Unsere Parteithesen über die sowjetische Wirtschaft haben eine Bedeutung, die weit über ihren Gegenstand hinausgeht; sie bilden in der Tat einen untrennbaren Bestandteil der Verteidigung des Kommunistischen Programms. Während die einen das »russische Beispiel« als Beweis für den utopischen Charakter dieses Programms betrachten, dient es den anderen als Ausgangspunkt für dessen vollständige Verfälschung, und zwar in dreifacher Hinsicht: Zuerst geben sie die von den Bolschewiki vorgesehenen ökonomischen Aufgaben der proletarischen Partei im Russland des Jahres 1917 für sozialistische Aufgaben aus; dann erklären sie, dass die »Errungenschaften« der stalinschen Ära in absoluter Kontinuität mit den Zielen des ursprünglichen bolschewistischen Programms standen; schliesslich geben sie diese »Errungenschaften« als den »Aufbau des Sozialismus« überhaupt aus. Im Gegensatz zur Auffassung von Marx und Lenin wäre der Sozialismus damit nicht mehr eine neue, weltweite Produktionsweise, die dazu bestimmt ist, nach einer Revolution und der Errichtung einer Klassendiktatur, die sich nach und nach auf alle Länder und Kontinente ausweiten werden, den Kapitalismus in der Geschichte abzulösen; nein, er wäre vielmehr die innere Angelegenheit nationaler Staaten, die im Einparteiensystem regiert werden, dennoch eine demokratische und volkstümlerische Sprache sprechen und in friedlicher Koexistenz mit der Weissen Garde der bürgerlichen Ordnung, dem übermächtigen US-Imperialismus, zusammenarbeiten!
Den Glauben des Proletariats an den Sozialismus können diese Verfälschungen zwar nicht mehr zerstören, wurde er ja durch die stalinistische Konterrevolution ohnehin schwer genug erschüttert; dennoch haben sie bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt ein einziges Ergebnis: Sie hemmen die Wiederbelebung der Klasse, sie lähmen jene proletarischen Kräfte, die nach so vielen Jahren der Apathie nunmehr von der sich klar abzeichnenden bürgerlichen Krise in den Kampf und in die Revolte getrieben werden, sie erschweren die Reorganisation dieser Kräfte auf der Grundlage eines authentischen kommunistischen Programms – kurz, sie bilden ein Hindernis beim Wiederaufbau der proletarischen Internationale auf den Trümmern der alten kommunistischen Bewegung, die in Schande und Abschwörung zugrunde ging.
Und wenn das für das westliche Proletariat gilt, was soll man dann vom mittel- und osteuropäischen Proletariat sagen, das ja den stalinschen »Sozialismus« direkt vor Augen gehabt oder am eigenen Leibe gespürt hat und deshalb heute nur schwer den ganzen bürgerlichen und demokratischen Einflüsterungen der »Entstalinisierer« entkommen kann? Die Auffassungen der Nachfolger Stalins sind von sozialistischen Leitsätzen zwar noch weiter entfernt, als die des alten »Despoten«; sie sind aber die Widerspiegelung des rein bürgerlichen ökonomischen Fortschritts, der sich unter Stalins Knüppel vollzog, und den Einflüssen dieses Fortschritts können sich die unterdrückten Massen zunächst nicht entziehen. So können die Erben Stalins sich mit dem Prestige einer überlegenen Weisheit schmücken, während sie tiefer als je zuvor im Morast der bürgerlichen Ideologie versinken.
In radikalem Gegensatz zu allen diesen Entstellungen sind die Thesen der Klassenpartei über die russische Frage kurz gefasst folgende:
1. Das anfängliche Wirtschaftsprogramm des Bolschewismus und gewisse politische Formulierungen (sowjetische Demokratie), die ihm entsprechen, sind weder das Programm noch die Formulierungen der sozialistischen Umgestaltung einer entwickelten kapitalistischen Wirtschaft, weil Russland ja ein Agrarland war, in dem es nur kleine Inseln einer solchen kapitalistischen Wirtschaft in einem Meer von kleiner Warenproduktion gab. Man kann die einschlägige bolschewistische Politik auf keinen Fall vom russischen und internationalen Kontext der Jahre 1917–1926 herausreissen und in das unmittelbare Programm der zukünftigen sozialistischen Revolution in Europa und Amerika übernehmen. Dasselbe könnte man allerdings nicht so entschieden im Hinblick auf Asien und Afrika behaupten, wenn die Dynamik des sozialen Kampfes auf diesen Kontinenten eine proletarische Partei wie die bolschewistische in den Vordergrund führen würde; das Fehlen von revolutionären Traditionen, die auch nur entfernt mit jenen vergleichbar wären, aus denen der Bolschewismus im Rahmen des Vorkriegseuropas und der zweiten Internationale entstand, lässt diese Hypothese allerdings höchst unwahrscheinlich, wenn nicht absurd erscheinen, zumal wenn man bedenkt, dass sich in diesen Ländern eine rein bürgerliche antiimperialistische Strömung herausgebildet hat, während andererseits der herrschende Imperialismus von der Politik der ökonomischen Blockade zur Politik des Kapitalexports übergegangen ist (China und Vietnam ausgenommen)[145].
2. Das anfängliche Wirtschaftsprogramm des Bolschewismus war ebensowenig das Programm eines Übergangs des vorbürgerlichen Russlands zum vollen Kapitalismus. Wenn Lenin und die Bolschewiki es niemals für möglich gehalten haben, die kapitalistische Phase zu »überspringen«, wenn sie die Möglichkeit, ohne die Weltrevolution diese Phase abzukürzen, sogar ausdrücklich ausgeschlossen haben, so haben sie doch nie akzeptiert, zu einfachen und blossen Verwaltern eines nationalen Kapitalismus zu werden, so »progressiv« dieser im rein russischen Rahmen auch sein mochte. Sie haben im Gegenteil den Sturz der Diktatur des Proletariats vorausgesehen, falls die Weltrevolution ausbleiben sollte. Ihr aktuelles Wirtschaftsprogramm war in Wirklichkeit ein Komplex von Massnahmen, die zwei widersprüchliche Ziele verfolgten: zum einen das Wirtschaftsleben in dem von der Vergangenheit vorgegebenen Rahmen wieder aufleben zu lassen, um daraufhin, solange man auf die internationale Revolution warten musste, den kapitalistischen Fortschritt (Erhöhung der Produktion und der Arbeitsproduktivität durch Mechanisierung der Landwirtschaft und Nationalisierung der Industrie) in ein noch barbarisches Land einzuführen; zum anderen die politischen und sozialen Folgen einer solchen Entwicklung zu bekämpfen, d. h. die opportunistische Korruption der Partei, die sozialen Unterschiede, die Unterdrückung der Arbeiterklasse. Erst als dieser Kampf um die Kontrolle des erwachenden Kapitalismus im Interesse der Arbeiterklasse aufhörte, traten gleichzeitig die Theorie des Sozialismus in einem Land und… der unkontrollierte Kapitalismus zu Tage.
3. Schon während der NEP und zu Lebzeiten Lenins entspricht die reale Wirtschaftsentwicklung nicht mehr dem Lenin’schen Programm des »kontrollierten Kapitalismus«; sie wird vielmehr von zersetzenden Phänomenen begleitet, die der marxistische Flügel der Partei vergeblich zu bekämpfen versucht; diese Phänomene, die sich an der Oberfläche als Bürokratisierung äussern (um den Ausdruck zu gebrauchen, mit dem Lenin und Trotzki sie bezeichneten), bedeuten in Wirklichkeit den Sieg der bürgerlichen Anarchie der Warenproduktion über den revolutionären Willen. Die erste Manifestation des Opportunismus in Russland hat darin bestanden, diese Phänomene zu leugnen, die NEP zu idealisieren bzw. jeden Versuch, diese Phänomene zu bekämpfen, als eine gegen das demokratische Bündnis der Arbeiter und Bauern gerichtete Gefahr zurückzuweisen. Die zweite und viel schwerwiegendere Manifestation hat darin bestanden, vorzutäuschen, dass es selbst ohne die technischen Grundlagen des entwickelten Kapitalismus möglich sei, die aus der Vorherrschaft der kleinen Warenproduktion resultierende Anarchie allein durch die Kraft der souveränen Autorität des Staates zu bezwingen bzw. die »Auflösung der NEP von Amts wegen« durchzuführen, wie Trotzki es mit beissender wie berechtigter Ironie bezeichnete. Hier verbinden sich nationalistische und voluntaristische Abweichung. Auf russischer Ebene steht der Sozialismus in einem Land in einem zweifachen Gegensatz zum ursprünglichen bolschewistischen Programm: Er tauft alle Kategorien (Tauschwert, Preis, Lohn, Kapital) und Verhältnisse (Austausch, Fabrikdespotismus, Unterdrückung der Gesellschaft durch den Staat, Aufblähung des Verwaltungsapparates) »sozialistisch«, die Lenin und die wahren Bolschewiki niemals anders als kapitalistisch definiert haben; er verzichtet ganz auf die Aufgabe der Klassenverteidigung des Proletariats gegen die Folgen des »notwendigen Kapitalismus« (in dieser Hinsicht geht er so weit, im Namen des Sozialismus Formen der Ausbeutung der Arbeit, wie sie der grausamen ersten Periode des bürgerlichen Zeitalters eigentümlich waren, wieder einzuführen). Auf internationaler Ebene wird dies begleitet von der »Kapitulation vor dem Weltkapitalismus, der Versöhnung mit dem sozialdemokratischen Opportunismus und der Zerschlagung des proletarischen Flügels in der Internationale«.
Schliesslich, wenn aus dem »kontrollierten Kapitalismus« Lenins der unkontrollierte Kapitalismus Stalins in sozialistischer Verkleidung hervorgegangen ist, so ist das auf der einen Seite auf die Wirkung von ökonomischen Gesetzen zurückzuführen, die stärker als der Wille der besten revolutionären Partei sind, und auf der anderen Seite auf die Schwäche des europäischen und internationalen Proletariats, das nicht in der Lage war, auf den wahrhaft kommunistischen Appell der russischen doppelten Revolution zu antworten.
Es handelt sich also um einen unumkehrbaren Prozess. Es ist unmöglich, ihn noch einmal von vorn zu beginnen, um den historischen Lauf seit dem Oktober in einem uns günstiger erscheinenden Sinn zu korrigieren. Das Programm einer rein politischen, »antibürokratischen Revolution«, das aus der Nostalgie Trotzkis für die vielversprechenden ersten Jahre der bolschewistischen Revolution entstand, entbehrt gerade deshalb jegliche materialistische Grundlage. Man kann nicht zweimal die Wege der Geschichte gehen. Im Übrigen wird der beschrittene Leidensweg nicht nur unnütze Qual gewesen sein: Heute, nach 51 Jahren kapitalistischer Entwicklung in Russland (und auf der ganzen Welt), kann man ruhig behaupten, dass die zukünftige Internationale, fast überall von den »Übergangsaufgaben« befreit, unmittelbar an die grosse Aufgabe wird herangehen können, an die einzige Aufgabe, auf die es dem Proletariat und seiner Partei schliesslich ankommt: die sozialistische Umgestaltung der grauenvollen bürgerlichen Welt.
Dieses Programm ist in dem programmatischen Artikel »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll« (September 1917) enthalten. Es ist sowohl dem Sozialprogramm einer entwickelten bürgerlichen Republik unterlegen, als auch von ausgesprochener Kühnheit für das damalige Russland. Es fordert ganz einfach eine Intervention des Staates in das Wirtschaftsleben, um die Krise zu verhindern, zu der die Untätigkeit der Staatsmacht, die seit der Februarrevolution besteht, unfehlbar führen muss; eine Krise, die natürlich grausam auf dem Proletariat und den armen Bauern lasten wird. Diese »Intervention« beschränkt sich auf folgende Punkte: Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Bank unter der Kontrolle des Staates, bzw. Nationalisierung der Banken: Dadurch wird zwar keinem einzigen »Eigentümer« auch nur eine Kopeke genommen, der Staat aber wird in der Lage sein, alle Kapitalbewegungen zu kennen; Nationalisierung der kapitalistischen Syndikate (Verbände), die die wichtigsten Industriezweige beherrschen: Diese Massnahme bedeutet keine Enteignung der Betriebe, bzw. ihrer Profite, würde jedoch die Kontrolle und Regulierung der Unternehmen durch den Staat erleichtern; Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses, ohne die eine Kontrolle des Staates über Produktion und Verteilung sowie jede Bekämpfung der Finanzgaunereien unmöglich sind; Zwangssyndizierung, d. h. die Zwangsvereinigung der Unternehmer in Verbänden; Regulierung des Konsums oder mit anderen Worten Bekämpfung des »Schwarzmarktes«, der die Reichen begünstigt; schliesslich als Massnahme gegen den finanziellen Zusammenbruch auch eine stark progressive Besteuerung des Kapitals.
Lenin nennt drei wesentliche Charakteristika all dieser Massnahmen: Sie haben keinen sozialistischen Charakter, und selbst die fortgeschritteneren, imperialistischen Staaten haben während des Krieges ähnliche Massnahmen ergriffen; trotz ihrer eigentlichen Bescheidenheit werden sie niemals von den Sozialrevolutionären und Menschewiki ergriffen werden: um sie durchführen zu können, ist nichts geringeres als die proletarische Revolution, die sich auf die armen Bauern stützt, notwendig; wenn in den entwickelten Ländern der sich seit Kriegsbeginn vollziehende Übergang vom Privatkapitalismus zum Monopolkapitalismus und von diesem zum staatsmonopolistischen Kapitalismus der proletarischen Revolution das Vorzimmer zur sozialistischen Wirtschaftsordnung geöffnet hat, so kann man in Russland, wo viel rückständigere Formen vorherrschen, doch nur Schritte in diese Richtung unternehmen; aber »in jeder grossen Massnahme, die auf der Grundlage dieses jüngsten Kapitalismus einen Schritt vorwärts bedeutet, zeichnet sich der Sozialismus unmittelbar, in der Praxis, ab.« Will man diese Position verstehen, so muss man einerseits begreifen, dass bei Lenin diese Einschätzung an die Perspektive eines Sieges der proletarischen Revolution, wenigstens in Europa, gebunden ist; andererseits muss man wissen, was der Sozialismus in der wahren marxistischen Auffassung, die sich von den heute kursierenden, verfälschenden Lesarten radikal unterscheidet, ist. Um alle Missverständnisse zu vermeiden, wollen wir gerade diesen Punkt kurz klären, bevor wir auf die spätere Phase zu sprechen kommen.
Der Sozialismus kann als eine neue, spezifische Art der Produktenverteilung zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft charakterisiert werden, die aus einer gleichermassen neuen und spezifischen Verteilung der Produktionsbedingungen herrührt. Diese Verteilung ist charakterisiert durch das Verschwinden des Warenaustausches (d. h. des Wertgesetzes), an dessen Stelle eine direkte, ausschliesslich von der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit abhängige (also zunächst kontingentierte und später unbegrenzte) Zuteilung des gesellschaftlichen Produkts an die Mitglieder der Gesellschaft tritt. Die Rolle der Diktatur des Proletariats besteht in allen Stadien der Entwicklung genau darin, alle Hindernisse zu beseitigen, die sich der neuen Organisation der Produktionsbedingungen, ohne die die neue Verteilungsweise nicht hervortreten kann, entgegenstellen, bzw. sie Sektor für Sektor einzuführen, sobald die Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Das Programm dieser Diktatur fällt notwendigerweise anders aus, je nachdem, ob das Hindernis wie im damaligen Russland, auf der Existenz eines riesigen Sektors kleiner Warenproduktion beruht, oder aber im Gegenteil, wie im Westen, in der Herrschaft einer mächtigen Kapitalistenklasse besteht, die der ganzen Gesellschaft ökonomische und soziale Ziele aufzwingt, die im Widerspruch zu der Entwicklung ihrer Produktivkräfte und den Klasseninteressen des Proletariats stehen.
In der kleinen Warenproduktion resultiert die Produktenverteilung gemäss dem Prinzip des Austausches zwischen Äquivalenten aus dem privaten Charakter der Arbeit. Die selbständigen Produzenten können nicht alle zu ihrer Existenz notwendigen Gebrauchswerte produzieren; sie müssen sie von anderen selbständigen Produzenten beziehen; aber ohne eine Messung der Arbeitszeit, die in ihren Produkten enthalten ist, bzw. ohne einen Vergleich zwischen dieser Arbeitszeit und der Arbeitszeit, die im Produkt der anderen enthalten ist, laufen sie Gefahr, bei jedem dieser Austauschakte eines grösseren oder kleineren Teiles ihrer Anstrengung beraubt zu werden, wenn für das Produkt, das sie abgeben, mehr Arbeit erforderlich war als für jenes, das sie erhalten. Diese Produktionsbedingungen verleihen den Produkten unerbittlich den Warencharakter, erfordern zwangsläufig den Austausch dieser Produkte nach dem Wertgesetz. Es ist also unmöglich, auf diese Produktionsbedingungen eine andere, eine höhere Verteilungsweise aufzupfropfen. In der kapitalistischen Produktion hingegen, wo die Arbeit schon kollektiv und die Produktion schon gesellschaftlich ist, beruht das Hindernis nicht mehr so sehr auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln und auf der Selbständigkeit der Produktionsbetriebe, d. h. auf den Bedingungen, die sie von der einfachen Warenproduktion geerbt hat, als vielmehr auf den Klassenzielen, die sie verfolgt. Hier resultiert der Produktenaustausch im Wesentlichen aus dem Warencharakter der Arbeitskraft selbst, aus dem Austausch dieser Arbeitskraft gegen einen Lohn (während im Ursprung des Kapitalismus im Gegenteil der Austausch der Arbeitskraft nach dem Wertgesetz aus dem Warenaustausch resultierte). Es ist in der Tat dieser Tauschakt, der es erlaubt, die kapitalistischen Ziele als Verfolgung des Wertzuwachses (des Mehrwerts) zu kennzeichnen, als Gebrauch der Arbeitskraft, um den Kapitalisten mehr Wert einzubringen als der Arbeiter an Bezahlung für seine Arbeitskraft – die einzige Ware, die er auf den Markt bringen kann – erhält.
In diesem zweiten Fall sind die Zerstörung des bürgerlichen Staates, die juristische Abschaffung des Betriebs- und Konzerneigentums, die Besitzergreifung dieser Betriebe und Konzerne durch den proletarischen Staat ausreichende Bedingungen für eine Reorganisation, die darauf abzielt, die bisher disparaten und konkurrierenden Wirtschaftseinheiten zu einem harmonischen Ganzen zu koordinieren. Der Grund dafür ist, dass die Produktion bereits einen gesellschaftlichen Charakter hat, dass die Volkswirtschaft bereits eine Konzentration erfahren hat und vor allem, dass die bereits erreichte Produktivität der Arbeit die widerwärtige Einschränkung des den Produzenten zukommenden Teils des gesellschaftlichen Produkts (die ja darauf zurückzuführen ist, dass für das Kapital die Arbeitskraft eine Ware darstellt, die sich nur zu ihrem »gerechten Preis« – allerdings möglichst unter diesem Preis – verkaufen kann), die übermässige Ausdehnung des Arbeitstages, das Zuchthausregime in den Fabriken, kurz alle Makel, die aus den Zwängen der Wert- und Mehrwertproduktion entstehen und die Lohnarbeit als eine neue Sklaverei kennzeichnen, ganz und gar überholt und unnötig macht.
In dem ersten Fall können im Gegensatz dazu weder die politische Diktatur noch die juristischen Massnahmen die Missstände beseitigen, die aus der Zersplitterung der Produktionsmittel, der rudimentären Technik, der geringen Produktivität der Arbeit und also der Dürftigkeit des ökonomischen Surplus resultieren, das der Gesellschaft zugutekommen kann, wenn einmal die Bedürfnisse des unmittelbaren Produzenten befriedigt sind. Hier wird die Hürde zu einem Bergmassiv. Eine ganze Phase der Mechanisierung, der Rationalisierung, des technischen Fortschritts und der Konzentration wird notwendig, eine ganze Phase der bürgerlichen Entwicklung. Dadurch wird selbst für die im Lande existierenden Keime moderner Ökonomie der Augenblick hinausgeschoben, wo der kapitalistische Kurs auf Leistungssteigerung und quantitative Zunahme der Produktion, und damit die Unterordnung der unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse unter dieses Ziel, aufhören werden. Das Prinzip des Warenaustausches, der Warencharakter der Arbeitskraft haben hier noch eine lange Zukunft vor sich, und die Forderung nach ihrer zügigen Abschaffung ist nur eine voluntaristische Utopie. Allerdings ist ohne diese Abschaffung jegliche Emanzipation des Proletariats unmöglich.
Die Massnahmen, die von der Sowjetregierung ergriffen wurden[146], bilden ebenso viele Schritte in der Verwirklichung des vor der Revolution formulierten Programms: Nicht die Enteignung der Kapitalisten, sondern die Organisierung eines Staatskapitalismus unter sowjetischem Regime und mithilfe der Arbeiterkontrolle. Diese Kontrolle, der Lenin grösste Wichtigkeit beimass, zielte darauf ab, jegliche Unternehmersabotage in den Industrien von nationaler Bedeutung zu verhindern. Eigentümer und Arbeiterdelegierte waren gegenüber dem sowjetischen Staat verantwortlich für Ordnung und Disziplin in der Produktion. Die Kontrollkommissionen waren jedoch weder verantwortlich für die Unternehmensführung, noch hatten sie das Recht, Anweisungen zu geben oder sich mit Finanzfragen zu beschäftigen. Die Hauptsorge war, die bestmögliche Funktionsfähigkeit einer stark erschütterten Wirtschaft zu sichern, indem man die Fabriken in den Händen derer beliess, die die Praxis der Produktions- und Geschäftsleitung beherrschten, und indem man sie der Überwachung durch die Arbeiter unterstellte, ohne damit auf die Zentralisierung und auf die Einheit des Wirtschaftsapparates (die Feindbilder der »Selbstverwaltungssozialisten«) zu verzichten. Dies gibt der ferneren Perspektive einer »Leitung der Produktion durch die Arbeiter« ihren wahren Sinn: Sie wurde sich auf keinen Fall nach autonomistischen Prinzipien gestalten können. Wie die Verfechter des »Sozialismus in einem Land« haben auch die Anarchosyndikalisten kein Recht, sich auf den »frühen Lenin« oder auf Lenin überhaupt zu berufen!
Im Agrarbereich bestanden die ergriffenen Massnahmen in der Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden und in dessen Nationalisierung. Diese Massnahmen waren weder sozialistisch noch an sich staatskapitalistisch, sofern ihre Bedeutung rein juristischer und nicht ökonomischer Natur war; faktisch wurde der ohne Entschädigung konfiszierte Grundbesitz den Dorfgemeinden zurückgegeben, denen man die Sorge für die Verteilung nach dem Prinzip der »ausgleichenden Bodennutzung« (Umverteilung nach dem Gleichheitsprinzip) überliess. Diese »ausgleichende Bodennutzung« war eine kleinbürgerliche Utopie der Sozialrevolutionäre; sie war nicht geeignet, die russische Landwirtschaft ihrer hundertjährigen Rückständigkeit zu entreissen, bzw. die Gefahr einer Hungersnot aus den proletarischen Zentren zu entfernen, denn sie überliess dem kleinen Bauern uneingeschränkt das Produkt seiner Arbeit, dessen grösster Teil gestern noch von Adel, Kirche und Staat angeeignet wurde. Die Bolschewiki verfolgten selbstverständlich die Errichtung einer umfassenderen Einheit als die der familiären Parzellen und die Einführung der assoziierten Arbeit und der Mechanisierung; sie konnten sich aber ebensowenig einem Kompromiss mit den Forderungen der Sozialrevolutionäre entziehen, denn es handelte sich um die Forderung der riesigen Bauernmassen, die man anders nicht auf die Seite des Proletariats ziehen konnte. Ein solcher Kompromiss hatte dennoch nichts mit »Opportunismus« zu tun, denn die Bolschewiki verzichteten damit auf keine weitergehenden Massnahmen, sofern sie unmittelbar realisierbar wären, und noch weniger auf die Verwendung der rein juristischen Nationalisierung für die zunehmende Einführung der grossen, modernen Landwirtschaft.
Der durch diese ersten Massnahmen errichtete »Staatskapitalismus unter dem Regime der Arbeiter- und Bauernsowjets« musste sehr bald unter dem Druck seiner inneren Widersprüche, der Verschärfung der ökonomischen Situation und schliesslich des Bürgerkrieges, der ihm ein Ende setzte, zusammenbrechen. Einerseits widersetzten sich die Fabrikbesitzer der Arbeiterkontrolle, betrieben Wirtschaftssabotage oder flohen ins Ausland; andererseits folgten die Arbeiter oft nicht den Mässigungsratschlägen der Bolschewiki und enteigneten, begeistert durch die politische Macht, die sie besassen, mehr als sie überhaupt verwalten konnten. So wurde die kommunistische Macht bereits vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges gezwungen, alle Aktiengesellschaften in Staatseigentum zu überführen. Das bedeutete noch nicht vollständige Verstaatlichung der ganzen Wirtschaft, war aber immerhin mehr, als man vorgesehen hatte, und liess sich einzig und allein als »ausserordentliche Massnahme« rechtfertigen. Das Gleichgewicht, das durch die Entfesselung des Klassenkampfes zerstört wurde, wird übrigens durch den Bürgerkrieg und die ausländische Intervention, die der Übergangswirtschaft ein Ende setzen und die Phase des »Kriegskommunismus« eröffnen, bald noch stärker erschüttert werden.
Er wurde lapidar als »ein System zur Reglementierung des Verbrauchs in einer belagerten Festung« bezeichnet. Es handelte sich in der Tat darum, die gering vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen, die proletarischen Zentren vor der Hungersnot zu retten und die Kriegsindustrie zu unterstützen, um den Sieg des Proletariats im Bürgerkrieg zu sichern. Diese Ziele wurden und konnten nur durch eine Stärkung der proletarischen Diktatur im Rahmen des demokratischen Bündnisses mit der Bauernschaft erreicht werden. Solange der Bürgerkrieg dauert, wird dieses Bündnis dennoch unvermindert bestehen, obwohl die Bauernschaft die »Kommune« nur aus Hass und Angst vor der Restauration unterstützte.
Der Handel ist verboten; der Staat eignet sich die Produktion direkt an und verteilt selber die Produkte. Die Lebensmittel, an denen äusserster Mangel herrscht, werden auf dem Lande von bewaffneten Arbeitertrupps beschlagnahmt, die den Bauern dafür nur »bunte Scheine, die aufgrund einer alten Gewohnheit Geld genannt werden«, geben. Man hat hier mit einer Art »Verteilungssozialismus« zu tun, dessen revolutionäre Wirksamkeit nicht zu bestreiten ist, der aber in keinem Zusammenhang mit der ersten Phase des Sozialismus steht, weil die technisch-ökonomische Basis dafür völlig fehlt. Zwar charakterisierte sich der Kriegskommunismus im Bereich der Produktion durch die völlige Enteignung der Grossindustrie und eines grossen Teils der kleinen und mittleren Industrieunternehmen, durch die Ersetzung der Arbeiterkontrolle durch die Arbeiterverwaltung, sowie durch den heroischen Versuch, ganze Zweige der Industrieproduktion durch eine direkte und nicht merkantile Koordinierung zu reorganisieren. Aber nichts von alledem konnte den extremen Mangel an Reserven, den Verfall des produktiven Apparates und das Fehlen von Erfahrung im Bereich der Geschäftsführung beheben. Nach Trotzkis Zeugnis, »hoffte und trachtete die Sowjetregierung, diese Reglementierungsmethoden auf direktem Wege zu einem Planwirtschaftssystem zu entwickeln, sowohl auf dem Gebiet der Verteilung wie der Produktion«. Trotzki erinnert daran, dass es im Programm von 1919 hiess:
»Auf dem Gebiet der Verteilung besteht gegenwärtig die Aufgabe der Sowjetmacht darin, unabänderlich fortzufahren in der Ersetzung des Handels durch planmässige, im gesamtstaatlichen Massstab organisierte Verteilung der Produkte«.
Wie ist ein solcher Widerspruch zum früheren Programm zu erklären, und vor allem wie ist der theoretische Fehler zu erklären, der klar aus allem hervorgeht, was wir in unserem ersten Kapitel gesagt haben? Trotzki antwortet:
»Der theoretische Fehler […] würde ganz unerklärlich sein, berücksichtigte man nicht, dass alle damaligen Berechnungen auf der Erwartung eines baldigen Sieges der Revolution im Westen aufgebaut waren.«
Ein solcher Fehler der bolschewistischen Internationalisten verlangt Respekt ab; ganz anders verhält es sich mit dem Fehler der Renegaten, die später die internationale Revolution nicht nur abschrieben, sondern direkt torpedierten und sich zur Unverfrorenheit verstiegen, zu behaupten, der Sozialismus sei mit Austausch, Handel, Markt usw. vereinbar!
Wenn Lenin und die Bolschewiki in der kurzen Periode vor dem Bürgerkrieg der Meinung waren, dass alle ökonomischen Aufgaben der proletarischen Partei im rückständigen Russland sich zunächst darauf beschränkten, die bevorstehende Katastrophe zu bekämpfen, die die armen Klassen der Gesellschaft bedrohte, so bestand 1921, nach mehr als drei Jahren erbitterten Kampfes, die ganze »Neuigkeit« in der Feststellung, dass die Katastrophe sich bereits ereignet hatte und man sie um jeden Preis überwinden musste. Was man die »Neue Ökonomische Politik« nennt, ist also nur eine Rückkehr der Bolschewiki zum bescheidenen und dennoch äusserst schwierigen ursprünglichen Programm unter neuen, durch die Zuspitzung des Kampfes bis zum Bürgerkrieg bedingten Umständen. Diese Bedingungen waren der totale Zusammenbruch sowohl der industriellen als auch der landwirtschaftlichen Produktivkräfte, die Schwächung und Zersplitterung des kleinen Kerns des städtischen Proletariats, auf dem das ganze Gewicht der Revolution lastete, und die Verschlechterung der Beziehungen zwischen der bolschewistischen Macht (der proletarischen »Kommune«) und der riesigen Bauernschaft. Unter solchen Bedingungen anzunehmen, nach dem Sieg im Bürgerkrieg bestünde die ökonomische Aufgabe darin, »den Kapitalismus in Russland zu zerstören«, wäre nicht nur ein ultralinker Fehler sondern barer Unsinn. Man kann nicht zerstören, was nicht existiert. Ein »Kapitalismus«, dessen Produktion um 69 % gesunken ist[147] – spektakulärster Fall in der Geschichte –, ist kein »Kapitalismus« mehr. Ein »Kapitalismus«, der nur ein Kilo Gusseisen (Schlüsselprodukt der Industrie) pro Kopf liefert (3 % der Vorkriegsproduktion, weniger als man für die jährliche Produktion von Nägeln, Nadeln und Schreibfedern braucht), ist kein »Kapitalismus« mehr. Auf diesem Niveau bedeutet der quantitative Rückgang so viel wie ein qualitativer Rückschritt zu einem vorbürgerlichen Niveau der Wirtschaft. Auf diesem Niveau stellt sich selbst die Hauptfrage – Wer verfügt über die Produktionsmittel? Wer setzt sie in Bewegung? – nicht mehr. Wenn die Fabriken nicht mehr einsatzfähige Maschinen, weder Brennstoffvorräte noch Rohstoffe, noch Arbeiter, noch Produktionsleiter haben, so verfügt derjenige, der darüber verfügt – sei es auch die revolutionärste Macht – über keine materielle Wirklichkeit, er kann sein »Recht« über nichts ausüben. Die einzige Frage, die sich dann stellt, ist, die wenigen vorhandenen Produktionskräfte zu mobilisieren, sie zu koordinieren, mit den erstbesten Mitteln (administratives Zwang und Appelle an den revolutionären Enthusiasmus, materielle Anreize und unentgeltliche kommunistische Arbeit) zusammenzufügen, um die Produktion – Basis jeglichen gesellschaftlichen Lebens – wiederzubeleben. Solange er dafür sorgt, dass sie stattfindet, ist es vorläufig weniger wichtig, wer der Träger dieser Wiederbelebung ist: Der ausländische Kapitalismus, falls er die Konzessionsangebote annimmt; die russischen Kapitalisten, soweit sie noch existieren; die Kommunisten, falls sie dazu fähig sind und die Abwesenheit der ersteren sie dazu zwingt. Weniger wichtig sind die Formen, die das neue Leben annimmt, solange man dem Tod entrinnt: wenn man kämpft, um dem totalen Ruin zu entkommen, kann es nicht die Frage sein, gleichzeitig ein höheres Modell der Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln. Der Staatskapitalismus bleibt – selbst unter dem politischen System der Diktatur des Proletariats – sicherlich weit hinter dem Sozialismus zurück; er wäre jedoch schon ein riesiger Erfolg, ein beneidenswerter Erfolg für die in einem Land der bäuerlichen Kleinbourgeoisie an die Macht gekommenen Kommunisten, die von der gesamten Weltbourgeoisie bekämpft werden und auf noch unbestimmte Zeit die Unterstützung durch das internationale Proletariat entbehren müssen. Das ist im Grossen und Ganzen der Sinn der heftigen Angriffe, die Lenin auf dem Kongress der NEP[148] gegen jene Genossen richtete, die im Namen der »Reinheit des Kommunismus« die Methoden des Kriegskommunismus fortsetzen wollten.
Wenn man auf rein ökonomischer Ebene argumentiert so bestand sicherlich die ganze Frage darin, die Produktivkräfte unter der Kontrolle des Proletariats zu entwickeln, und sei es in kapitalistischen Formen. Lenin unterstrich mit vollem Recht, dass die NEP, weit davon entfernt, eine Neuigkeit zu sein, vollkommen in der Theorie des »Staatskapitalismus«, die er immer verfochten hatte, enthalten war. Aber Lenin wusste auch sehr gut, dass die ökonomische Frage sich im Rahmen einer nach wie vor in Klassen gespaltenen Gesellschaft stellte und deshalb nur durch einen Klassenkampf entschieden werden konnte. Nun war ja das Hauptziel der NEP die Wiederherstellung des Bündnisses zwischen den zwei grossen Klassen der sowjetischen Gesellschaft, dem Proletariat und der Bauernschaft; d. h. die NEP zwang diesen Klassenkampf in so enge Grenzen hinein, dass Lenin sie zugleich (und aus gutem Grund) als einen Rückzug des Proletariats und seiner Partei bezeichnete. Wir müssen jetzt zeigen, dass es kein Fehlschluss war, diese zwei anscheinend widersprüchlichen Behauptungen aufzustellen oder besser, dass der Widerspruch nicht in Lenins Kopf sondern in der schrecklichen Situation begründet lag, in die die Verzögerung der Weltrevolution das russische Proletariat und die kommunistische Partei Russlands versetzt hatte.
Wenn er die Fragen, die sich aus der Situation am Ende des Bürgerkrieges bzw. aus der fortdauernden Isolierung der Revolution ergaben, nicht mehr auf allgemein ökonomischer Ebene sondern im Hinblick auf die Klassenverhältnisse stellt, sagt Lenin in der Tat folgendes:
»Der ›Kriegskommunismus‹ […] war keine Politik, die den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats entsprach, und konnte es auch nicht sein. Er war eine zeitwellige Massnahme. Die richtige Politik des Proletariats, das seine Diktatur in einem kleinbäuerlichen Lande ausübt, ist der Austausch von Getreide gegen Industrieprodukte, die der Bauer braucht. Nur eine solche Ernährungspolitik entspricht den Aufgaben des Proletariats, nur sie ist geeignet, die Grundlagen des Sozialismus zu festigen und zu seinem vollen Sieg zu führen«[149].
Diese Definition ist grundlegend und muss näher erörtert werden.
Während des Kriegskommunismus hatte es keinen »Austausch« zwischen Industrie und Landwirtschaft gegeben, sondern faktisch die Beschlagnahmung jenes Teils der Agrarproduktion, der notwendig war, um die Städte vor dem Hungertod zu retten und der Roten Armee den Kampf zu ermöglichen. Die Bauern hatten diese Beschlagnahmung wohl oder übel toleriert, aus Furcht vor der Restauration; aber sie hatten auch ökonomisch reagiert, was zu einer Senkung der Getreideproduktion von durchschnittlich 770 Millionen Zentner auf durchschnittlich 494 Millionen geführt hatte! Sollte man selbst nach dem Sieg über die Weissen die Zwangsmassnahmen aufrechterhalten, so würde man einen weiteren Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion herbeiführen und ausserdem das Risiko von Bauernaufständen eingehen, mit der möglichen Folge eines Sturzes der bolschewistischen Macht. Das ist der genaue, auf die geschichtliche Situation bezogene Sinn der leninschen Definition: »Die richtige Politik des Proletariats, das seine Diktatur in einem kleinbäuerlichen Lande ausübt, ist der Austausch von Getreide gegen Industrieerzeugnisse, die der Bauer braucht«. Damit wird gar nicht gesagt, dass dieser Austausch dem Proletariat automatisch die politische Vorherrschaft und den wirtschaftlichen Vorteil sichern wird; damit wird gar nicht gesagt, dass unter der Bedingung, dass man den Bauern die Möglichkeit gibt, mit ihren Produkten zu handeln und dass man ihnen auf dem Markt die notwendigen Fabrikwaren zu angemessenen Preisen anbietet, dass unter diesen Bedingungen das Proletariat nicht nur seine Macht sondern auch den Sieg seiner eigenen inneren und internationalen Klassenpolitik definitiv gesichert hätte. Hier liegt das Problem. Es ist sicher, dass die russische Bauernschaft der Kommunistischen Internationale und der Verbindung der sowjetischen Macht mit dieser »ausländischen« Organisation feindlich gegenüberstand. In dieser Beziehung könnten lediglich die armen Bauern (die Verteilung des Bodens hatte die sozialen Unterschiede auf dem Lande keineswegs beseitigt) eine Ausnahme bilden; jedoch musste die Partei 1921 und sogar sehr viel später erkennen, dass sie kaum eigene Vertreter auf dem Lande hatte und nicht einmal über eine für die Bauern leserliche kommunistische Zeitung verfügte. Da der Bauer jedoch kein Idealist ist und sich immer wenig geneigt zeigt, nach Prinzipien zu urteilen, musste dieser Umstand kein Hindernis für die Aufrechterhaltung der proletarischen Diktatur bilden, vorausgesetzt, er hätte keine Folgen auf ökonomischer Ebene. Nun unterwarf aber die internationale Bourgeoisie – nachdem sie gezwungen war, ihre Niederlage auf den Schlachtfeldern des russischen Bürgerkrieges hinzunehmen – das bolschewistische Russland einer schrecklichen Wirtschaftsblockade, die sich selbstverständlich auf die Bauernschaft auswirkte. Um die Bauernschaft mit Fabrikwaren auch nur zu den gleichen Bedingungen versorgen zu können, wie sie die russische Bourgeoisie vor dem Krieg geboten hatte oder jetzt hätte bieten können, wenn sie an der Macht geblieben wäre und damit gleichzeitig die Verbindung Russlands mit dem Weltmarkt gesichert hätte, müsste das Proletariat bereits eine enorme produktive Anstrengung unternehmen; um aber den Bauern ausserdem noch alle notwendigen Produktionsmittel für den Übergang von der damals vorherrschenden, elenden Parzellenwirtschaft zur grossen assoziierten Landwirtschaft zu liefern, musste das Proletariat noch sehr lange auf eine auch nur fühlbare Verbesserung seiner Lebens- und Arbeitsbedingungen verzichten. Kurz und gut, der Austausch der Industrieerzeugnisse gegen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse war sehr wohl eine notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung der bolschewistischen Macht; er war, um mit Lenin zu reden, »die richtige Politik der Diktatur des Proletariats«, denn er bewies ausserdem, dass das Proletariat fähig war, die allgemeinen Interessen der Gesellschaft auf seine Schultern zu nehmen und nicht (wie es die Ouvrieristen wollten) nur die Zunftinteressen zu vertreten. Er war aber auch das Messer, das die riesige Kleinbourgeoisie Russlands an die Kehle des Proletariats hielt; die erdrückende Last, die es dazu zwang, eine kleine Warenproduktion von lächerlicher Leistungsfähigkeit hinter sich her zu schleppen; die unerbittliche Fessel, die die Bindung der ländlichen Kleinbourgeoisie an Kleineigentum und Familienwirtschaft ihm anlegte. D. h. der Austausch mit der Bauernschaft – weit davon entfernt die demokratische Gleichheit zweier Klassen zum Ausdruck zu bringen (wie die Renegaten später behaupteten) und noch weiter davon entfernt, eine feste Grundlage für die politische Vorherrschaft des Proletariats zu bilden – verurteilte das Proletariat dazu, alle Opfer der Revolution zu tragen, und bot seiner Diktatur eine nur schwache und untergrabene Grundlage.
Lenin glaubte an die kommunistische Partei Russlands und an die internationale Revolution, die früher oder später dem russischen Proletariat zu Hilfe kommen würde. Er verkannte jedoch keineswegs das Missverhältnis der Kräfte: So bekämpfte er den Fehler derjenigen, »die den kleinbürgerlichen ökonomischen Bedingungen und das kleinbürgerliche Element als den Hauptfeind des Sozialismus bei uns nicht sehen«; so charakterisierte er den Hauptkampf folgendermassen: »Hier kämpft nicht der Staatskapitalismus gegen den Sozialismus, sondern die Kleinbourgeoisie plus privatwirtschaftlicher Kapitalismus kämpfen zusammen, gemeinsam, sowohl gegen den Staatskapitalismus als auch gegen den Sozialismus. Die Kleinbourgeoisie widersetzt sich jeder staatlichen Einmischung, Rechnungsführung und Kontrolle, mag sie nun staatskapitalistischer oder staatssozialistischer Natur sein«; so, im absoluten Gegensatz zum heutigen Opportunismus, der ganz und gar auf die Mittelklassen orientiert ist und gegen die Monopole zetert, fordert Lenin schliesslich auf der Ebene der Wirtschaftsformen und ihrer Wechselbeziehungen »einen Block, ein Bündnis der Sowjetmacht, d. h. der proletarischen Staatsmacht mit dem Staatskapitalismus gegen das kleinbesitzerliche (patriarchalische und kleinbürgerliche) Element«. Diese prekäre Lage des Proletariats geht vielleicht noch deutlicher hervor aus folgender Kennzeichnung der NEP durch Lenin, die als Zusammenfassung des ganzen Problems betrachtet werden kann:
»Die alte ökonomische Gesellschaftsstruktur, den Handel, den Kleinbetrieb, das kleine Unternehmertum, den Kapitalismus nicht zu zerschlagen, sondern den Handel, das kleine Unternehmertum, den Kapitalismus zu beleben, wobei wir uns lediglich nach Massgabe ihrer Belebung vorsichtig und allmählich ihrer bemächtigen oder die Möglichkeit erhalten, sie der staatlichen Regelung zu unterwerfen.«
Dessen ungeachtet sollten noch keine zehn Jahre vergehen, bis die Kräfte, die lange als zentristische Strömung des Bolschewismus gegolten hatten, ankündigten, es sei Zeit, »die NEP zu liquidieren«, zum Angriff überzugehen und den direkten Weg der sozialistischen Umgestaltung des kleinbürgerlichen und agrarischen Russland einzuschlagen. Um an diesen Punkt zu gelangen, haben sie allerdings vorher die politische Konterrevolution vollbringen müssen.
Nach diesen Ausführungen stellt sich von selbst die geschichtliche Frage, ob die NEP ihre Ziele erreichte oder nicht und warum. Aus dem bereits Gesagten gehen zwei wesentliche Punkte hervor: Das ökonomische Ziel der NEP war weder ein unmöglicher, nationaler Sozialismus (!) noch ein blosses »Hochklettern« von der Ebene der kleinen Warenproduktion auf die Stufe des Staatskapitalismus (eine solche These wäre weniger primitiv aber genauso falsch und gefährlich); mit anderen Worten, es ging auch nicht um den Staatskapitalismus im allgemeinen, als höchste Form des Kapitalismus überhaupt, die damit auch in der Zeitfolge dem Sozialismus am nächsten steht. »Staatskapitalismus« – erklärte Lenin auf dem XI. Parteitag – »das ist jener Kapitalismus, den wir einzuschränken, dessen Grenzen wir festzulegen wissen«, im sowohl unmittelbaren wie langfristigen Interesse des Proletariats, versteht sich. Man kann die gestellte Frage jedoch nicht beantworten, wenn man sich auf die ökonomischen Zielsetzungen der NEP beschränkt; man muss vielmehr die politischen Ziele klar vor Augen haben. Es handelt sich dabei, wie überhaupt bei der Revolution von 1917, im Grunde um eine doppelte Zielsetzung: Durch die Schaffung geeigneter ökonomischer Bedingungen musste man die Gefahr eines Zusammenbruches der Sowjetmacht, als Ganzes betrachtet, beseitigen; als Ganzes betrachtet, weil mit diesem Zusammenbruch auch die demokratischen Errungenschaften der Revolution zugrunde gehen und die Bauern dem weissen Terror ausgeliefert würden; man musste jedoch zugleich sowohl auf ökonomischer (wenn möglich) wie auf politischer Ebene kämpfen, damit diese Sowjetmacht im Allgemeinen proletarisch und damit internationalistisch bliebe. Diese zweite Aufgabe war unvergleichlich schwieriger als die reine Verhinderung einer Restauration, sie bildete aber auch die spezifische Funktion der kommunistischen Partei Russlands, charakterisierte die Partei als solche; ohne diese Zielsetzung gibt es keinen Bolschewismus und keinen Leninismus mehr: Wenn man von der NEP und den Debatten, die sie verursachte, überhaupt irgendetwas verstehen will, darf man demzufolge keinen Augenblick davon abstrahieren.
Unsere Parteithese, die mit einer Unzahl programmatischer Texte untermauert wurde, und auf die wir hier nicht zurückkommen werden, ist die, dass sich die politische Konterrevolution ereignet hat, noch bevor die ökonomische Phase der NEP abgeschlossen war; das bedeutet auch, dass es – selbst wenn die gefürchtete Restauration nicht stattgefunden hat, selbst wenn die Macht »sowjetisch« (wenn auch keinesfalls kommunistisch) blieb – ausgeschlossen ist, anzunehmen, die NEP habe ihr Ziel erreicht. Mehr noch: Nicht der NEP sondern vielmehr ihrer Liquidierung im Jahre 1928 war es zu verdanken, wenn der Sturz der proletarischen Diktatur (oder besser die Ausrottung der proletarischen Züge, die die Sowjetmacht noch behielt, solange es wirklich revolutionäre Kommunisten in der herrschenden Partei gab) nicht von einem allgemeinen Zusammenbruch des Sowjetstaates als solchem begleitet wurde. Die heutigen Erben der stalinistischen Konterrevolution geben die NEP als den »wissenschaftlichen Plan« aus, den Lenin erfunden habe, um das, was das blöde Volk von »doktrinären« Marxisten für unmöglich gehalten hatte – nämlich den Sozialismus in Russland aufzubauen – doch zu machen; sie erheben die NEP gar zur wahren Quelle aller Wunder, die man im heutigen Russland betrachten darf. Dadurch machen sie sich doppelt lächerlich: Ist die erste Behauptung ein theoretisches Monstrum, so ist die zweite eine primitive Verdrehung der geschichtlichen Tatsachen.
Nachdem wir die politische Frage geklärt haben, müssen wir noch den ökonomischen Determinismus untersuchen, der einerseits im Laufe der Jahre 1923–1927 die Diktatur des Proletariats untergraben und liquidiert hat und andererseits die russische Wirtschaft auf den Weg führte, den sie seit der Liquidierung der NEP im Jahre 1928 bis zu ihrer vermeintlichen Wiedereinführung ab 1956 unwiderstehlich beschritten hat.
Die Abschaffung der Zwangseintreibung der landwirtschaftlichen Produkte, bzw. ihre Ersetzung durch eine Naturalsteuer (d. h. man setzte jährlich nach allgemeinen Kriterien für jeden Bezirk eine bestimmte Getreidemenge fest, die die Bauern an den Staat zu entrichten hatte), die Wiedereinführung der Freiheit des Handels für die Überschüsse der landwirtschaftlichen Produktion, die Wiedereinführung der Freiheit des Handels für die Industrieprodukte, kurz, all diese einfachen und geheimnislosen Massnahmen, die die Partei 1921 ergriff, führten sehr bald zu einer unverkennbaren Wiederbelebung der Wirtschaft. Wenn wir mit der Getreideproduktion anfangen, die ja wesentlich war, weil von ihr die Ernährung der Städte abhing, so haben wir folgende Zahlen in Millionen Zentnern[150]:
| 1913–1923 | 494 |
| 1924 | 487 |
| 1925 | 697 |
| 1926 | 730 |
| 1927 | 727 |
| 1928 | 734 |
Diese Zahlen genügen allerdings nicht, um die Kernfrage der Versorgung der Städte während dieses harten Jahres zu klären. Diesbezüglich ist der effektiv auf den Markt gebrachte Getreideanteil aussagekräftiger. Nun, gerade hier verwandelt sich die Progression in eine Regression, denn man hat folgende Zahlen:
| Jahr | % | In Millionen Zentner |
|---|---|---|
| 1913 | 25 % | 200 |
| 1925–26 | 14,5 % | 106 (1926) |
| 1927–28 | 11 % | 81 (1928) |
Aus der Diskrepanz zwischen den beiden Zahlenreihen geht hervor, dass die russische Bauernschaft, die unter dem Zarismus das Opfer einer chronischen Unterernährung gewesen war, aus der Oktoberrevolution den Vorteil zog, sich besser ernähren zu können. Insofern schwindet im Laufe der ganzen NEP die Gefahr einer bäuerlichen Konterrevolution, die 1921 über dem Land schwebte, und in dieser Beziehung festigt sich die Sowjetmacht. Die Sowjetmacht war jedoch eine demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft; das impliziert auch, dass die Verbesserung (und sei es die unmittelbare und auch nur fühlbare Verbesserung) der materiellen Lebensbedingungen des Proletariats nicht zu weit hinter der sich auf dem Lande bei der Bauernschaft manifestierenden herhinken durfte. Solange sich keine normaleren ökonomischen Verhältnisse als die durch die beiden obigen Zahlenreihen attestierten wiederherstellen liessen, konnte keine auch noch so grosse Festigung der Sowjetmacht darüber hinweghelfen, dass sie auf einem gestörten Gleichgewicht, auf einem Missverhältnis zulasten der städtischen Arbeiterklasse beruhte, was ihren proletarischen Charakter und die effektive Vorherrschaft des Proletariats in der gemeinsamen Diktatur langfristig gesehen in Frage stellte, selbst wenn sich dieser Charakter und diese Vorherrschaft selbstverständlich nicht auf eine Frage des relativen Kalorienverbrauchs jeweils durch Arbeiter und Bauern reduzieren lassen, sondern im Gegenteil von unvergleichlich komplexeren und höheren Fragen abhängig sind, wie die Orientierung des Staates im internationalen Klassenkampf und die Unterordnung seiner unmittelbaren Aussen-, aber auch Innenpolitik unter die sozialistischen Endziele.
So unbedeutend diese zwei Tabellen auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, so liefern sie doch eine vollständige Widerlegung der opportunistischen Idealisierung der »sowjetischen Demokratie« und legen den latenten Antagonismus zwischen den beiden vorübergehend verbündeten Klassen offen zu Tage, einen Antagonismus, der selbst auf der bescheidenen Ebene der Tagesinteressen bestand, ganz zu schweigen von der Ebene der geschichtlichen Zielsetzung. Andererseits wirft die Frage ihrer Interpretation zugleich alle wesentlichen Probleme der »Übergangsperiode« auf, also jene Probleme, die die NEP infolge der industriellen Misere des Landes und der imperialistischen Wirtschaftsblockade gegen die UdSSR nicht lösen konnte, und die objektiv zum Scheitern der kommunistischen und proletarischen Diktatur führten. Fragt man sich, warum eigentlich trotz Erhörung der Produktion die für die Arbeiterklasse verfügbare Getreidemenge zurückging und die Arbeitermacht in eine gefährliche Lage versetzte, so wird man auf drei Ursachen stossen, deren relative Bedeutung infolge unausreichender statistischer Angaben nur schwer zu ermitteln ist: 1. die Verteilung des Bodens, d. h. die demokratische Agrarrevolution führte zu einer Verbreitung der kleinbäuerlichen Wirtschaft, die sich in relativ grossem Umfang auf den Selbstbedarf ausrichtete und einen nur spärlichen ökonomischen Überschuss produzierte; 2. das Fortbestehen eines kapitalistischen Sektors in der Landwirtschaft, der einen solchen Überschuss zwar produzieren konnte, dies jedoch nur unter günstigen Marktbedingungen tat; 3. die Sowjetmacht musste trotz der Unterernährung der Arbeiterklasse zwangsläufig einen Teil der landwirtschaftlichen Produktion ausführen, denn dies war unter den gegebenen Bedingungen des in der ganzen Welt nach wie vor herrschenden kapitalistischen Austausches das einzige Mittel, um die unerlässlichen Produktionsmittel zu beschaffen (und sei es nur, um die Industrie wieder in Gang zu setzen). Aber damit kommt man anhand eines einfachen und konkreten Beispiels, das wohl jedem zugänglich sein wird, auf den dreifachen Druck, den 1. die gesamte ländliche Kleinbourgeoisie, 2. der erwachende Restbestand einer agrarischen Kapitalistenklasse (des Kulakentums) und 3. last but not least die imperialistische Grossbourgeoisie der ganzen Welt auf die russische Arbeiterklasse, ihre Partei und ihre Macht ausübten. Wir kennen leider nicht die absoluten Getreidemengen, die das Proletariat im Laufe dieser furchtbaren Hungerjahre aus dem Mund nehmen musste, um die wenigen Maschinen zu bezahlen, die es importieren konnte; dennoch verdeutlicht eine einfache Gegenüberstellung der Abnahme des Getreideumsatzes einerseits und der Zunahme des Getreideexports andererseits (Bedingung für eine Zunahme des so unentbehrlichen Imports von Industrieerzeugnissen) mehr als genug, in welche schreckliche Widersprüche die Isolierung der Revolution das sowjetische Proletariat und seine Partei unentrinnbar verstrickte. Die Zunahme der Exporte hat die NEP nicht überdauert, sie hörte 1930–31 abrupt auf. Wir müssen allerdings sofort hinzufügen, dass die dann beginnende Abnahme, die den autarkischen Bestrebungen der Epoche des »Sozialismus in einem Lande« entsprach, keineswegs eine Erleichterung der Wirtschaftslage der Arbeiter mit sich brachte, ganz im Gegenteil, bedeutet sie ja übrigens die logische Folge der politischen Konterrevolution innerhalb des sowjetischen Lagers. Für die Periode, die uns im Augenblick beschäftigt, laufen die Zahlen gemäss der sowjetischen Enzyklopädie in Millionen Rubeln zum Kurs vom 1. Januar 1961:
| Jahr | Exporte | Importe |
|---|---|---|
| 1913 | 1192 | 1078 |
| 1924 | 264 | 204 |
| 1925 | 477 | 648 |
| 1928 | 630 | 747 |
Die Progression des Exports wird durch die Getreideproduktion selbst begrenzt, welche sich ab 1926 um einen Durchschnitt von 730 Mill. Zentner einpegelt. Dadurch wird nicht nur die Versorgung der Städte beeinträchtigt, sondern die Industrieentwicklung überhaupt, die ja im Rahmen der NEP und in Entbehrung von ausländischem Kapital im Wesentlichen vom Austausch des russischen Getreides gegen ausländische Maschinen abhängt[151]. Soweit man im Rahmen der NEP bleibt, liegt die Schlüsselfrage also in der Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion. Im Vergleich zur Vorkriegszeit besteht in der Tat nach wie vor ein Defizit von über 40 Mill. Zentnern, während die Bevölkerung andererseits zwischen 1918 und 1926 um 10 Millionen zunahm und weiterhin um 3 Mill. Einwohner zunimmt. Die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion und darüber hinaus die der verfügbaren Getreidemenge (die von der Produktion abhängig ist, jedoch, wie wir gesehen haben, nicht mit ihr identisch ist) stellt nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale Frage dar: Die Erhöhung der Produktivität setzt selbstverständlich eine technische Revolution voraus, die ihrerseits eine Entwicklung der industriellen Produktion, genauer gesagt eine massive Produktion von Landwirtschaftsmaschinen und Düngemitteln voraussetzt; aber einerseits wird gerade diese industrielle Entwicklung durch die niedrige Agrarproduktion beschränkt, während die rationelle Nutzung der hypothetischen neuen Produktionsmittel andererseits doch die Überwindung des Parzellenwesens auf dem Lande voraussetzt, der kulakische Grossbetrieb ist einerseits natürlich der kleinen Familienparzelle überlegen, sei es in langer Sicht, weil er spätere technische Fortschritte nutzen kann, sei es aktuell infolge seiner höheren Produktivität, doch andererseits äussert sich dieser Vorteil nicht direkt auf der Ebene der gesellschaftlichen Verfügbarkeit über Getreide, weil es sich um eine Privatproduktion handelt, deren Ausdehnung und Kontraktion nicht in einem direkten und ausschliesslichen Zusammenhang mit den technischen und naturgegebenen Möglichkeiten stehen, sondern von der Marktlage bestimmt werden und sich demzufolge dem Willen und der Reglementierung durch die revolutionäre Macht weitestgehend entziehen. Das ganze Geheimnis der Konterrevolution, die sich in Sowjetrussland noch vor dem Abschluss der NEP ereignete, muss also in der gesellschaftlichen Struktur der russischen Landwirtschaft gesucht werden, selbst wenn es in Ermangelung von statistischem Material leider sehr schwierig ist, ein lückenloses Bild dieser Struktur zu rekonstruieren. Wenn man von der Rede des Stalinisten Molotow auf dem XV. Parteitag ausgehen kann (es handelt sich um den Parteitag vom Dezember 1927, auf dem die Vereinte Opposition von Trotzki, Sinowjew und Kamenew zerschlage wurde), so ist anzunehmen, dass die in kleinen Familienparzellen bewirtschaftete Gesamtfläche, die vor der Revolution 60 Mill. Hektar betragen hatte, sich infolge der Verteilung des gutsherrlichen Besitzes und der Kirchen- und Staatsdomänen auf 100 Mill. Hektar erhöhte, denen man noch 40 Mill. Hektar, die vor 1917 »brachgelegen« hatten und für den Ackerbau erschlossen wurden, hinzufügen musste sowie weitere 36 Mill. Hektar, wenn es stimmt, dass den reichen Bauern vor dem Oktober 40 Mill. Hektar und 1927 nur noch 4 Mill. Hektar gehörten und die Differenz an die armen und mittleren Bauern ging. Derselben Rede zufolge soll es am Ende der NEP nicht weniger als 24 Mill. kleine Bauernhöfe gegeben haben, wovon 8 Mill. so klein gewesen sein sollen, dass »selbst die Anwendung eines Pferdes zu kostspielig wäre« – solche Höfe haben demzufolge keinen Überschuss liefern können, und es ist fraglich, ob sie ihre Besitzer überhaupt ernähren konnten.
So befanden sich fast 98 % des Bodens in den Händen des Surplus armen Kleinbetriebs, während der Rest, der über 50 % der lieferbaren Produktion stellte[152], sich in den Händen einer Kapitalistenklasse befand, die auf jeden Fall keinerlei Interesse am Erfolg der NEP hatte und, wenn sie auch in keiner »prinzipiellen Opposition« zur Sowjetmacht stand, nichtsdestotrotz nur dann produzierte bzw. die Ernte auf den Markt brachte, wenn es ihren Interessen passte; sie war durchaus in der Lage, ihre Überschüsse bei ihr schlecht erscheinenden Preisen zurückzuhalten, um damit einen Preisauftrieb zu verursachen.
Angesichts dieser Lage in der Landwirtschaft »hing alles von der Industrialisierung ab«; berücksichtigt man jedoch den vorgegebenen Rahmen des Austausches zwischen Stadt und Land sowie das äusserst niedrige Niveau, auf das die Produktivkräfte gefallen waren, so konnte die Schwäche der Landwirtschaft die industrielle Entwicklung nur hemmen, denn die Landwirtschaft konnte der Industrie weder Kapitalisten, noch Absatzmarkt, noch Lebensmittelüberschüsse für eine wachsende Arbeiterklasse liefern. Auf einer Stufe, die im Vergleich zu der sozialistischen Umgestaltung sehr niedrig war, stellte die industrielle Entwicklung dennoch Probleme, die im Rahmen des Wirtschaftsliberalismus der NEP unlösbar waren. Um den Preis einer äussersten Anstrengung aller Kräfte scheint die Industrieproduktion 1926 die Höhe des Jahres 1913 wieder erreicht zu haben; gewisse Industriezweige sollen diese Höhe 1927–28 sogar überstiegen haben. Es ist kein Zufall, wenn die Krise zu diesem Zeitpunkt ausbricht, wenn sich zu diesem Zeitpunkt die »grosse Wende« ereignet, die mit der »Entkulakisierung« und der Zwangseingliederung der kleinen und mittleren Bauern in die Kolchosgenossenschaften einerseits und der Industrialisierung im Eiltempo andererseits die eigentliche »stalinsche« Ära unter dem absurden und betrügerischen Banner des »Sozialismus in einem Land« eröffnen wird. Und wenn diese Wende zwar einem Determinismus gehorchte, der unabhängig von den »Ideen« der Führer war und in den realen ökonomischen Verhältnissen beruhte, so wurde sie jedoch auch durch die politische Konterrevolution von 1926–27 bedingt.
Notes:
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Der Text erschien 1967. Mittlerweile sieht die China- und Südostasienpolitik der USA anders aus.
Dekrete über die Arbeiterkontrolle, die Nationalisierung der Banken, die Bildung von Konsumgenossenschaften, die Einstellungen von Dividendenzahlungen an die Aktionäre der Aktiengesellschaften, die Annullierung der Staatsanleihen und das Staatsmonopol im Aussenhandel.
Geht man von einem Index 100 für die Industrieproduktion im Jahr 1913 aus, so überstieg sie 1921 nicht die Indexzahl 31: Die Produktion betrug in diesem Jahr also weniger als ein Drittel des Vorkriegsvolumens
Es handelt sich um den X. Parteitag, der im März 1921, 8 Tage vor dem Ausbruch des Kronstädter Aufstandes und unter der Drohung einer bäuerlichen Konterrevolution stattfand.
Der Sinn ist klar: Die soziale Grundlage der Partei, die für den Sozialismus kämpft. Der »volle Sieg« ist ebenso klar ein politischer Sieg dieser Partei und nicht der Triumph der sozialistischen Gesellschaftsformation allein in Russland, denn das würde ja allen Erklärungen von Lenin über die Notwendigkeit eines langen Kampfes für den Staatskapitalismus widersprechen.
Hier muss man auf einen Punkt hinweisen, der zwar keine praktische, dafür aber eine umso grössere prinzipielle Bedeutung hatte. Um die Industrie wiederaufzubauen, rechnete Lenin 1921–22 im Wesentlichen mit den Konzessionen, d. h. mit der Verpachtung von Sowjetbetrieben bzw. der Errichtung und Ausbeutung von Produktionsstätten durch das ausländische Kapital – allerdings immer unter bolschewistischer Kontrolle. Wie Lenin feststellen musste, war es jedoch unmöglich, akzeptable Konzessionsverträge zu schliessen. Die Sorge um die »nationale Unabhängigkeit« und um den »sozialistischen« Protektionismus (diese Terminologie entstand viel später und ist voll und ganz stalinistisch) war Lenin völlig fremd, und – was ja bezeichnend ist – niemand dachte im Laufe der ersten NEP-Jahre daran, die kühne Position Lenins in Frage zu stellen.
Dieser Anteil (in genauen Zahlen 53 % für das Jahr 1926) wurde von der linken Opposition in ihrer Plattform für den XV. Parteitag genannt. Dieser Parteitag fand nach dem Ausschluss von Trotzki und Sinowjew im Dezember 1927 statt; wie es sich von selbst versteht, wurde die Plattform der Linken auf dem Parteitag nicht einmal besprochen.
