schleudern gegen den revolutionären Willen, die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben, als ausgerechnet die Bolschewiki über den Unterschied zwischen dem jeweiligen »Prinzip der industriellen Organisation« des Syndikalismus und des Sozialismus aufzuklären und dozierend über den zentralistischen Charakter des Sozialismus zu belehren! Geht es um die Aufgaben einer marxistischen Partei zu Zeiten des auf die Spitze getriebenen Klassenkampfes, so beschränkt sich ihre Weisheit allerdings darauf, dass sich diese Partei nicht gegen das Proletariat stellen soll. Dass diese Partei den Kampf organisieren und führen muss, weil die Revolution sonst nicht einmal stattfindet, das fällt ihnen nicht im Traume ein; im Gegenteil, sie erheben die ewigen Schwankungen, die ewige Zaghaftigkeit der »Menschewiki-Internationalisten« á la Martow zum universellen Vorbild. Die Krönung des Ganzen liegt aber darin, dass sie die russische Revolution, nachdem sie ihre geschichtliche Notwendigkeit feststellten, doch auf die übliche heuchlerische Art verurteilen, weil die »objektiven Bedingungen« der russischen Wirtschaft die Einführung des Sozialismus nicht erlauben. Sie gehen aber mit keinem Wort auf die Frage ein, warum eigentlich die »objektiven Bedingungen« des industriellen und fortgeschrittenen Westens ihrerseits auch jede Hoffnung auf eine Abschaffung des Kapitalismus nach der Eroberung der politischen Macht untersagen sollten. Die Meister des Kampfes gegen die »Illusionen« haben als Antwort auf diese Kernfrage nur eine Hoffnung zu bieten: In einer fernen Zukunft, wenn das Proletariat die absolute Mehrheit der Gesellschaft stellen wird, kann es hoffen, »auf Grundlage der Demokratie die Macht im Staate zu gewinnen und durch den demokratischen Staat die Industrie zu beherrschen«!!! Das soll die »überlegene« Einsicht sein, die »die marxistische Analyse der Entwicklungs- und Kampfbedingungen« bietet, die einzige »realistische« Einsicht! Nach dem Geheimnis für die Übermacht der weltweiten bürgerlichen Reaktion nach dem Oktobersieg, für die Schwäche der sozialen Bewegung des Westens in der Nachkriegszeit, wovon der Stalinismus nichts anderes war als die lokale Manifestation in Russland, braucht man nicht länger zu suchen: Als die Stunde des Todeskampfes geschlagen hatte, fuhr die Mehrheit des Proletariats fort, »Führern« dieser Sorte zu folgen!

Dies einmal gesagt, so bleibt noch die Frage, ob die fünfzig darauffolgenden Jahre die sozialdemokratischen Vorhersagen bestätigt haben. Denen zufolge sollte ja die »Zukunft dem Zentrum gehören«, was soviel bedeutet, als dass das Proletariat demokratisch, ohne bewaffnete Revolution, an die Macht gelangen würde, um mit Hilfe des vorhandenen Staatsapparates nach dem Taktschlag der Kautsky, Bauer, Martow usw. die Sozialistische Umgestaltung (ohne Abwehrversuche seitens der Bourgeoisie!) zu vollziehen. Hätte die Geschichte diese Prognose bestätigt, so bliebe dem Kommunismus nichts anderes übrig, als den Kopf zu senken, den eigenen Fehler zuzugeben und gleichzeitig den sozialdemokratischen Vorwurf einzustecken, er trage die geschichtliche Verantwortung für die schreckliche stalinistische Phase[112]. Wie wir oben ausführten, könnte die sozialdemokratische »Lehre« nur unter dieser Bedingung als eine geschichtliche Lehre eingestuft werden, statt die langweilige Wiederholung eines Schlagwortes der Sorte: »Wenn man nicht geschlagen werden will, soll man sich nicht schlagen«, darzustellen.

Ein auch nur flüchtiger Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre dürfte jedoch ausreichen, um zu beweisen, dass die Wirklichkeit die sozialdemokratischen Erwartungen einer fortschreitenden Auflösung aller möglichen Gegensätze, eines Siegeszuges der friedlichen Methoden, eines idyllischen gesellschaftlichen Fortschritts völlig zerschlagen hat. Denkt man an die unerhörten Schrecken der Krisen, des zweiten imperialistischen Weltkriegs, der Kolonialkriege, der brutalen Unterdrückung, die sich nicht nur in Russland (wegen der »Verwüstungen der kommunistischen Revolution«, wie die Sozialdemokraten zu verstehen geben) entfesselte, sondern auch in Italien, in Spanien und nicht zuletzt in Deutschland, dem verheissenen Land der Sozialdemokratie, kurzum denkt man an die ganze Atmosphäre von Tragödie und Abstumpfung, die unser schönes Jahrhundert charakterisiert und durch den militärischen Sieg der demokratischen Mächte über die faschistischen keineswegs weniger erdrückend wurde, dann erscheint das völlige Fiasko des Sozialdemokratismus schon deutlich genug.

Und deshalb, weit davon entfernt, den geschichtlichen Vorteil des Fortbestehens des Kapitalismus, bzw. des Scheiterns einer europäischen Revolution nach dem Oktober 1917 beweisen zu können, sah sich die Sozialdemokratie vielmehr von der Geschichte genötigt, sich selbst zu liquidieren, nicht nur als »Arbeiterpartei«, sondern überhaupt als die eigenständige Partei und politische Strömung, die sie zum Unheil des Proletariats gewesen ist. Sie lebt nunmehr entweder als Gespenst der Vergangenheit, das im Schatten der grossen bürgerlichen Parteien ein verachtetes Dasein fristet, oder lieferte selbst lediglich den Apparat für eine der grossen bürgerlichen Parteien unserer Tage.

Sollte die Betrachtung der zeitgenössischen Wirklichkeit den Leser vielleicht noch nicht von dieser Tatsache überzeugt haben, So braucht er sich nur für einen Augenblick mit dem sozialdemokratischen Selbstverständnis der eigenenGeschichte zu befassen. Ausgehend von dem Gesamtbild seiner Partei, das der Ideologe Carlo Schmid (Vorstandsmitglied der SPD) periodisch wiederholt, skizzieren wir nachstehend diesen Liquidierungsprozess, dessen Ursachen einzig und allein im schreienden Widerspruch zwischen dem ursprünglichen Zukunftsbild des sozialdemokratischen Opportunismus und der geschichtlichen Wirklichkeit liegen.

In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg – erzählt Herr Schmid zur Erbauung seiner Parteigenossen – »erlaubte ein gezähmter ›Marxismus‹ die Fiktion des revolutionären Charakters der Sozialdemokratie aufrechtzuerhalten. Auch konnte man damit die verschiedenen Strömungen der sich immer mehr differenzierenden Partei ohne sichtbaren Bruch in einer in sich geschlossenen Organisation integrieren«

Es kam der Krieg, und die Partei fiel bekanntlich in den Sozialchauvinismus, was schliesslich zur Spaltung und später zur Entstehung der spartakistischen kommunistischen Partei führte. Beides erfolgte übrigens im Lichte des Marxismus viel zu spät.

»Es kam die Revolution des November 1918. Sie war von der Partei weder geplant noch gewollt«. Man bedenke, dass es sich nicht einmal um eine Revolution handelte, sondern nur um die Agitationswelle, die zur Abdankung des Kaisers und zur Ausrufung der parlamentarischen Republik im November 1918 führte! »Aber als sie kam, hat sie [die SPD] mutig die Verantwortung für Deutschland übernommen«[113]. »Die erste Etappe der Überführung des autoritären Bismarck-Reichs in ein parlamentarisches System war im wesentlichen ihr Werk«. Die »Erbitterung breiter Schichten des Volkes« war gross und ebenso die »Versuchung«, auf eine »extremistische Linie«, die zur Diktatur des Proletariats geführt hätte, einzuschwenken. Die Sozialdemokratie hat sich dieser Versuchung widersetzt und die Demokratie vor der Diktatur des Proletariats gerettet – besser könnte sie ihre konterrevolutionäre Rolle übrigens nicht zeigen.

Und zu welchen »sozialistischen« Ergebnissen führte diese »patriotische« Politik, die »jede Gewaltherrschaft, von wem sie auch komme«, bekämpfen wollte? Im Laufe der vierzehn Jahre Lebensdauer der Weimarer Republik beteiligten sich die Sozialdemokraten mit Unterbrechungen zweieinhalb Jahre an der Reichsregierung. Sie wurden an die Macht gerufen, wenn die Lage – wie Herr Schmid sagt – »prekär« war. Der Leser wird sich noch daran erinnern, dass der eingangs zitierte Austromarxist vorausgesagt hatte, die Zukunft werde dem Zentrum gehören. Er hatte seiner »Hoffnung« Ausdruck verliehen, man werde »auf Grundlage der Demokratie die Macht im Staate gewinnen und durch den demokratischen Staat die Industrie beherrschen«, Die Gründe, weshalb die Bourgeoisie in »prekären« Lagen die Sozialdemokratie an die Macht ruft, sind offensichtlich: in solchen Lagen sind die Massen »erbittert« und unterliegen der »Versuchung einer extremistischen Linie«, die zur Diktatur des Proletariats führen könnte. Die Bourgeoisie braucht dann die tatkräftige Hilfe einer »Arbeiterpartei«, welche diesen »undemokratischen Versuchungen« widersteht. Es zeigt sich wieder einmal, dass die Wählermasse zwar abstimmt, die Bourgeoisie aber bestimmt. Zur »theoretischen Überlegenheit des deutschen Sozialismus« sagt Herr Schmid ein erhellendes Wort: »Die Programme führten gelegentlich eine andere Sprache, wohl aber vor allem aus der Befürchtung, es könnten Arbeiterwähler in radikalere Parteien abwandern. Das Heidelberger Programm von 1925 gab sich noch genug sozialistisch […] Die Partei war [aber] nun dezidiert reformistisch geworden. Der Leipziger Parteitag von 1931 hat dieses ausdrücklich bestätigt«, Mit anderen Worten, für die Sozialdemokratie war die Demokratie nunmehr ein Wert an sich[114].

»Es kam das Jahr 1933. Es kam das Ermächtigungsgesetz […] Die Konzentrationslager taten sich für die Mitglieder der Partei auf; andere mussten ins Elend fliehen«. Was tat diese Partei, die verkündet hatte: »Jede Gewaltherrschaft, von wem sie auch komme, werden wir bekämpfen bis zum äussersten« (Ebert)? Sie hielt eine – parlamentarische Rede: »Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht…«. Gegen die Drohung einer proletarischen Gewaltherrschaft hatte sie schon andere Mittel eingesetzt.

Nach dem Krieg musste die Partei ihre ganze Ideologie neu durchdenken. Das ist verständlich, denn eine durch eine Parlamentsrede gerettete Ehre war wohl keine ausreichende Grundlage mehr für die Aufrechterhaltung der alten Ideologie. Die Ergebnisse dieser Revision (die Revision einer Revision) liegen im »Godesberger Programm« von 1959 verankert. Die Partei betrachtet sich nicht mehr als marxistisch. Bereits seit Kriegsende war »der Übergang von der Klassenpartei zur Volkspartei endgültig vollzogen«. Bereits 1949 hatte die Partei »ein rückhaltloses Bekenntnis zur Demokratie mit allen ihren Konsequenzen« beschlossen. Die wichtigste Konsequenz liegt wohl darin, dass man die Demokratie vor dem Faschismus zwar nicht retten kann, wohl aber deren Ehre (sprich Fassade), während man angesichts des revolutionären Proletariats die Mittel von Noske und Seeckt einsetzt.

Aber die Demokratie, die die Sozialdemokraten anstreben, ist keine »Sammlung von Spielregeln für den Austrag widerstreitender Interessen«. Man müsse vielmehr »taugliche Gesetze schaffen […] die den Arbeiter und den Angestellten im Wege der wirtschaftlichen Mitbestimmung vom Untertan im Betrieb zum Betriebsbürger [sic!] machen. Wir halten das Privateigentum für eine Voraussetzung dafür, dass der einzelne sein persönliches Dasein im vollen Umfang sittlich zu verantworten vermag, und wir wollen darum Eigentum so breit wie möglich streuen« (Wer hatte die russische Revolution bekämpft, weil sie angeblich das Privateigentum nicht würde überwinden können ?). »Wir sind für die Freiheit des Unternehmens; aber wir halten Ballungen wirtschaftlicher Macht für eine Gefahr für die reale Demokratie, und wir wollen sie darum durch demokratische Einrichtungen kontrolliert wissen«.

Die Sozialdemokratie war die Negation des proletarischen Marxismus und sah nach dem 1. Weltkrieg ihr vornehmstes Werk darin, diejenigen zu bekämpfen, die den Kapitalismus revolutionär abschaffen wollten. Sie begründete ihre konterrevolutionäre Rolle mit der Theorie einer automatischen Wirtschaftsentwicklung zum Sozialismus hin. Jetzt, an dem obigen Punkt angelangt, vollbringt sie das Kunststück, sich selbst zu negieren: »Wir […] glauben nicht mehr an die Magie einer zielstrebigen Dialektik der Geschichte; die Geschichte hat nichts ›im Sinn‹ […] Aber gemacht wird sie von Menschen, die etwas bestimmtes ›im Sinne haben‹, nämlich eine Vorstellung des Schönen, des Guten, des Nützlichen und so fort. Die Idee, nicht die ›Tatsächlichkeit‹ ist das Prinzip der Handlungen, mit denen wir Geschichte machen. Die Idee aber ist nicht eine Ableitung aus ökonomischen Tatbeständen; diese sind der Idee gegenüber sekundär: in ihnen realisiert sich nach und nach im Material der Geschichte das Ideal der Menschheit.« Und so weiter, und so fort.

Zusammenfassend: Zum Zeitpunkt der russischen Revolution proklamierte der deutsche Sozialdemokratismus sehr erhaben seine »wissenschaftliche Überlegenheit« und damit seine praktische Überlegenheit gegenüber dem Kommunismus. Aus der stalinistischen Konterrevolution meinte er den Beweis dafür ziehen zu können, dass man mittels gewaltsamer Revolution und Diktatur nicht zum Sozialismus gelangen kann, den Beweis dafür, dass eine Verletzung der heiligen Prinzipien der Demokratie uns dem Sozialismus nicht näher bringt, sondern im Gegenteil von ihm unwiderruflich entfernt. Nun, nach dem Geständnis einer ihrer angesehensten offiziellen Vertreter – einer der wenigen, die sich mit »theoretischen« und »geschichtlichen« Fragen befassen sah sich die Sozialdemokratie mindestens zweimal (1931 und 1959) gezwungen, ihre eigene Liquidierung öffentlich bekannt zu geben; mit anderen Worten, sie musste anerkennen, dass die Wirklichkeit selbst ihre Auffassungen liquidiert hatte und ihr für die Vertretung ihrer politischen Linie keinen anderen Weg offen liess, als die vollständige Übernahme der gesamten Doktrin der kapitalistischen Bourgeoisie mit all ihren Konsequenzen. Diese war die sozialdemokratische »Lehre« aus der Konterrevolution in Russland. Und das soll die »Lehre der Geschichte« selbst sein! Nein, Herrschaften! Einer derartigen »Lehre« kann man nicht das geringste Zugeständnis machen; in den kommunistischen Reihen darf man nicht die geringste demokratische Kritik an dem Bolschewismus dulden. Das ist es, was euer Weg erneut bestätigt. Doch das haben all diese »Linken« unserer Tage, die sich sämtlichst im Schlepptau der demokratischen Ideologie befinden, nicht begriffen und nicht begreifen können.

Die anarchistische »Lehre«

In der Zeit der zweiten Internationale konnte der Anarchismus oder »libertäre Kommunismus« für eine revolutionäre Bewegung, ja für eine radikalere Bewegung als der wissenschaftliche Sozialismus gelten; und nach dem Sieg des Stalinismus in der dritten Internationale kam er wieder in den Genuss dieses alten Ruhms. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Anarchismus hat zu keinem Zeitpunkt der Gewaltanwendung und dem bewaffneten Aufstand abgeschworen; die sozialdemokratische und später die stalinistische Abweichung vom Marxismus haben im Gegenteil die parlamentarische und legale Aktion für Sozialreformen, schlimmer noch für die Verteidigung der parlamentarischen Demokratie vor den Angriffen der bürgerlichen Rechten in den Vordergrund gestellt und sind schliesslich so weit gegangen, jede gewaltsame Aktion des Proletariats als Abenteuer und Provokation zu denunzieren. Wenn in unseren Tagen das Vorurteil, der Anarchismus sei viel extremistischer als der Marxismus, fest verankert ist, so hängt das mit diesen historischen Gründen zusammen. In Wirklichkeit doch verhält sich die Sache genau umgekehrt. Ursprünglich, d. h. in der Epoche der Polemik Marx gegen Proudhon (1847), musste der wissenschaftliche Sozialismus den Anarchismus als einen »bürgerlichen Sozialismus« entlarven, dessen Führer sich gegen den Klassenkampf und die Revolution stellte. Später, in der ersten Internationale (1864–72) mussten Marx, Engels und ihre Anhänger gegen Bakunin, den Schüler Proudhons, kämpfen, aber nicht etwa weil er »viel zu radikal« wäre, sondern weil er einem inkonsequenten Revoluzzertum nachging (das er selbst als »einen weiter entwickelten und bis zu den äussersten Konsequenzen geführten Proudhonismus« bezeichnete). Dasselbe gilt auch für die Beziehungen zwischen Lenin und den Anarchisten und Anarchosyndikalisten seiner Zeit. Sofern er, wie in jenen Epochen, aus keiner schändlichen Abweichung des Marxismus Kapital schlagen kann, muss sich der Anarchismus auf einen einzigen Vorwurf beschränken: Der wissenschaftliche Sozialismus sei nämlich »autoritär«. Nun hatte sich allerdings die proletarische und bolschewistische Republik des Jahres 1917 in einen nationalen Polizeistaat verwandelt, wo der Personenkult des grossen Stalin gepflegt wurde. Dies musste dem Anarchismus zwangsläufig wie eine schlagende Bestätigung für seine alte Kritik am Marxismus, bzw. für die Richtigkeit seiner eigenen Auffassung vom Sozialismus vorkommen. Ja, es gibt sogar wenige »Lehren« aus der russischen Konterrevolution, deren Suggestivkraft so gross wäre; ihr unterliegen selbst Leute, die die Revolution nicht abschreiben möchten. Allerdings liegt der erste und wesentliche Haken schon darin, dass die anarchistische »Lehre« aus der Konterrevolution nicht erst diese Konterrevolution abgewartet hat, um sich in ihrer ganzen Tragweite zu zeigen: Mitten im Bürgerkrieg, als das russische Proletariat gegen die vereinten Kräfte der internationalen Bourgeoisie kämpfen musste, nutzten die russischen Anarchisten die schwierige Lage, in der sich die rote bolschewistische Macht befand, rücksichtslos aus, um ihrer sogenannten »dritten Revolution« nach Möglichkeit zum Sieg zu verhelfen. Sie leisteten damit den Feinden des Kommunismus, die gemeinsam versuchten, die bürgerliche Ordnung wiederherzustellen, eine irrsinnige und unbewusste Unterstützung.

Diese geschichtliche Tatsache darf man nicht vergessen, selbst wenn man zur Ehre mancher russischer und europäischer (und insbesondere italienischer) Anarchisten festhalten muss, dass sie sich nicht so weit kompromittierten[115].

Aber der anarchistischen »Lehre« zufolge soll ja der Stalinismus eben den »Nachweis« für die inhärenten reaktionären Implikationen des »autoritären« Sozialismus von Marx und Lenin erbracht haben. Was kann das bedeuten? Es gibt in der Tat zwei Möglichkeiten: Entweder besagt das gar nichts, oder es bedeutet, dass die russischen Massen, wenn sie die Warnungen der Anarchisten erhört hätten, auch imstande gewesen wären, die stalinistische Konterrevolution zu vermeiden und den Sozialismus zu errichten. Diese zweite Möglichkeit könnte nur unter einer Bedingung plausibel sein, nämlich dass die Anarchisten im Kampf gegen die proletarische und kommunistische Macht, gegen die nicht-parlamentarische Macht im Russland der Jahre 1917–21, durch ihre Aktion wirklich einen dritten Weg eröffnet hätten. Dieser Weg müsste sich also sowohl von dem Weg der Vertreter der bürgerlichen Konstituante als auch von dem Weg der Verfechter der Diktatur des Proletariats unterscheiden. Er müsste aber auch nicht weniger als die Diktatur des Proletariats imstande sein, die Restauration zu verhindern. Dies haben die Anarchisten aber keineswegs getan und konnten es auch nicht tun. So begnügten sie sich damit, die Reihen eines der kämpfenden Lager – nämlich des kommunistischen Proletariats! – zu desorganisieren, womit sie gleichzeitig bewiesen, dass es nach dem roten Oktober keinen Platz für eine »dritte Revolution« gab.

Die anarchistische Kritik scheint sich gegen ein Prinzip des wissenschaftlichen Sozialismus, das politische Prinzip der Diktatur des Proletariats, zu richten. In Wirklichkeit richtet sie sich jedoch gegen die gesamte neue Auffassung, die der wissenschaftliche Sozialismus seit seiner Entstehung vertreten hat: Sie richtet sich gegen die materialistische Geschichtsauffassung. Heute, hundert Jahre später, haben sich die mehr oder weniger erklärten, mehr oder weniger treuen Schüler Bakunins jene »Neuheit« immer noch nicht angeeignet, hat sie ja die Niederlage der proletarischen Revolution in Russland wieder in die Arme ihrer antiquierten libertären Auffassungen zurückgeworfen.

Marx lieferte einmal eine lapidare Definition des wissenschaftlichen Sozialismus. Anhand dieser Definition kann man sehr gut zeigen, dass die Anarchisten, wenn sie ihn als »autoritären Sozialismus« kennzeichnen, doch nichts anderes tun, als der wirklichen Frage auszuweichen. Worauf es in Wirklichkeit ankommt, ist nicht, ob man sich im Absoluten und Abstrakten zum Anhänger der Autorität oder im Gegenteil der Freiheit erklären soll, sondern ob der Sozialismus ein Ideal oder eine geschichtliche Notwendigkeit und Unentrinnbarkeit darstellt.

»Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloss an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.« (»Brief an Weydemeyer«, 5.März 1852).

Jeder hat selbstverständlich das »Recht«, mit diesen drei grundsätzlichen Thesen nicht übereinzustimmen; niemand darf aber davon absehen, dass sie für Marx und alle wirklichen Marxisten aus der wissenschaftlichen Entdeckung eines objektiven Prozesses resultieren. Wenn die Marxisten diese Thesen als Parteiprogramm angenommen haben, so hängt das folglich nicht damit zusammen, dass die Thesen etwa einer geheimnisvollen Vorliebe für die Autorität entsprechen, sondern weil nach ihrer Überzeugung darin der ganze Sinn der Geschichte enthalten ist. Dieser Auffassung vorzuwerfen, sie sei »autoritär«, ist barer Unsinn. Hier wäre ein einziges Argument zulässig, nämlich der Beweis, dass die Geschichte selber nicht »autoritär« ist, sondern sich faktisch dem mit der grossen französischen Revolution entstandenen Freiheitsideal unterordnet, was in unserem imperialistischen und totalitären Jahrhundert eine freilich besonders unhaltbare These ist. Es geht also um das gestellte Dilemma: Entweder hat es überhaupt keinen Sinn, zu behaupten, die russische Konterrevolution habe die anarchistische Kritik am Marxismus bestätigt, oder es bedeutet ganz einfach dass die Konterrevolution bewiesen hat, der historische Materialismus sei falsch und entspreche nicht den wirklichen Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung. Nun, einen solchen Beweis hat der Anarchismus niemals erbracht; er hat ja nicht einmal versucht, an die Beweisführung überhaupt heranzugehen. Das war von ihm allerdings, auch nicht zu erwarten, denn er hat sich immer auf den abstrakten Boden des Ideals und niemals auf den Boden der Wirklichkeit einer Klassengesellschaft gestellt. Im übrigen genügt es, die Frage richtig zu stellen, und schon wird ersichtlich, dass die russische Konterrevolution einen solchen Beweis auch niemals hätte liefern können: Wann hat der wissenschaftliche Sozialismus bitte je behauptet, dass das Proletariat, wenn es nun einmal die Macht erobert und seine Diktatur errichtet hat, dann auch unfehlbar zum Sozialismus gelangen wird, unabhängig von den national und international vorhandenen ökonomischen und politischen Bedingungen, unter denen sich dieses Ereignis abgespielt haben würde?

Dass aber der Gegensatz von Marxismus und Anarchismus alles andere ist als ein Gegensatz zwischen Autoritätsanbetern auf der einen und Freiheitsanbetern auf der anderen Seite, geht schon aus einigen anarchistischen Zitaten, bzw. aus ihrer Gegenüberstellung mit dem obigen Marx-Zitat hervor. À tout seigneur tout honneur: Wir fangen mit Proudhon, dem Vater des Anarchismus, an, selbst wenn er seinen ehemaligen Rang inzwischen schon lange an Bakunin und an die Anarchosyndikalisten abtreten musste. Warum bekämpft Proudhon den Kommunismus oder, nach seinen Worten, das bürokratische, diktatorische, autoritäre, doktrinäre System des Staatskommunismus? Weil der Kommunismus, wie »der Sklave, der von jeher den Herrn nachgeäfft hat«, »wie ein Heer, das dem Feinde seine Kanonen weggenommen hat«, vorhabe, »gegen das Heer der Besitzenden dessen eigene Artillerie« d. h. die Staatsmacht »zu kehren«; weil die Diktatur des Proletariats ihre »Formeln und Grundsätze dem alten Absolutismus entliehen« habe: »Herrschaft einer unteilbaren Staatsgewalt – völlige Zentralisierung – systematische Zerstörung jedes persönlichen, korporativen und lokalen, möglicherweise die Eintracht gefährdenden Gedankens – inquisitorische Polizei«; weil die Diktatur des Proletariats schliesslich nichts anderes sei, als »eine feste Demokratie, scheinbar auf der Diktatur der Massen begründet, aber in der die Massen nur soviel Macht haben, wie zur Sicherung der allgemeinen Sklaverei notwendig ist«. Sicherlich können die heutigen Anarchisten, nachdem Marx vor nunmehr 120 Jahren die bürgerliche Natur des Proudhon’schen Sozialismus[116] aufgezeigt hat (der arme Proudhon hat übrigens nie versucht, Marx’ Kritik an seiner »Philosophie des Elends« zu entgegnen), gut auf Proudhon verzichten. Nicht jedoch auf den aufständischen Bakunin, den unbestreitbaren Helden jedes Libertären. Und doch singt Bakunin unverwechselbar dasselbe Lied wie Proudhon; er muss es singen, denn, wie er einmal ohne falsche Rücksichten zum Besten gab:

»Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist, und weil ich mir nichts Menschenwürdiges ohne Freiheit vorstellen kann. Ich bin deshalb nicht Kommunist, weil der Kommunismus alle Macht der Gesellschaft im Staat konzentriert und aufgehen lässt, weil er notwendig zur Zentralisation des Eigentums in den Händen des Staates führen muss, während ich die Abschaffung des Staates wünsche, die radikale Ausrottung des Autoritäts-Prinzips und der Vormundschaft des Staates, die, unter dem Vorwand, die Menschen sittlich zu erziehen und zu zivilisieren, sie bis heute versklavt, unterdrückt, ausgebeutet und verdorben hat. ich wünsche die Organisation der Gesellschaft und des kollektiven und sozialen Eigentums von unten nach oben auf dem Weg über die freie Assoziation und nicht von oben nach unten mit Hilfe irgendeiner Autorität, wer immer sie sei […] genau in diesem Sinne bin ich Kollektivist und keinesfalls Kommunist« (von uns hervorgehoben, IKP).

Für Proudhon bildet also die Staatsgewalt die spezifische Waffe der »Besitzenden« d. h. der Bourgeoisie, und die Unterdrückten könnten sie nicht mit Nutzen gebrauchen; für Bakunin ist sie das »Prinzip«, das zur Verderbtheit führt. Nun, der Staat ist weder das eine noch das andere. Alle in Klassen geteilten Gesellschaften haben den Staat gekannt, und die Gesellschaft, die aus dem Sturz der bürgerlichen Herrschaft entstehen wird, kann nicht von heute auf morgen jede Klassenteilung überwinden: Sie wird daher ebensowenig auf eine Staatsgewalt völlig verzichten können. Wenn diese Institution alle Klassengesellschaften charakterisiert, so ist das in der Tat nicht darauf zurückzuführen, dass die Menschheit solange unter einer Prinzipienverwirrung litt, bis eines Tages die Doktrinäre Proudhon und Bakunin als neue Erlöser erschienen, um sie davon zu heilen. Der Grund liegt woanders: Solange es Klassen gibt, solange kämpfen diese Klassen versteckt oder offen, aber immer zwangsläufig gegeneinander, und der Staat ist notwendig, um den Bestand der jeweiligen Gesellschaft zu sichern. Es genügt, im »Anti-Dühring« oder im »Ursprung der Familie« die herrlichen Sätze nachzulesen, die Engels über diese Frage schreibt, um sich der ganzen Überlegenheit der materialistischen Erklärung der Geschichte über die Wahrsagungen der anarchistischen Propheten zu Überzeugen:

»Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heisst eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äusseren Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unserer Zeit der Bourgeoisie« (»Anti-Dühring«).

»Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von aussen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er ›die Wirklichkeit der sittlichen Idee‹, ›das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft‹, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ›Ordnung‹ halten soll« (»Ursprung der Familie«).

Nicht anders als die Ausbeuterklassen der Vergangenheit wird sich auch das Proletariat mit dieser Notwendigkeit konfrontiert sehen, allerdings nur im Laufe einer geschichtlichen Übergangsperiode. Revolutionär zu sein bedeutet nur, dies zu erkennen, zu akzeptieren und zum gegebenen Zeitpunkt in die Praxis umzusetzen, wie Lenin und die Bolschewiki es in Russland getan haben. Wer dem Proletariat das Recht abspricht, die »Artillerie«, die der Staatsapparat darstellt, gegen den Klassenfeind zu kehren, wer die folgenreiche Originalität der Forderung Diktatur des Proletariats nicht einsieht und darin lediglich eine Nachahmung der Vergangenheit, einen Rückschritt gegenüber der bürgerlichen Demokratie, ja eine Rückkehr zum alten Absolutismus erblickt, der muss schon wie Proudhon »die revolutionäre Aktion als Mittel zu sozialen Reformen« ausdrücklich verwerfen! Also muss das Proletariat seinen eigenen Staat aufrichten, d. h. es muss organisierte Gewalt anwenden, um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen; es darf nicht die »Abschaffung des Staates« verkünden, die Waffen strecken, um dann wehrlos zuzusehen, wie die ganze alte Ordnung von Neuem wiederhergestellt wird. Was als eine irrsinnige Auffassung erscheinen könnte, eine blosse Nachwirkung überholter Gedanken, ist in Wirklichkeit, in der harten Wirklichkeit des Klassenkampfes, eine Frage, die über Leben und Tod entscheidet. Wie weit aber die doktrinäre Blindheit der Anarchisten geht, zeigt sich sehr deutlich am Beispiel Volins, eines russischen Anarchisten, der gegen die Bolschewiki für die vermeintliche »dritte Revolution« gekämpft hat. In seinem Buch »Die unbekannte Revolution« liefert Volin die anarchistische Fassung der grossen Ereignisse, die sich zwischen 1917 und 1920 in Russland abspielten. Ausgerechnet aus diesen Ereignissen meinte Volin den »formalen Beweis« dafür ziehen zu können, dass die Frage einer neuen politischen Macht keine Rolle in der Revolution spielt. Er schreibt:

»Wenn die soziale Revolution dabei ist, den Sieg zu erringen, wenn Kapital, Grund und Boden, Fabriken Verkehrsmittel und Geld dabei sind, in die Hände des Volkes überzugehen, und die Armee gemeinsame Sache mit dem Volk macht, dann sind die Sorgen um die ›politische Macht‹ restlos überholt. Welche Rolle könnte es dann noch spielen, wenn die geschlagenen Klassen aus Tradition versuchen sollten, eine zu bilden?«

Soll man sich denn nicht darum ›sorgen‹, der Bourgeoisie die Kontrolle über Verwaltung, Polizei und Armee zu entreissen? Nein, lautet im wesentlichen die Antwort, die der russische Anarchist Volin im Feuer des Gefechtes gab. Und die Umtriebe der zaristischen und bürgerlichen Kräfte, der ausländische Imperialismus, die drohende politische Konterrevolution? Keine Sorge, das ist alles traditionalistisches, überholtes Gedankengut, sagte Volin und beeilte sich zu erklären:

»Die politische Macht ist keine Macht an sich; sie ist nur solange eine Macht, solange sie sich auf Kapital, Staatsgerüst, Armee und Polizei stützen kann. Fehlen diese Stützen, so bleibt sie ›in der Luft‹ hängen, ist machtlos und kann keine Initiative entfalten. Dafür liefert die russische Revolution ja den formalen Beweis«.

Es war kein Verrückter und auch kein Vertreter der Bourgeoisie, der so gesprochen hat: Es war ein russischer Anarchist, der davon überzeugt war, »revolutionär« zu sein!

Nun, selbst im Laufe einer unaufhaltsamen sozialen Revolution bleiben die Bourgeoisie und ihre Parteien keineswegs »in der Luft hängen«, sie verlieren nicht absolut und definitiv ihre Stützen in der Bevölkerung. Dafür hat die russische Revolution den »formalen Beweis« geliefert. Deshalb bleibt auch nach dem militärischen Sieg über den Hauptfeind die Notwendigkeit einer Staatsmacht bestehen, damit die Gesellschaft »sich nicht in einem fruchtlosen Kampf verzehre«, damit sie »in den Schranken der Ordnung« bleibe. Und darin liegt auch das ganze Geheimnis der NEP, der Politik, die im Rahmen einer Industrialisierung Russlands unter der Kontrolle der proletarischen Partei dem Proletariat die Unterstützung der Bauernschaft sichern wollte. Die Spätere Entwicklung war sicherlich verheerend, dies hat aber nichts mit der »Zentralisation des Eigentums in den Händen des Staates« zu tun, denn gerade der riesige Sektor der russischen Landwirtschaft entzog sich in der Praxis völlig einer Kontrolle durch den Arbeiterstaat. Aber so verheerend die spätere Entwicklung auch gewesen sein mag: was die russische Revolution formal und endgültig bewies, war nicht zuletzt die Unfähigkeit des Anarchismus, die Wirklichkeit zu begreifen und sich auf die Höhe der Anforderungen des radikalen proletarischen Kampfes zu stellen; war nicht zuletzt seine konterrevolutionäre Rolle, sobald er versucht, die Wahnvorstellung seiner Ideologen in den Massen zu verbreiten und gegen die Geschichte durchzusetzen.

Die »Lehre« der Selbstverwaltungs-sozialisten

Wie wir oben gesehen haben, verwarf der Anarchist Bakunin die »Zentralisation des Eigentums in den Händen des Staates«; er charakterisierte seinen »Sozialismus« als eine »Organisation der Gesellschaft und des kollektiven und sozialen Eigentums von unten nach oben auf dem Weg über die freie Assoziation«. Ähnliches sollte später (in den Jahren 1920–21) eine sogenannte Arbeiteropposition (u. a. Kollontai, Mjasnikow und Schljapnikow, auf die sich in jüngster Zeit einige Gruppen berufen haben) innerhalb der bolschewistischen Partei vertreten. Diese Opposition verwarf die Autorität von Partei und Staat über die Wirtschaft und bekämpfte die zentrale Leitung der Industrie. Ihr zufolge sollten die Entscheidungen in diesem Bereich von den »Produzenten selbst« getroffen werden, d. h. von einem »Gesamtrussischen Kongress der Produzenten«, dem einerseits die Bauern, andererseits die Betriebsräte angehören sollten. Was Bakunin im Namen der Freiheit gefordert hatte, forderte jetzt die »Arbeiteropposition« im Namen der proletarischen Interessen und als einzige Garantie gegen eine Verwandlung der Diktatur des Proletariats in eine Diktatur über das Proletariat. Die ökonomische Auffassung ist jedoch in beiden Fällen dieselbe, und man kann sie auch in Italien bei Gramsci wiederfinden[117]. Das Unglück liegt darin, dass die Revolution von 1917 zumindest als sozialistische Revolution scheiterte. Die von den Bolschewiki eingeführte zentrale staatliche Leitung der Industrie (es war ja leider nicht möglich gewesen, die ganze Wirtschaft zentral zu leiten) mündete nicht im Sozialismus sondern im modernen nationalen Kapitalismus Russlands. Das scheint unzähligen Leuten als ein historischer Beweis für die »prophetische Richtigkeit« der Auffassungen Bakunins, darunter vielen Leuten, die sich nicht auf den Anarchismus berufen. So geschah es, dass unsere selige Epoche in Sachen Sozialismus voll in den Proudhonismus zurückfiel (eingestandenermassen war Proudhon der Meister Bakunins, uneingestandenermassen von nicht wenigen Leuten). Seine grosse Formel lautet: »Sozialismus ja, aber in Freiheit«, der sich bestenfalls diese andere Formel zugesellt: »Diktatur des Proletariats ja, aber nicht über das Proletariat«. Dieser liberale Sozialismus der »freien Assoziation« der verschiedenen Betriebe, dieser »Selbstverwaltungssozialismus« zog eine »ganz grosse Lehre« aus der stalinistischen Konterrevolution: Der marxistische »Etatismus« führt nicht zur Abschaffung des Kapitalismus, sondern nur zur grausamen Herrschaft einer allmächtigen Bürokratie, oder mit anderen Worten: Die Klassenpartei hat keine Rolle in der ökonomischen Umgestaltung zu spielen, diese soll vielmehr der »Arbeiterklasse selbst« und den Produzenten im allgemeinen überlassen werden. Infolge der Suggestivkraft der Konterrevolution, und vor allem nachdem der Stalinismus die marxistische Auffassung von der Rolle der Partei in eine voluntaristische Karikatur verwandelt hat, d. h. die Partei so dargestellt hat, als könne sie den Sozialismus nach freier Verfügung aufbauen, vorausgesetzt, man gehorche ihr, ist diese »Lehre« wohl am schwersten zu entkräften. Und doch ist sie theoretisch so erbärmlich und praktisch so verheerend wie alle anderen, die wir bisher untersucht haben.

Die Anarchisten und ihre bewussten oder unbewussten Anhänger stellen ihre »Wirtschaft auf der Grundlage der freien Assoziation« und die »staatliche Wirtschaft« des marxistischen Kommunismus einander gegenüber; damit gehen sie aber von völlig falschen Voraussetzungen aus. Von »Assoziation«, von Vereinigung (ob sie nun frei ist oder nicht) kann man nur reden, wenn man die Existenz von selbständig verwalteten Produktionseinheiten voraussetzt. Man kann sich leider vorstellen, wie solche Produktionseinheiten aussehen würden nach dem Sturz der Ausbeuterklasse: Infolge der Revolution wären die bisherigen Betriebsleitungen verjagt worden, sodass die alten kapitalistischen Betriebe sich nunmehr ganz einfach in den Händen der Arbeiter befänden; an ihrer Seite stünden jene unzähligen kleinen Unternehmen von Stadt und Land, die trotz der vom Kapitalismus durchgeführten Konzentration der Produktivkräfte noch bestehen würden. Was heisst es, dass diese Produktionseinheiten sich nicht in »Staatseigentum« verwandeln sollen? Ganz einfach, dass sie ihre Verwaltungsautonomie beibehalten, d. h. keiner zentralen Reglementierung keiner zentralen Autorität untergeordnet werden sollen. Nur ihr Personal, das sich wahrscheinlich demokratisch nach Stimmenmehrheit ausdrücken wird, ist für sie zuständig, oder bestenfalls ein lokales Verwaltungskomitee, irgendeine (natürlich »gewählte«) örtliche Verwaltungsinstanz (vorausgesetzt, die Anarchisten sehen ein, dass ein so komplexer Organismus wie ein moderner Grossbetrieb nicht jeder Autorität entbehren kann, was allerdings fraglich ist). Wollen wir annehmen, eine solche Organisation gibt den Arbeitern in der Euphorie der Revolution das Gefühl, »frei« zu sein, haben sie sich ja der Wachhunde der Betriebsleitung entledigt. Wollen wir das provisorisch annehmen. Das Hauptproblem bleibt bestehen: Wie werden diese autonomen Betriebe zueinander in Verbindung treten? Unter dem Vorwand, die »Bürokratisierung« zu vermeiden, soll jede zentrale Entscheidung und Kontrolle beseitigt werden. Wie soll sich aber die Gesamtproduktion unter diesen Bedingungen dem Gesamtbedarf anpassen? Im Kapitalismus geschah das über den Umweg des Marktes, nebenbei gesagt nicht ohne jede zentrale Reglementierung. In der absurden Vorstellung, dass sich die Wirtschaft nach der Revolution den verrückten Auffassungen der Ideologen des »liberalen« oder »libertären« Kommunismus anpassen sollte, könnte es auch nicht anders gehen. Wenn aber die Verhältnisse zwischen den Betrieben und zwischen den zwei grossen Wirtschaftssektoren (Landwirtschaft und Industrie) über den Markt geregelt werden, dann können die marktwirtschaftlichen Verhältnisse auch innerhalb der einzelnen Betriebe und Sektoren keineswegs abgeschafft werden: Es gelten die Gesetze der Warenproduktion. Unter solchen Bedingungen können Lohnhöhe, Arbeitszeit. Arbeitsintensität, ja das Gewicht der Autorität in jeder Produktionseinheit keineswegs von den Arbeitern »frei« bestimmt werden, sie hängen nicht vom »Willen« der Arbeiter ab, »nicht ausgebeutet zu werden«! Man muss schon völlig ahnungslos sein, um etwas anderes anzunehmen. Die kapitalistische Ausbeutung, die Mehrwertauspressung, hängt unlöslich mit der Tatsache zusammen, dass der Kapitalismus ein System der Warenproduktion ist. Weil die Produkte Waren sind, ist auch die Arbeitskraft ebenso eine und damit der Proletarier ein Lohnsklave. Es ist geradezu absurd, zu glauben, man könne die Lohnarbeit – d. h. das System, in dem die materielle Lage des Proletariers vom Wert seiner Ware, seiner Arbeitskraft und zugleich von den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals abhängt – abschaffen, ohne die Warenproduktion abzuschaffen; und es ist nicht weniger absurd, zu glauben, man könne die Warenproduktion dadurch abschaffen, dass man die Bedingungen, aus denen sie resultiert, beibehält, nämlich die Existenz selbständiger Betriebe.

Man kann den Arbeitgeber und die bürgerliche Betriebsleitung durch jeden beliebigen »Betriebsrat« ersetzen, man kann diesen »Betriebsrat« nach dem demokratischsten Verfahren wählen lassen, mit anderen Worten man kann den kapitalistischen Betrieb durch einen genossenschaftlichen Betrieb ersetzen damit wird die notwendige Umgestaltung der sozialen Ökonomik um keinen Schritt vorankommen. Im vorigen Jahrhundert gab es mehrere Versuche der Arbeiter, Produktionsgenossenschaften zu errichten. Sie hatten das Verdienst, zu zeigen, dass der Kapitalist als Person überflüssig war; sie konnten der bürgerlichen Konkurrenz jedoch nicht widerstehen und scheiterten kläglich. Genau dasselbe würde sich ergeben, wenn jeder Betrieb eine Genossenschaft wäre; die Konkurrenz würde dann nicht mehr zwischen Arbeitergenossenschaften und bürgerlichen Fabriken, sondern lediglich unter den Arbeitergenossenschaften stattfinden. Diese hätten dann zwei Alternativen. Entweder könnten sie versuchen, anders zu funktionieren als kapitalistische Betriebe: Unter sonst bürgerlichen Bedingungen (Verbindung über den Markt) würden sie jedoch zugrundegehen. Oder sie würden zu überleben verstehen: Aber dann würden sie zwangsläufig wie kapitalistische Unternehmen funktionieren mit Betriebskapital, Löhnen, Profiten, Abschreibungs- und Investitionsfonds, Kredit, Zinsen usw. Die Konkurrenz unter ihnen wäre nicht abgeschafft, folglich auch nicht das Vertragswesen und ebensowenig das ganze Zivilrecht und die Staatsinstitution, die notwendig wäre, um dieses Recht zu schützen. Es stellt sich also sofort die Frage, worin denn diese »Assoziationen« wohl »freier« sein könnten als die kapitalistischen Unternehmen. Das ganze kapitalistische Zeitalter wurde von einem Prozess der Konzentration in immer grösseren Produktionseinheiten begleitet. Dieser Prozess vollzog sich unter dem Zwang der Konkurrenz und hatte demzufolge nichts »freies« oder »freiwilliges« an sich. Wie könnte er nun – unter Beibehalt dieser Konkurrenz einem freiwilligen, man weiss nicht von welcher hohen Sozialethik beseelten Prozess einer »freien Assoziation von unten nach oben« Platz machen? Die ganze Vergesellschaftung der Produktion (im Sinne von Anwendung assoziierter Arbeit und von Massenproduktion), die »auf dem Weg über die freie Assoziation von unten nach oben« zu vollziehen war, wurde bereits unter dem Kapitalismus vollzogen, vorbehaltlich des Ausdruckes »Freiheit« in Bezug auf einen so unentrinnbar determinierten Prozess. Eine »soziale Revolution«, die sich ganz einfach vornehmen würde, auf diesem selben Weg und mit diesen selben Mitteln fortzuschreiten, um irgendwann mal zur verschwommen erträumten kollektiven Wirtschaft zu gelangen; eine »soziale Revolution«, die sich darauf beschränken würde, die Akteure des gesellschaftlichen Dramas zu wechseln und anstelle der bürgerlichen Unternehmer und Konzerne die Betriebsräte oder die Arbeiterkooperative treten zu lassen, wäre so wenig eine soziale Revolution, dass sie sehr bald zwangsläufig zur Wiederherstellung aller alten Produktionsverhältnisse führen würde, und zwar um den Preis von Erschütterungen, die man sich am Beispiel der spanischen »Revolution« vorstellen kann. Eine solche »Revolution« würde den Staat nicht abschaffen, sondern im Gegenteil alle Bedingungen wiederherstellen, die ihn unerlässlich machen: Gerade die Freiheit und Autonomie der Assoziationen, die sie ja schützen will, wäre die Quelle aller möglichen Konflikte und inneren Reibereien; die Notwendigkeit einer allgemeinen und zentralen Autorität, um sie zu reglementieren, würde sich von selbst aufzwingen, was sogar ein individualistischer Anarchist wie Stirner noch fähig war, zu verstehen. Die Errichtung einer kollektivistischen Wirtschaft auf dem Weg über die freie Assoziation ist die Auffassung eines Heilpredigers; sie übernimmt die Theorien, die die Bourgeoisie in der Zeit ihrer eigenen Revolution gegen den alten absolutistischen Dirigismus richtete. Aber wenn die bürgerliche Konkurrenz das feudale Monopol sprengte, so führte sie in der Folge zum modernen kapitalistischen Monopol. Es ist absurd, zu glauben, man könne den kapitalistischen Zyklus hinter sich lassen und das Reich der Freiheit betreten, indem man das Rad zurückdreht, als könnte die Rückkehr zur Konkurrenz, auch unter veränderten Bedingungen, etwas anderes herbeiführen als das kapitalistische Monopol. Schon Marx hatte Proudhon auf das alles hingewiesen; »Freiheitssozialisten« können es jedoch nicht verstehen. Eine solche Auffassung entbehrt jedes Wirklichkeitsbezugs; sie bildet keineswegs jene verheissene geschichtliche Möglichkeit, die man den Selbstverwaltungssozialisten zufolge in Russland verpasst hätte (wofür natürlich der »Fehler von Lenin« und von den Bolschewiki und letztendlich die »etatistischen und autoritären Auffassungen des Marxismus« verantwortlich seien). Aber auch hier gibt es in der Tat nur zwei Möglichkeiten: Entweder gab es in Russland wirklich eine Alternative, und man versteht dann nicht, wie es möglich ist, dass selbst ein Stalin und eine noch so »totalitäre« Partei ausgerechnet die schlechteste Lösung – die kapitalistische – durchsetzen konnten, es sei denn, der historische Materialismus enthält nur Blödsinn; oder der historische Materialismus hat im Gegenteil Recht, wenn er behauptet, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse von der Entwicklungsstufe der Produktivkräfte abhängig sind: Wenn die Konterrevolution gesiegt hat, dann war kein anderer geschichtlicher Ausweg möglich, dann war die Alternative rein illusorisch. Wir können hier nicht die ganze Geschichte der Oktoberrevolution nachzeichnen. Will man aber die obige Behauptung verstehen, so braucht man sich nur an die verheerenden Folgen der naiven Selbstverwaltungsversuche der russischen Arbeiter zu erinnern. Die bolschewistische Partei musste sie bekämpfen, nicht nur um den Wirtschaftsruin als solchen aufzuhalten, sondern vor allem um zu verhindern, dass mit ihm die Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Weissen, die Kräfte des Zarismus und der bürgerlichen Konstituante, einherginge.

Wir haben den ersten Terminus von Bakunins Gegenüberstellung untersucht und gezeigt, dass dahinter eine reine Illusion steckt. Der zweite, nämlich die Kennzeichnung des Kommunismus als »staatliche Wirtschaft«, ist ein nicht zu übertreffendes Missverständnis. Die kommunistische Bewegung verleiht dem Arbeiterstaat und der revolutionären Partei, die diesen Staat regieren muss, eine erstrangige Rolle in der sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaft; für sie hat die Diktatur des Proletariats die Aufgabe, diese Umgestaltung durchzuführen, mehr noch, für sie ist diese Umgestaltung ohne die Diktatur des Proletariats unmöglich. Man kann den Kommunismus jedoch nicht als eine »staatliche Wirtschaft« bezeichnen, als eine Wirtschaftsordnung, die – wie Bakunin sagte »alle Macht der Gesellschaft im Staat aufgehen lässt« bzw. in welcher der Staat als Eigentümer der Produktionsmittel ad aeternum der Gesellschaft gegenüberstehen würde. Diese Auffassung ist typisch für den Philister, der den wirklichen Zusammenhang von Produktionsverhältnissen und Gesellschafts- und Staatsform nicht verstehen kann, weshalb auch ihre Vertreter uns seit vierzig Jahren unaufhörlich vorsingen, die »russische Erfahrung« habe nur allzu gut die wohlbegründeten Befürchtungen Bakunins im Hinblick auf die kommunistischen Auffassungen bestätigt und den prophetischen Charakter seiner Kritik gezeigt.

Und doch ist der Grund dafür, dass der Kommunismus keine »staatliche Wirtschaft« sein kann, sehr einfach. Wenn das Proletariat, wie alle vor ihm herrschenden Klassen, seine eigene Macht und seinen eigenen Staat notwendig errichten muss, so unterscheidet er sich doch in einem wesentlichen Punkt grundlegend von allen diesen Klassen: Das Proletariat ist keine Ausbeuterklasse und kann es nicht werden; es ist im Gegenteil die erste Klasse, die dazu berufen ist, jede gesellschaftliche Klassenteilung und damit jede Klassenunterdrückung abzuschaffen. Das hat in der Frage des Staates eine entscheidende Folge: Der Staat des Proletariats wird zwangsläufig einen Übergangscharakter haben; in gleichem Masse, wie dieser Staat seine Aufgaben erfüllt, d. h. die Klassen und damit den Klassengegensatz allmählich verschwinden lässt, verschwindet auch die Notwendigkeit, die anderen Klassen zu beherrschen, also die Voraussetzung für die Existenz eines politischen Staates überhaupt. Im Kommunismus wird es keinen Staat oder politische Autorität geben, was soviel bedeutet, als »dass die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in rein administrative Funktionen verwandeln werden, die die sozialen Interessen überwachen« (Engels in der Polemik gegen die Anarchisten, zitiert von Lenin in »Staat und Revolution«) Und dessen absterbenden Staat, bemerkt Lenin sehr treffend, »kann man auf einer gewissen Stufe seines Absterbens als unpolitischen Staat bezeichnen«. Das bedeutet, dass die kommunistische Gesellschaft nicht jede Administration entbehren wird, diese wird aber nicht mehr wie in der Vergangenheit einen Klassencharakter, den Charakter einer Unterdrückung haben. Sie wird im Gegenteil in zweifacher Hinsicht eine soziale Administration sein. Erstens weil sie nicht mehr das Monopol einer besonderen sozialen Gruppe sein wird, denn das hing mit Trennung von Hand- und Kopfarbeit zusammen, die mittlerweile längst überwunden sein wird; zweitens und vor allem weil sie nicht mehr nach den Bedürfnissen einer privilegierten Oberschicht sich richten wird, sondern nach denjenigen der Gesellschaft als Ganzes. Den Kommunismus als das »Staatseigentum« (ohne Staat!) kennzeichnen zu wollen, ist barer Unsinn; schliesslich wird der Kommunismus nicht einmal durch das »gesellschaftliche Eigentum« charakterisiert werden: Wenn die Gesellschaft nicht mehr durch innere Gegensätze zerrissen wird und damit als Ganzes ihre Existenzbedingungen beherrscht, dann haben wir es nicht mit einem »gesellschaftlichen Eigentum« zu tun, sondern mit der faktischen Abschaffung des Eigentums überhaupt und folglich auch des Eigentumsbegriffs. Das Eigentum kann man in der Tat nicht anders definieren, als durch den Ausschluss anderer vom Gebrauch oder von der Nutzniessung des Eigentumobjekts. Wenn man keinen Menschen mehr davon ausschliessen kann, gibt es kein mögliches Eigentum und keinen möglichen Eigentümer mehr, auch nicht die »Gesellschaft«.

Daraus folgt etwas Grundlegendes: Solange der Staat Eigentümer ist oder sich für einen solchen ausgibt, kann man mit Sicherheit sagen, dass es keinen Kommunismus gibt. Dafür kann es zwei Gründe geben. 1. Man befindet sich auf dem Weg dahin, ist aber noch weit vom Ziel entfernt, d. h. das Proletariat kämpft immer noch gegen andere Klassen, um den Weg zu seinem Ziel, zur vollständigen sozialen Wirtschaft, zu bahnen. In diesem Fall besteht ein proletarischer Staat, der von einer revolutionären Partei getragen wird. Das kann man leicht erkennen, wenn nicht an den von dieser Partei unmittelbar getroffenen ökonomischen Massnahmen als solchen, so doch an ihrer Theorie und an der Ausrichtung ihrer Aktion im inneren wie im internationalen Massstab: Siehe die bolschewistische Partei unmittelbar nach der Oktoberrevolution, im Laufe des Bürgerkrieges und selbst während der allerersten NEP-Jahre. 2. (entgegengesetzter Grund) Der Staat, der als proletarischer Staat entstanden war, hat unter dem Druck der feindlichen Klassen seine ursprüngliche Funktion geändert und dem kommunistischen Endziel den Rücken gekehrt. Das kann sehr wohl geschehen, und in diesem Fall kann das Staatseigentum gleichwohl sehr lange als kapitalistisches Eigentum, d. h. als eine dem Proletariat und gewissermassen dem grössten Teil der Gesellschaft feindlich gegenüberstehende Macht fortbestehen. Siehe den stalinistischen und halbwegs poststalinistischen Staat.

Daran kann man die ganze Blödsinnigkeit der »Lehre« erkennen, welche die »Selbstverwaltungssozialisten« aus der russischen Konterrevolution gezogen haben. Zunächst kennzeichnet sie den Kommunismus als das, was er nicht ist, nämlich ein System des »Staatseigentums«. Dann rufen sie gegenüber dem in Russland halbwegs existierenden System des Staatseigentums aus: Schaut doch mal an, zu welch monströsen Ergebnissen der Kommunismus führt! Stellt euch bloss vor, was uns alles erspart geblieben wäre, wenn man den Weg der freien Assoziation beschritten hätte!

Das schreckliche Elend – das in Russland nach 1920 herrschte – das drakonische Arbeitsgesetz der stalinistischen Ära – die Erhebung der Polizeiherrschaft und der Praxis des politischen Mordes zum Prinzip – die Agrarrevolution »von oben« in den Jahren 1928–29, ihre schrecklichen Folgen und die »stalinsche Hungersnot« des Jahres 1932 – die Massenrepression, die grausame Farce der politischen Prozesse, die alptraumartigen Selbstanklagen der Opfer – die Litanei vom siegreichen Kurs der UdSSR zum befreienden Sozialismus unter Führung ihrer grossen Partei und ihres innig geliebten Führers als abscheuliche und unveränderliche Begleitmusik zu diesem ganzen Grauen – kurzum all das, was die Mehrzahl unserer Zeitgenossen beim blossen Anhören des Wortes »Stalinismus« erschaudern lässt: all das hätte eine geradezu magisch einfache und bequeme Erklärung: Die zentralisierte Staatsleitung, oder, was aufs selbe hinausläuft: die unkontrollierte Herrschaft der Bürokratie. Und die von der Revolution aus der Kriegskatastrophe geerbten Bedingungen, das Gewicht der russischen Bauernschaft, die vom Aderlass des Bürgerkrieges verschlimmerte zahlenmässige Schwäche des Proletariats, die technische Rückständigkeit, das niedrige Niveau der Allgemeinbildung, das Gewicht der feudalen Trägheits- und Brutalitätstraditionen, die Isolierung der marxistischen proletarischen Partei, die internationalen Bedingungen, die barbarische Staatstradition des asiatischen Despotismus, die Folgen und Zwänge der politischen Konterrevolution? Lappalien, in den Augen der Selbstverwaltungssozialisten nichts als Lappalien, die im Vergleich zu den Zauberworten »Staatsleitung« und »unkontrollierte Bürokratie« nichts aussagen, ja ihnen nichts sagen können, solange sie von den uralten Hirngespinsten der Proudhon-Bakunin besessen sind. Woran glauben sie überhaupt erkennen zu können, dass die Unterdrückten dort, wo das Ungeheuer der »Staatsleitung« nicht als absoluter Meister herrscht, imstande sind, das Fortschreiten der schrecklichen Dampfwalze der kapitalistischen Akkumulation und des bürgerlichen Totalitarismus auch nur im geringsten unter ihre Kontrolle zu bringen?

Notes:
[prev.] [content] [end]

  1. Seit dem Sieg des Stalinismus Ende der 1920er-Jahre sind inzwischen 50 Jahre verstrichen.

  2. Will man unbedingt Beispiele haben, so genügt es, an die Reaktion des Adels in den Jahren von 1789 zu denken, die die Revolution beschleunigt hat, oder an die tugendhaften und egalitären Jakobiner, die dem Thermidor und dem Empire den Weg bahnten.

  3. Der Stalinismus seinerseits zögerte nicht davor, das gerade Gegenteil zu behaupten, und zwar implizit, indem er sich rühmte, den Sozialismus im nationalen Rahmen eines Landes aufgebaut zu haben, zumal eines solchen, das weder 1917 noch zehn Jahre später hierfür die materiellen Voraussetzungen besass, und explizit, indem Stalin in seinen »Ökonomischen Problemen des Sozialismus« vorgab, ökonomische Gesetze »im Interesse des Kommunismus auszunützen«, deren Fortwirkung allein ausreichender Beweis für den Fortbestand einer kapitalistischen Ökonomie ist. Auch die Scheinthesen der russischen Partei anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution erklärten ohne mit der Wimper zu zucken dass, wenn der Sozialismus in Russland trotz der Bedingungen, die die Marxisten früher für ungünstig gehalten hatten, aufgebaut werden konnte, so dank dem »wissenschaftlichen Plan« Lenins!

  4. »Engels, Studienausgabe« Bd.2, S. 156–157, Rohwolt Verlag

  5. Engels, »Anti-Dühring«, Verlag Marxistische Blätter, S. 226

  6. Die Erklärung dieses Punktes würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Der Leser wird sie in dem Kapitel über die russische Wirtschaft in der nachrevolutionären Phase finden.

  7. Lenin wusste dies nur allzu gut und hat deshalb immer sehr genau zwischen Staatskapitalismus unter bürgerlicher Herrschaft und Staatskapitalismus unter der proletarischen Diktatur, aber auch zwischen letzterem und dem Sozialismus unterschieden. Gerade auf diese Unterscheidung konzentrierte sich der Kampf zwischen der Leningrader Opposition (Sinowjew, Kamenew) und den Anhängern des »Sozialismus in einem Lande« (um Bucharin und Stalin) auf dem XIV. Kongress der KPdSU (April 1925). Während Stalin und Bucharin die Auffassungen Lenins revidierten und behaupteten, es wäre »defätistisch«, die 1925 in der russischen Industrie herrschende ökonomische Form als Staatskapitalismus anstatt als Sozialismus zu betrachten, wiesen Sinowjew und Kamenew unwiderlegbar nach, dass die Liquidierung der Lenin’schen Position eine Beschönigung der NEP, eine Verschleierung des realen Klassenkonfliktes und eine Verwandlung der proletarischen Partei in eine nationale Partei bedeutete. Sie zeigten, dass sich dahinter nichts anderes verbarg, als die Absicht (selbst durch eine Demagogie, die die Arbeiter durchschauen würden), von den Arbeitern eine Erhöhung ihrer Produktionsleistung auszupressen. Trotzki (der auf diesem Kongress nicht intervenierte, weil ihm der plötzliche Bruch zwischen den Leningradern und Stalin, die sich bis dahin gegen ihn verständigt hatten, unvorbereitet traf) hat nie zwischen den ökonomischen Formen als solchen ausreichend unterschieden, bzw. immer den politischen Faktor als entscheidendes Moment betrachtet, und zwar nicht nur als das legitim war, wie z. B. während der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution, sondern auch später, als er selber die Entartung der Macht anzeigte; auch sprach Trotzki nie von Staatskapitalismus, sondern immer von einem Sozialismus, der die Methoden der kapitalistischen Buchhaltung »benutzen« würde (eine theoretisch unhaltbare Position).

  8. Es ist klar, dass dies in Russland nicht der Fall war, litt ja das Land nicht unter einem Überfluss, sondern unter einem Mangel an Entwicklung des Kapitalismus, was nicht nur im schwachen spezifischen Gewicht der städtischen Industrieinseln in der Volkswirtschaft, sondern auch in der Vorherrschaft des Kleinbetriebes in der Landwirtschaft zum Ausdruck kam. Gerade deshalb hatte Lenin die staatliche Verwaltung der ganzen Industrie nicht vorgesehen. Diese wurde den Bolschewiki einerseits durch die von den Arbeitern massiv durchgeführten Enteignungen, andererseits durch die Flucht der Kapitalisten aufgezwungen.

  9. Nicht einmal Eduard Bernstein, der Stammvater aller Revisionisten, hatte es gewagt, dem Proletariat dieses »Recht« formal abzusprechen. Er schrieb 1899 in »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie«: die Sozialdemokratie muss »das scheinen wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei. Es handelt sich nicht darum, das sogenannte Recht auf Revolution abzuschwören, dieses rein spekulative Recht, das keine Verfassung paragraphieren und kein Gesetzbuch der Welt prohibieren kann, und das bestehen wird, solange das Naturgesetz uns, wenn wir auf das Recht zu atmen verzichten, zu sterben zwingt. Dieses ungeschriebene und unvorschreibbare Recht wird dadurch, dass man sich auf den Boden der Reform stellt, so wenig berührt, wie das Recht der Notwehr dadurch aufgehoben wird, dass wir Gesetze zur Regelung unserer persönlichen und Eigentumsstreitigkeiten schaffen.« Mit ähnlichen Taschenspielertricks umging die Sozialdemokratie seit 1914 die Kardinalfrage der bewaffneten Revolution, wobei Karl Kautsky, der Gegner Bernsteins, sich in dessen geistigen Erben verwandelte.

  10. Die alten Sozialdemokraten der revisionistischen Vorkriegsschule machten sich oft sehr treffend lustig über Stalins Einbildung, einen nationalen Sozialismus aufbauen zu können. Das beweist allerdings nur, dass man vor vierzig Jahren selbst im Lager der Totengräber des Marxismus noch nicht so verblödet war wie heute, bzw. dass es noch allgemein bekannt war, dass Sozialismus und Warenproduktion unvereinbar sind, was die Poststalinisten und selbst die »Trotzkisten« vergessen haben. Das ändert jedoch absolut nichts an dem Defätismus und an der konterrevolutionären Rolle der Sozialdemokratie nach dem ersten Weltkrieg.

  11. Wenn man eine Kollektion dieser Zeitschrift, des theoretischen Organs der stolzen österreichischen Sozialdemokratie, durchblättert, so stellt man mit Empörung fest, dass darin bis zu diesem Artikel, d. h. bis März 1918 kein einziges Wort über die Oktoberrevolution geschrieben wurde, obwohl die Zeitschrift regelmässig erschien! Und als sie sich zum ersten Mal zur Oktoberrevolution äusserte, dann nur wie wir in der Folge sehen werden um ihre Niederlage von vornherein zu verkünden; und dies kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges, den die Revolution im Gegenteil glänzend bestehen sollte! Obwohl er die westlichen Opportunisten bestens kannte und einschlägig beurteilte, traute Lenin seinen Ohren nicht, als er Trotzki eines Tages gefragt hatte, was die offizielle Sozialdemokratie zur Oktoberrevolution sage, und die Antwort erhielt (sinngemäss): sie zieht es vor, dazu zu schweigen…

  12. Mit der ganzen Oberflächlichkeit, die zu ihm passte, formulierte Rudolf Hilferding, einer der alten sozialdemokratischen Honoratioren, diesen Vorwurf wie folgt:
    »Lenin und Trotzki benutzten eine Gruppe von Elitekämpfern – eine Partei, die nie imstande war, selbständig Entscheidungen zu treffen, und ein blosses Werkzeug in den Händen ihrer Führer war, wie später die faschistische ›Partei‹ und die nationalsozialistische ›Partei‹ [möge der Leser sich an der Gleichstellung von Lenin-Trotzki mit Mussolini-Hitler gebührend ergötzen! IKP] – um die Macht zu erobern, als der alte Staatsapparat sich in einem Zustand völliger Zersetzung befand.«
    Diese Bemerkung verdient eine kurze Erörterung. Sie möchte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: einerseits das Verdienst der Bolschewiki herabsetzen (sie suggeriert ja, dass es leicht sei, die Revolution zu machen, wenn der Staatsapparat in Zersetzung begriffen ist), andererseits die historische Trägheit der westlichen Sozialdemokratie rechtfertigen, die einem schrecklich vitalen und bewaffneten bürgerlichen Staat gegenüberstand. Doch ist die Ausflucht erbärmlich. Erstens versteht sich von selbst, dass die revolutionäre Lage u. a. durch eine »Zersetzung der Staatsmacht« gekennzeichnet wird. Zweitens hat niemand je bestritten, dass die revolutionäre Krise in Russland viel akuter gewesen ist als anderswo in Europa. Nichtsdestotrotz steht fest: 1. die revolutionäre Lage wäre selbst in Russland schnell verpulvert, wenn es anstelle von Bolschewiki wie Lenin und Trotzki nur diese Pseudo-Internationalisten des Schlages eines Rjazanow oder Martow gegeben hätte; 2. die Abwesenheit einer gespitzten revolutionären Krise im Westen ist keine Entschuldigung für die politische Laschheit des sozialdemokratischen Zentrismus und noch weniger für seinen Verrat! Doch Hilferding fährt in seinem zitierten Artikel fort:
    »Sie formten diesen Staat nach den Bedürfnissen ihrer Herrschaft um; sie schufen jede Demokratie ab und errichteten ihre eigene Diktatur […] Auf diese Weise haben sie den ersten totalitären Staat gegründet, noch bevor dieser Begriff geschaffen wurde. Stalin tat nichts anderes, als das begonnene Werk fortzusetzen« (Rudolf Hilferding in »The Modern Review«, 1947).
    Das sozialdemokratische Wesen des Vorwurfs zeigt sich in aller Deutlichkeit: Im Gegensatz zum Marxismus wird hier nicht vom Klassenkampf ausgegangen, um die Geschichte zu erklären, sondern von der abstrakten Gegenüberstellung von Diktatur und Demokratie. Dieser Vorwurf, demzufolge der Bolschewismus den Stalinismus eigentlich ausgebrütet oder mindestens dessen Weg vorbereitet habe, taucht in verschiedenen Varianten auch bei vielen Oppositionsgruppen auf. Diese sind allerdings nicht einmal mehr imstande, zu merken, dass sie dadurch auf die Argumente deutscher Reichsfinanzminister und ähnlicher sozialdemokratischer Renegaten zurückgreifen.

  13. Durch Bildung der berühmten Regierung Ebert-Noske, an der sich die Unabhängigen (Zentristen) beteiligten. Als Leitfaden für diese Zusammenfassung dient Carlo Schmids Festvortrag »Hundert Jahre Sozialdemokratische Partei« (12. Mai 1963), dem wir auch die Zitate entnehmen.

  14. Damit wurde die traditionelle, seit Jahrzehnten freilich nur auf dem Papier stehende Position abgelegt, der zufolge die Demokratie nur ein Mittel zum Zweck sei, d. h. zum Sozialismus, der theoretisch das Endziel der Partei geblieben war. Lenin hatte gezeigt, wie ungeeignet dieses »Mittel« im imperialistischen Zeitalter ist. Die angesprochene Programmänderung der Sozialdemokratie tut nichts anderes, als die Richtigkeit der Lenin’schen Einschätzung a contrario zu bezeugen. Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Der hier untersuchte Prozess wiederholt sich heute bei den »Eurokommunisten«.

  15. In dieser Beziehung ist die Haltung von »Umanità Nuova«, dem Organ der italienischen Anarchisten, charakteristisch. Im März 1921 veröffentlichte diese Zeitung das Protokoll einer Konferenz der »Nabat« (Sturmglocke), der ukrainischen Anarchisten, die vom 3.–8. September 1920 in Russland illegal stattgefunden hatte. In diesem Protokoll wurde die Notwendigkeit betont, den Kampf »gegen die finstere Reaktion des sozialistischen Staates« (d. h. gegen die bolschewistische Macht) fortzusetzen. Mit einem Abstand von nur elf Tagen veröffentlichte »Umanità Nuova« andererseits aus Anlass der Kronstädter Ereignisse einen Artikel, der sich trotz allem doch zur Solidarität mit dem revolutionären Russland bekannte. Das Organ der italienischen Anarchisten wagte zwar nicht, die Aktion ihrer ukrainischen Gesinnungsgenossen anzuprangern; es hat sich aber auch nicht mit deren Resolution solidarisiert (wir geben sie weiter unten wieder). Die Bolschewiki mussten im März 1921 aus dringender Notwehr den Kronstädter Aufstand mit Waffengewalt unterdrücken. Später, nachdem die kommunistische Bewegung all ihre revolutionären Züge eingebüsst hatte, wurden diese Ereignisse von allen Feinden des Kommunismus hemmungslos ausgeschlachtet. Mit den Tatsachen unmittelbar konfrontiert, wusste »Umanità Nuova« damals allerdings eine Haltung zu wahren, die rückblickend als erstaunlich »massvoll« erscheint. Wie ist das zu erklären und was geht daraus hervor? Solange die kommunistische Bewegung diesen Namen noch verdiente, waren ihr Einfluss und Ansehen in den Reihen des Proletariats gross genug, um die »antiautoritäre« Zaghaftigkeit und Disziplinlosigkeit der Anarchisten in bestimmten Grenzen zu halten, bzw. um diese dazu zu zwingen, die harten Notwendigkeiten des Klassenkampfes mit kühlem Kopf zu betrachten. Gerade die sozialdemokratische Abweichung hatte in der Jahrhundertwende die Entwicklung von anarchistischen Strömungen begünstigt. Und wenn der Anarchismus ab 1926 wieder an Boden gewann und sich zu immer haltloseren Positionen hinreissen liess, so ist dies dem Stalinismus zu verdanken, der das ganze Werk Lenins und des authentischen Kommunismus zerstört hat; die tendenzielle Vereinigung aller wirklich revolutionären Kräfte auf der Plattform des wissenschaftlichen Sozialismus.
    Hier der Bericht der dritten Konferenz der »Nabat« (zitiert nach »Umanità Nuova«, 11. 3. 1921):
    »Im unnachgiebigen Kampf gegen jede Staatsform unterziehen sich die Anarchisten der Nabat keinem Kompromiss. Gegenüber den Sowjets haben sie sich jedoch eine Zeit lang anders verhalten. [Bis zum Beginn des Bürgerkrieges. Die eiserne Disziplin und äusserste Zentralisation, die der Bürgerkrieg verlangte, hat den revolutionären Rausch der Anarchisten – oder mindestens eines Teiles von ihnen – wieder abgekühlt und sie in die Opposition Zurückgeführt. IKP] Die wunderbare Begeisterung des Oktober, die Emanzipationsbestrebungen der arbeitenden Klassen gegenüber jeder Macht, die anarchistisch anmutende Redensart der bolschewistischen Führer [Hier Verfallen die Antiautoritären demselben Fehler wie die konservativen Sozialdemokraten, für die alles, was nicht mit billigem Reformismus oder reiner Klassenkollaboration zu tun hatte, »anarchistisch« war oder anmutete! IKP] vor allem aber der notwendige Kampf gegen den Weltimperialismus, der die Revolution erdrosseln wollte, das alles verpflichtete die Anarchisten, eine gewisse Zurückhaltung, ja fast Nachsicht [sic!] gegenüber der bolschewistischen Macht zu üben. Sie riefen die Arbeiter- und Bauernmassen dazu auf, sich für die revolutionäre Unabhängigkeit zusammenzuschliessen; mit Warnungen an die neuen Meister, die sie berieten und einer kameradschaftlichen Kritik unterzogen, sparten sie nicht. Nach drei Jahren Diktatur verwandelt sich die aus der Revolution entstandene Sowjetmacht jedoch in eine mächtige Staatsmaschine. Die Bourgeoisie wurde durch die Diktatur einer Partei und einer Minderheit des Proletariats über die Massen des werktätigen Volkes ersetzt. Diese Diktatur erstickte den Willen der werktätigen Massen, brachte ihren schöpferischen Geist, ohne den die verschiedenen Aufgaben der Revolution nicht bewältigt werden können, zum Verstummen. Darin liegt eine Lehre für die Arbeiter aller Länder, und deshalb sehen sich die Anarchisten noch gezwungen, auf der Kampffront zu bleiben: 1. Infolge ihres Widerstandes gegen den revolutionären Geist der werktätigen Massen verwandelte sich die Sowjetmacht in eine grausame Diktatur und wurde somit zum Henker der Revolution [Das wurde Ende 1920 geschrieben! Kein Kommentar. IKP]. 2. Der Krieg der Sowjets gegen die Bourgeoisie kann nicht länger als mildernder Umstand betrachtet werden, weil die Sowjetmacht die Revolution erdrosselt hat und damit ihren Feinden indirekt geholfen. 3. Die revolutionäre Haltung der Sowjetmacht in der internationalen Bewegung ist als zweideutig anzusehen: sie ruft einerseits zum Kampf gegen die Bourgeoisie auf, bedroht aber andererseits die Revolution mit dem unheilvollen Mittel der Diktatur. Aus allen diesen Erwägungen ruft die jetzige Konferenz alle Anarchisten und alle aufrichtigen Revolutionäre zum Kampf gegen die Sowjetmacht auf, die nicht weniger gefährlich ist als die offenen Feinde der Revolution wie Wrangel oder die Entente. Die Anarchisten stellen sich gegen die Rote Armee wie gegen jede andere Staatsarmee. Sie können sie nicht als revolutionär ansehen, denn sie befindet sich in den Händen einiger Weniger, die ihre Feinde sind […] Aus diesem Grunde ist der Beitritt der Anarchisten in die Rote Armee, um die Revolution zu verteidigen, ein Fehler. Dieser Beitritt könnte nur durch die Absicht gerechtfertigt werden, die Rote Armee durch Wort und Schrift zu revolutionieren, damit im Augenblick des Aufstands der Arbeiter und Bauern gegen die neuen Unterdrücker die Soldaten die Sache der Aufständischen, die auch ihre eigene ist, ergreifen« (September 1920).
    Soweit die Erklärung der überzeugten »Streikbrecher« des Bürgerkrieges. Demgegenüber hört sich die verlegene Stellungnahme von »Umanità Nuova« zu der gefährlichen Krise von Kronstadt so an (23. März 1921):
    »Kronstadt, die Ukraine […] Wir sind perplex gegenüber diesen Ereignissen. Sie sind die logische Konsequenz des bolschewistischen Fehlers, der Diktatur. [sic!] Sie waren deshalb unvermeidlich. Sie können jetzt entweder sehr üble oder heilsame Folgen für die Revolution haben. Es ist verständlich, dass der Geist der Freiheit ausbrechen muss, wenn er unterdrückt wird. Wäre die internationale Bourgeoisie nicht auf der Lauer, würden wir uns deswegen keine Sorgen machen; wir würden sogar denken, dass der Sturz der Moskauer Regierung vielleicht [Hervorhebung IKP] einen neuen Beitrag zur Revolution liefern könnte. An den Grenzen Russlands lauert jedoch die bewaffnete bürgerliche Reaktion und wartet nur ab, dass sich die Revolution in inneren Kämpfen erschöpft, um sich auf sie zu stürzen, um sowohl die Bolschewiki wie die jetzigen Aufständischen, die sie aus der Ferne hofiert, auszurotten. [Man muss darauf hinweisen, dass die heutigen Anarchisten nicht mehr fähig sind, dies zu verstehen. IKP] Aus solchen Aufständen kann deshalb sowohl eine Wiederaufnahme der Revolution als auch der Beginn einer Reaktion hervorgehen. [Die Unsicherheit resultiert aus dem Konflikt zwischen dem anarchistischen Doktrinarismus und der Wirklichkeit des Klassenkampfes! IKP] Alles hängt davon ab, ob die inneren Kämpfe zu Ende gehen, noch bevor die imperialistischen Hyänen Zeit und Mittel zur Intervention haben. Eine neue Intervention gegen Russland wird für das Frühjahr erwartet. Dann wird es nicht darum gehen, ob Russland nach wie vor unter bolschewistischer Herrschaft ist, oder ob es (wie wir es wünschen) dazu gelangte, ein besseres Systeme zu errichten. Dann kommt es nur darauf an, dass Russland in der Lage ist, die neue Invasion zurückzuschlagen und den verhassten westlichen Militarismus dazu zu zwingen, ins Gras zu beissen. [Wir haben das unterstrichen, weil daraus zu ersehen ist, dass ein Anarchist 1921 bei weitem nicht so dumm war wie 1967. IKP]. Wir Anarchisten des Westens können auf die innere Entwicklung in Russland keinen Einfluss nehmen; auch wären wir einer so schwierigen Aufgabe keinesfalls gewachsen; [Ein ehrliches Eingeständnis. IKP] Die Entfernung ist zu gross, als dass wir ein endgültiges Urteil fällen könnten. Etwas können und müssen wir jedoch tun, und das ist für uns ein Gebot der Ehre. Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass die kapitalistischen Regierungen Waffen und Armeen gegen Russland richten. Wir wiederholenGenossen, Proletarier –, soweit unsere Kräfte reichen, müssen wir bereit sein, uns für das proletarische und kommunistische Russland zu schlagen. Der Kampf in seiner Verteidigung ist ein guter Kampf, auch für unsere eigene Freiheit.«
    Besser könnten die Forderung nach Freiheit und die Ablehnung des Zentralismus nicht widerlegt werden als durch diese geradezu unglaubliche Diskrepanz in den Losungen ein und derselben Strömung: In Russland ruft sie »zum Kampf gegen die Sowjetmacht, die nicht weniger gefährlich ist als Wrangel und die Entente« auf (»Nabat«), in Italien ruft sie gleichzeitig zur »Verteidigung des proletarischen und kommunistischen Russland« auf (»Umanità Nuova«). (Übersetzt aus dem Französischen)

  16. so hat sich Proudhon in einem Brief an Marx vom Mai 1847 (also als er an seine »Philosophie des Elends« arbeitete) über die Revolution ausgelassen:
    »Vielleicht behalten Sie Ihre Meinung, dass keine Reform möglich sei ohne einen Handstreich, ohne das, was man einst Revolution nannte […] Ich selber habe diese Meinung lange geteilt und kann sie daher verstehen, verzeihen und wäre gerne bereit, sie zu erörtern. Ich muss Ihnen jedoch gestehen, dass ich mich nach meinen letzten Forschungen völlig von ihr trennen musste. Ich glaube, das brauchen wir nicht, um Erfolg zu haben; ich glaube deshalb auch, dass wir die revolutionäre Aktion keineswegs als ein Mittel zur sozialen Reform betrachten sollen. Dieses vermeintliche Mittel wäre ganz einfach ein Aufruf zur Gewalt, zur Willkür, kurzum, ein Widerspruch. Ich stelle mir das Problem folgendermassen: die Reichtümer, die durch eine ökonomische Kombination die Gesellschaft verlassen, durch eine andere ökonomische Kombination in die Gesellschaft wieder hineinzubringen.«
    Auf Marx’ Angebot, sich an einem internationalen Informationsbüro zu beteiligen, antwortete derselbe Mann, der sich vom Revolutionsgedanken hatte »trennen müssen«:
    »Wenn Sie wollen, können wir zusammen die Gesetze der Gesellschaft suchen […] aber um Gottes Willen: Nachdem wir alle aprioristischen Dogmatismen zerstört haben, sollten wir nicht im Traum daran denken, unsererseits das Volk zu belehren […] Befinden wir uns an der Spitze einer Bewegung, so sollten wir uns nicht deshalb zu den Führern einer neuen Intoleranz machen. Wir müssen alle Proteste willkommen heissen und ermuntern […] Wir dürfen eine Frage niemals als erledigt betrachten und, wenn wir unser letztes Argument gebraucht haben, sollten wir notfalls mit Beredsamkeit und Ironie wieder von vorn anfangen«.
    In Verbindung mit dem eigentlichen ökonomischen Inhalt seiner »Lehre« (wir werden im nächsten Kapitel darauf zurückkommen) verdiente Proudhon durch solche Auffassungen folgende Charakterisierung unter dem Begriff »Der konservative oder Bourgeoissozialismus«:
    »Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Missständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher […] Winkelreformer der buntscheckigsten Art. […] Als Beispiel führen wir Proudhons ›Philosophie de la misère‹ an.
    Die sozialistischen Bourgeois wollen die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft ohne die notwendig daraus hervorgehenden Kämpfe und Gefahren. Sie wollen die bestehende Gesellschaft mit Abzug der sie revolutionierenden und sie auflösenden Elemente. Sie wollen die Bourgeoisie ohne das Proletariat. […] Eine zweite […] Form dieses Sozialismus suchte der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden durch den Nachweis, wie nicht diese oder jene politische Veränderung, sondern nur eine Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse ihr von Nutzen sein könne. Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern […]«
    (Marx und Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, 1847).

  17. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für Georges Sorels Auffassung von einer Leitung der Wirtschaft durch die Gewerkschaften. In »Die Grundlagen des revolutionären Kommunismus in der Lehre und in der Geschichte des internationalen proletarischen Kampfes« (1957 in italienisch erschienen; deutsch in der Reihe »Texte der Internationalen Kommunistischen Partei«) bemerkten wir dazu:
    »Um die Formel der Sorelianer und Co. über die gewerkschaftliche Leitung der ›zukünftigen‹ Wirtschaft zu verstehen, brauchen wir uns nur einen Leitungsapparat vorzustellen, der aus den nationalen Gewerkschaftsführungen besteht (es gelten natürlich die üblichen Vorbehalte hinsichtlich des Sieges des Sozialismus in einem Land). Die Produktion von Brot und Teigwaren würde z. B. vom Verband der Bäckereigewerkschaften organisiert werden usw. für alle Produktions- und Industriezweige. Man muss sich also vorstellen, dass alle Produkte einer gegebenen Branche diesen grossen Organen (einer Art nationaler Trusts, aus denen die Kapitalisten entfernt wurden) zur Verfügung stehen. Sie müssen dann über die Verwendung ihrer Gesamtproduktion (in unserem Fall Brot, Teigwaren usw.) so verfügen, dass sie dafür von den parallelen Organisationen alles nötige bekommen: Konsumtionsgüter für ihre Mitglieder, Rohstoffe, Produktionsmittel usw.
    In einer solchen Wirtschaftsordnung besteht Austausch. In einer höheren Form erfolgt dieser Austausch nur an der Spitze; die Verteilung der Konsumtionsgüter und Produktionsmittel wird dann von den einzelnen Gewerkschaftsverbänden von oben nach unten durchgeführt. Aber dieses Austauschsystem an der Spitze bleibt ein System der Warenproduktion, d. h. es bedarf eines Wertgesetztes, um die Äquivalenz zwischen den verschiedenen Produkten festzustellen; andererseits ist es leicht vorherzusehen, dass es sehr viele Gewerkschaften geben wird, und dass jede Gewerkschaft mit fast allen handeln muss. Wir fragen nicht einmal, wer das Äquivalenzsystem festlegen, bzw. wie die charakteristische Atmosphäre all dieser Phantasiegebilde (die ›Autonomie‹ und ›Gleichheit‹ der ›Produzentengewerkschaften‹) gesichert wird; wir gehen von der zugespitzt liberalen Hypothese aus, dass die verschiedenen Äquivalenzsysteme ›friedlich‹ aus einem jeweils ›spontan‹ entstandenen Gleichgewicht resultieren können. Ein derart komplexes Messungssystem wird jedoch nicht funktionieren können ohne das bereits vor Jahrtausenden eigens dafür entstandene Hilfsmittel des allgemeinen Äquivalenten, sprich das Geld, der logische Massstab des Austausches.
    Ebenso leicht ist die Folgerung, dass dieses System sich in die niedrigere Form auflösen würde: in einer solchen Gesellschaft kann man nicht nur an der Spitze der Produktionskartelle (das Wort Syndikat wäre hier durchaus am Platz) mit Geld operieren; diese Befugnis wird jedem Gewerkschaftsmitglied zuerkannt werden müssen. D. h. der Arbeiter wird von seiner vertikalen Organisation eine Geldquote erhalten und damit ›einkaufen‹, was er will. Wie heute also wird der Arbeiter einen Lohn erhalten. Der einzige Unterschied besteht (wie bei Dühring, Lassalle und anderen) in der Einbildung, es handle sich dann um den ›vollen Lohn‹, weil der Abzug für die Arbeitgeber abgeschafft wurde.
    Wenn eine Gewerkschaft mit den anderen über die Lieferbedingungen der von ihr monopolisierten Produkte verhandelt, ist sie keineswegs selbständig. Das ist eine bürgerliche und liberale Illusion; sie wird immer vom Unsinn begleitet, jeder Produzent müsse den Gesamtertrag seiner Arbeit erhalten, um dann nach Gutdünken seine ›Verbraucherentscheidungen‹ zu treffen. Marx hat sich über diesen Unsinn lustig gemacht. Hier liegt auch der Hase im Pfeffer, denn dadurch zeigt sich, dass diese Wirtschaftsutopien noch weiter von der sozialen Wirtschaftsordnung entfernt sind, die Marx Sozialismus bzw. Kommunismus nennt, als die kapitalistische Wirtschaftsordnung selbst.
    In der sozialistischen Wirtschaftsordnung stellt nicht mehr das Individuum, sondern die ganze Menschheit, die Spezies, die Entscheidungsinstanz über Produktion (was, wie und wieviel) und Konsum dar. Die Selbständigkeit des Produzenten ist eine leere Phrase, eine dieser vielen demokratischen Phrasen, die überhaupt nichts lösen. Der Lohnarbeiter, der Sklave des Kapitals, ist als Produzent nicht selbständig; als Konsument ist er es heute in einem bestimmten Masse doch: innerhalb bestimmter quantitativer Grenzen (und diese sind nicht die Grenzen des reinen Hungers gemäss dem ›ehernen Lohngesetz‹ von Lassalle, sondern erweitern sich im Gegenteil mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft) kann seine Lohntüte so ausgeben, wie er will.
    Im Kapitalismus produziert der Proletarier, wie der Kapitalist es will (oder allgemeiner und wissenschaftlicher ausgedrückt: wie die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise bestimmen, wie das Kapital, übermenschliches Monstrum, bestimmt). Er kann zwar nicht soviel konsumieren, wie er möchte; er kann aber in den gegebenen Grenzen so konsumieren wie er möchte. In der sozialistischen Gesellschaft wird das Individuum weder als Produzent noch als Konsument ›selbständig‹ sein. Beide Sphären werden von der Gesellschaft für die Gesellschaft bestimmt werden.«



Source: »Kommunistisches Programm«, № 15/16, Oktober 1977, S. 27–47 (Erster Teil des II. Kapitels: »Die falschen Lehren aus der Konterrevolution in Russland«)

[top] [home] [mail] [search]