Im Gegensatz zu allen oben behandelten Strömungen hat diejenige, die sich »trotzkistisch« nennt, einen fernen kommunistischen Ursprung in jener linken Opposition, die seit 1923 einen ungleichen Kampf gegen den Opportunismus in der bolschewistischen Partei geführt hatte, einen Kampf, der mit ihrer politischen Beseitigung und physischen Vernichtung im Laufe der Jahre 1927–38 zu Ende ging. Nach wie vor dient der Theoretiker der »permanenten Revolution« und Gründer der Roten Armee, der geschlagene Verfechter einer »Wiederaufrichtung« der Kommunistischen Internationale, der Sowjetmacht und der bolschewistischen Partei, der missbrauchte Gründer einer Organisation, in der er den Keim einer IV. Internationale zu erkennen glaubte, nach wie vor dient Leo Trotzki, der Führer jener Organisation, als Namensschild einer Bewegung. Doch heute, dreissig oder besser vierzig Jahre nach jener schrecklichen Niederlage ist an dieser Bewegung der ferne Ursprung nicht mehr zu erkennen. Ohne feste theoretische Grundlagen, ohne Bindung zur Arbeiterklasse, bildet der heutige »Trotzkismus« einen Haufen kleiner Sekten, deren Positionen – sofern sie sich überhaupt um theoretische Fragen kümmern – in fast jeder Hinsicht auseinandergehen. Doch eine Position kennzeichnet mehr oder weniger alle »Trotzkisten«, eine merkwürdige Position, die zu den erstaunlichsten Produkten der Prinzipienlosigkeit und des Empirismus zählt: Die UdSSR (ja der ganze »Ostblock«) sei im Grunde wohl sozialistisch, bedürfe jedoch einer politischen Revolution zwecks Wiederherstellung der Arbeiterdemokratie.
Sollte der Trotzkismus theoretische Verallgemeinerungen überhaupt wagen, so würde aus dieser unbequemen Plattform eine »Lehre« hervorgehen, die sich folgendermassen formulieren liesse: Die von der proletarischen Partei[118] nach der Machteroberung durchgeführte Nationalisierung der Produktionsmittel kennzeichnet, solange sie aufrechterhalten bleibt, ein sozialistisches Regime; dieser Sozialismus kann jedoch erst dann als vollständig betrachtet werden, wenn er durch die politische Demokratie, bzw. die Beteiligung der Arbeiter an den »ökonomischen Entscheidungen« der Macht begleitet wird. Es handelt sich um einen Rückfall in zwei bereits untersuchte Abweichungen, nämlich in den Sozialdemokratismus, bzw. den »Selbstverwaltungssozialismus«; vom Kommunismus bleibt darin lediglich die Idee erhalten, dass eine gewaltsame Revolution notwendig sei. Doch selbst die Idee bleibt so verschwommen, dass der Trotzkismus im Laufe von vierzig Jahren noch nicht imstande war, eine auch nur im geringsten fundierte, ja nur vernünftige Orientierungslinie für die Reorganisierung der revolutionären Kräfte aufzuzeigen.
Zwischen diesem ideologischen Ungeheuer, das bei den zukünftigen Generationen starke Verwunderung hervorrufen wird, wenn sie es im Kuriositätenkabinett der Geschichte überhaupt wiederfinden sollten, und den Positionen, die Trotzki, bzw. die Opposition nacheinander vertreten haben, gibt es – das lässt sich nicht bestreiten – einen gewissen Zusammenhang. Dieser besteht darin, dass die heutigen Trotzkisten, die für die wirklich revolutionären Lehren Trotzkis nichts übrig haben, gerade an seine Fehler und an seine schwächsten Positionen anknüpfen. Das heisst, dass Trotzki zwar eine gewisse Verantwortung für die Entstehung der absurden »Theorie« trägt, die sich mit seinem Namen schmückt; in dem Masse jedoch, in dem er ein authentischer Kommunist war, stand er auf einer ganz anderen und unvergleichlich höheren Ebene.
Wie es in ihrer Generation noch üblich war, haben Trotzki und Lenin den missverständlichen Ausdruck »Arbeiterdemokratie«[119] häufig benutzt; die bolschewistische Partei machte vom Mechanismus der formellen Demokratie unbestreitbar einen gewissen Gebrauch, um ihre inneren Verhältnisse zu regeln; und die dramatischen Sitzungen des Zentralkomitees, in denen die wichtigsten Entscheidungen der Revolution (Fragen des bewaffneten Aufstands, der Brester Verhandlungen, bzw. der Fortsetzung oder Unterbrechung des Krieges, die Einführung der NEP) durch »Stimmenmehrheit« getroffen wurden, haben sich ins Gedächtnis Aller eingeprägt. Doch daraus kann man keineswegs wie die Trotzkisten schliessen, ein Trotzki oder ein Lenin seien im Gegensatz zum »Despoten« Stalin »Demokraten« gewesen[120]: Dies ist ein Verrat an ihrem ganzen Werk, ganz zu schweigen davon, dass es einen höchst suspekten Versuch darstellt, Lenin und Trotzki von den Anschuldigungen der Bourgeoisie und der schlimmsten Opposition rein zu waschen, denen zufolge sie durch die Errichtung der Diktatur den Weg Stalins vorbereitet haben. Wirkliche Kommunisten haben für derlei Behauptungen des Klassenfeindes nur Verachtung übrig, sie lassen sich nicht dazu herab, das Bild der grossen Revolutionäre der Vergangenheit zu retuschieren, um sie für die Dilettanten des »Fortschrittlertums« schmackhaft oder annehmbar zu machen. Aber nicht nur darum geht es. Wenn man den radikalen Gegensatz zwischen der Partei Lenins und der Partei Stalins (beide Namen werden hier benutzt, um zwei geschichtliche Phasen zu bezeichnen) dadurch charakterisiert, dass erstere »demokratisch« funktioniert habe und letztere nicht, so geht man völlig an dem Kern der Sache vorbei, schlimmer noch, man verdeckt diesen Kern aus opportunistischer Überlegung. Der Gegensatz zwischen beiden Parteien ist ein wesentlicher und die berühmte »Funktionsweise«, die den Philistern so teuer ist, nur ein Ausdruck davon: Wenn man von demokratischer Funktionsweise im eigentlichen Sinne des Wortes reden kann, dann trifft dies keineswegs für die bolschewistische Partei aus der Zeit Lenins, sondern gerade und allein für die in den Stalinismus degenerierende Partei zu. Erstere war eine Klassenpartei, eine revolutionäre Partei, die sich strikt nach einer genau umrissenen Theorie richtete, dem Marxismus, den ihr Führungskern gegen den Opportunismus wiederhergestellt und verteidigt hatte. Ihrem Wesen nach widersteht eine solche Partei jenen Meinungsschwankungen, denen zu gehorchen die demokratischen Parteien sich mindestens in der Theorie zur Pflicht machen. Ihrem Wesen nach wird eine solche Partei in ihrer Aktion durch ihr Programm und nicht durch die »Meinung« ihrer Mitglieder geleitet. Ihr Führungskern wird zu einem solchen nicht durch »freie« individuelle Wahl, wie es die demokratische Mythologie will, und auch nicht durch die Mittel, die letztere immer benutzt, nämlich Werbung für oder gegen Individuen, die bis zur betrügerischen Apologie, bzw. Diffamierung reicht; der Führungskern entsteht als Ergebnis der tatsächlichen Geschichte der Partei und des in ihrem Verlauf sich vollziehenden Selektionsprozesses (allmähliche Entfernung jener Führer, die der Parteiaufgabe nicht gewachsen oder ganz einfach unsicher sind und zum anderen Hinzuziehung von Elementen, die sich zuvor verirrt hatten, wie im leuchtenden Beispiel Trotzkis) und wächst so mit seiner entscheidenden Funktion zusammen. Was eine solche Partei anstrebt, ist eine Kontinuität der Aktion (die ohne eine gewisse Stabilität der Führung undenkbar ist) und keineswegs die individuelle Freiheit ihrer Mitglieder, wie die demokratischen Parteien es wollen, deren Haltung dauernd schwankt, weil sie keinem Prinzip gehorchen, und deren Führung mit der Gunst der Wahlurnen wechselt, deren Funktion sie ja ist. Eine solche Partei kann nicht als »demokratisch« bezeichnet werden, zumal alle ihre positiven Charakteristika lauter Beweise sind für die Lüge der demokratischen Postulate, bzw. für die Untauglichkeit dieser Postulate, wenn es darum geht, revolutionäre Aufgaben zu erfüllen. Unter solchen Bedingungen sind Wahlabstimmungen lediglich ein bequemer Mechanismus und weiter nichts. Weit davon entfernt, irgendeine »Garantie« zu liefern, lässt sich der Gebrauch derartiger Mechanismen im Gegenteil nur durch eine relative Unreife der Partei erklären: Kann diese auf ein Maximum an geschichtlicher Erfahrung zurückblicken, ist sie auf die höchste Kohäsionsstufe gelangt, dann gibt es selbst bezüglich praktischer Fragen keinen Platz mehr für jene heftigen inneren Gegensätze, welche die bolschewistische Partei leider noch kannte[121] und zwangsläufig kennen musste, bewegte sie sich ja gleichzeitig auf dem Boden der letzten demokratischen und der ersten sozialistischen Revolution in Europa. Das ist so wahr, dass in Wirklichkeit keine wichtige Entscheidung (wie z. B. die Unterzeichnung des Friedensvertrags 1918 oder der Abbruch des Polenkrieges) je von der ruhigen Abzählung der Meinungen im Zentralkomitee abhing: Man tat das Nötige für die Wahrung der Parteieinheit und -harmonie, beachtete das, was Lenin die »Parteilegalität« nannte, doch niemals hat man einen bolschewistischen Führer (und vor allem Lenin nicht) auf den energischsten Kampf gegen seine eigenen Genossen verzichten sehen, wenn das Schicksal der Revolution auf dem Spiel stand. Dieser Kampf war loyal und offen. Es ging immer um die vertretenen Positionen und Lösungen und niemals um Personen. Den zur weiteren Parteimilitanz entschlossenen Genossen war der Platz in der Partei selbst nach den ernstesten Krisen gesichert (siehe Sinowjew und Kamenew, welche die Parteidisziplin gerade in der Kernfrage des bewaffneten Aufstandes verletzt hatten). Ohne jegliches Zögern nahm man erprobte Revolutionäre wie Trotzki und einige seiner Genossen in die Partei auf, sobald sie ihre früheren Fehler abgelegt hatten. Und solange die Revolution ihre ursprüngliche Triebkraft behielt, hat man nicht im Traum daran gedacht, Staatssanktionen oder gar Polizeigewalt gegen Parteimitglieder anzuwenden. Das alles sind lauter Merkmale der Partei Lenins. Merkmale, die sie von der Partei Stalins unterscheidet. Doch kann man darin eine demokratische Charakteristik nur dann erblicken, wenn man sich durch Worte in einem erstaunlichen Masse täuschen lässt, wenn man sich das Armutszeugnis ausstellen will, der Demokratie Verdienste zuzuschreiben, die sie keinesfalls hat. Die Trotzkisten sehen im »Respekt vor dem Individuum« ein Ruhmeszeichen der bolschewistischen Partei der Leninschen Phase und stellen es dem angeprangerten Regime von Manövern, Terror und Gewalt der Stalinschen Phase entgegen. Doch um ihre ganze Überlegenheit gegenüber der gängigen Praxis aller parlamentarischen Parteien aufzuweisen, hat die bolschewistische Partei keineswegs diesem »Respekt vor dem Individuum« frönen müssen, das die bürgerliche Demokratie als eins ihrer teuersten Prinzipien zur Schau stellt, sondern ganz einfach das sein müssen, was sie eben war: kommunistisch-bolschewistische Praxis einerseits und stalinistische Praxis andererseits beweisen gerade das Gegenteil dessen, was der entartete Trotzkismus beweisen möchte, sowie dessen, was der vulgäre Demokratismus darin sieht. Die bolschewistische Praxis beweist mit Stringenz, dass die Verfolgung von kollektiven Zielen, von Klassenzielen, und die Negation des ideologischen bürgerlichen Prinzips der Freiheit keineswegs jene berühmte »Zerstörung des Individuums« nach sich ziehen, welche die Bourgeois mit dem üblichen Stumpfsinn dem Marxismus dauernd vorwerfen. Der Grund hierfür ist einfach: Wie alle anderen Beziehungen, so werden auch diejenigen zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, an der es teilhat, nicht von der Fiktion des Rechts bestimmt, sondern von der Natur dieser Gemeinschaft selbst.
Was die revolutionäre Partei angeht, so kann sie als Ganzes nicht im Gegensatz zu jedem Mitglied als Einzelnem stehen: Ganz im Gegenteil, denn sie existiert ja als Partei nur in dem Masse, in dem es Militante gibt, die dazu gelangt sind, ihre Anstrengungen zu koordinieren, zur maximalen Wirkungskraft zu führen, um ihr gemeinsames Ziel zu erreichen. Und jeder einzelne Militante ist wiederum nur in dem Masse ein solcher, in dem er Teil des Ganzen ist. Weit davon entfernt, das Individuum zu unterdrücken, geschweige denn zu zerschlagen, ist die Partei letztendlich nichts anderes als die rationale Anwendung einer Reihe von individuellen Anstrengungen, die ausserhalb der Partei nicht nur verloren gingen, sondern erst überhaupt nicht entstehen würden. Will man also die Beziehung von Individuum und Gemeinschaft in einer Partei, die aus Prinzip den bürgerlichen Individualismus und die demokratischen Garantien negiert, kennzeichnen (und zwar als Antwort auf die Demokraten, und nicht weil es für uns wichtig wäre), so muss man sagen, dass sich das Individuum gerade in der Partei und durch die Partei diese rein fiktive Souveränität, zu der der Demokratismus es verurteilt, abschütteln kann, um sich in eine reale Kraft zu verwandeln (wohlgemerkt in den Grenzen des Determinismus).
Was geschieht hingegen in der stalinistischen Partei? Im Fahrwasser des vulgären Demokratismus beklagt der entartete Trotzkismus die Abschaffung jener berühmten »Garantien« des habeas corpus für die Militanten, die Abschaffung ihrer Meinungsfreiheit, an deren Stelle eine Diktatur trat. Darum geht es wohl! Die als »stalinistisch« bezeichnete Partei ist die bolschewistische Partei an einem bestimmten Zeitpunkt ihrer geschichtlichen Existenz, den man folgendermassen charakterisieren kann: Sie hat hinter sich einen grossen revolutionären Sieg, verlor jedoch ihre Arbeiterelite im Bürgerkrieg und steht vor Aufgaben, auf die sie nicht vorbereitet war, für die sie ja nicht einmal geschaffen war: Die Prinzipien der sozialistischen Wirtschaftsführung waren im gegebenen Fall unanwendbar, und sie musste eine wegen der Sabotage und Flucht der Bourgeois zerrüttete Wirtschaft nach völlig anderen, entgegengesetzten Prinzipien, d. h. nach »gesunden« bürgerlichen Prinzipien verwalten. Im Massstab Russlands ging es ausser der Frage der revolutionären politischen Kontinuität auch um die Frage: Entweder ökonomische Wiederaufrichtung oder Tod, entweder Wiederaufbau oder Zusammenbruch inmitten der schlimmsten sozialen Erschütterungen begleitet von dem grausamsten weissen Terror. Aus diesen ganzen Verhältnissen resultierte ein vollständiger Wechsel in der Zusammensetzung und zugleich in der Mentalität der Partei: Unter dem Druck derartiger Bedingungen verdrängt der unvermittelte Praktizismus tendenziell, aber zwangsläufig alle Sorgen um theoretische Folgerichtigkeit und Treue zu den Prinzipien. Selbstverständlich konnte sich dieser Praktizismus nur deshalb definitiv durchsetzen, weil die russische Partei keine Hilfe von aussen (d. h. von der Internationale) erhielt. Doch konnte man auch nicht schlicht und einfach mit der Vergangenheit offen brechen, all ihre Traditionen über Bord werfen und die noch wachen Erinnerungen auslöschen. Da der unvermittelte Praktizismus jedoch seinem Wesen nach die leibhaftige Negation jener ganzen Vergangenheit war, blieb ihm ein einziger Ausweg übrig: Einerseits eine scheinbare politische und theoretische Kontinuität zur Schau tragen (diese hätte zwar keiner auch nur im Geringsten ernsthaften Untersuchung standhalten können, doch eine solche wurde unmöglich gemacht), andererseits den Widerstand der Revolutionäre gegen diesen »neuen Kurs« zu brechen. Gerade zu diesem Zweck wurde an die Meinungen, an das Gewissen, an die Gefühle dieser in einem bestimmten Masse neuen Partei appelliert, in die sich die bolschewistische Partei verwandelt hatte. Noch unlängst hatten Lenin und seine Genossen die Prinzipien, die Theorie und das Programm des Kommunismus als einzige Autorität anerkannt; jetzt galt es, dieser Autorität eine andere entgegenzustellen, nämlich die souveräne Autorität der demokratischen Mehrheit. Noch viel verwerflicher als die Sanktionen (Absetzungen, Ausschlüsse, Verhaftungen, Verbannungen und spätere Massaker) erscheint den wirklichen Marxisten in dieser Phase die Ausnutzung der demokratischen Legalität durch den Stalinismus, die Ausnutzung der rein formellen, betrügerischen und mystifizierenden Regeln der Mehrheitssouveränität, dieser verhassten Fiktion, die seit über hundert Jahren der Bourgeoisie in allen Bereichen der Gesellschaft nicht, wie sie vorgibt, dazu dient, die »Freiheit des Individuums zu schützen«, sondern das Proletariat und die Revolution niederzuschlagen! Und wenn diese Umwandlung der Partei allein sehr oft nicht ausreichte, um der stalinistischen Fraktion die Mehrheit zu sichern; wenn die Stalinisten dann diese Mehrheit durch Manipulationen, Kampagnen und entsprechende Manöver »organisieren« mussten, so beweist das alles keineswegs, dass die stalinistische Partei nicht »wirklich demokratisch« gewesen ist. Es beweist im Gegenteil sehr gut, dass die Preisgabe der kommunistischen Praxis (die gänzlich auf der gemeinsamen Anstrengung beruht, die kollektive Aktion auf die revolutionären Ziele auszurichten und damit an der gemeinsamen Theorie zu orientieren) und der Übergang zur demokratischen Praxis (die nur bestrebt ist, Mehrheiten zu erhalten) zwangsläufig die Rückkehr aller Laster des bürgerlichen politischen Lebens nach sich zieht. Das demokratische Wesen der stalinistischen Partei geht nicht allein aus dem Gebrauch der vom Marxismus seit über einem Jahrhundert blossgestellten demokratischen Fiktion, sondern zugleich auch aus der Gemeinheit ihres ganzen inneren Lebens hervor.
Als Trotzki 1923 seinen »Neuen Kurs« schrieb, war ihm das alles sehr gut bekannt. Wie wir noch sehen werden, verlangte er keineswegs »demokratische Garantien«, sondern eine Genesung des innerparteilichen Regimes, die Rückkehr zum normalen Leben einer revolutionären Partei. Welche Positionen Trotzki auch in einer späteren Phase, in der Phase seines persönlichen Verfalls, vertreten haben mag, welche Sprache er, die Partei und selbst die Internationale bereits damals benutzt haben mögen[122] so war er doch in dieser Zeit nicht weniger als Lenin selbst völlig frei von demokratischen Illusionen und von demokratischem Formalismus. Wir können selbstverständlich nicht alles zitieren; drei Hinweise dürften hier genügen.
In seiner Schrift »Die Lehren der Kommune« (Anfang 1921) zieht Trotzki den Vergleich zwischen der Pariser Kommune und der russischen Revolution; er zeigt die ganze Überlegenheit der Parteiorganisation und die Unzulänglichkeit des Wahlprinzips, wenn es darauf ankommt, das Proletariat mit einer siegesfähigen politischen und militärischen Führung zu versehen. Wir zitieren:
»Das Zentralkomitee der Nationalgarde« [dessen entscheidende Rolle in der Kommune allgemein bekannt ist, IKP] »war in Wirklichkeit ein Rat, der aus den Deputierten der bewaffneten Arbeiter und der Kleinbourgeoisie bestand. Ein solcher Rat, der unmittelbar von den Massen gewählt wird, die den revolutionären Weg gewählt haben, stellt ein ausgezeichnetes Aktionsinstrument dar. Aber er spiegelt gerade aufgrund seiner direkten und unverfälschten Bindung an die Massen… nicht nur alle stärken, sondern auch alle Schwächen dieser Massen wider, wobei die Schwächen deutlicher hervortreten[…]«. Die bürgerliche Regierung flüchtete nach Versailles. Doch gerade zu diesem Zeitpunkt, da die Verantwortung am grössten war, »beeilte sich die Nationalgarde, sich so schnell wie möglich der Verantwortung zu entziehen«. Statt revolutionär zu handeln, »verfiel das [demokratisch gewählte, IKP] Zentralkomitee der Nationalgarde auf ›legale‹ Wahlen für die Kommune. Es trat in Verhandlungen mit den Pariser Bürgermeistern, um sich nach rechts durch die ›Legalität‹ abzusichern«.
Wie Trotzki zeigt, kamen darin die Schwächen der Massen zum Ausdruck:
»Die Passivität und die Unentschlossenheit stützten sich in diesem Fall auf das geheiligte Prinzip der Föderation und der Autonomie. […] Die Feindseligkeit einer zentralistischen Organisation gegenüber – Erbe der lokalen Beschränktheit und des kleinbürgerlichen Autonomismus – ist zweifellos die schwache Seite einer bestimmten Fraktion des französischen Proletariats«.
Trotzki geht also von den Tatsachen aus und beweist damit den Vorrang einer Organisation, »die sich auf ihre gesamte geschichtliche Vergangenheit stützt, die durch ihre Theorie den Gang der Entwicklung mit all ihren Etappen vorhersieht«, Diese Organisation »ist keine Maschine für parlamentarische Manöver, sie ist die gesammelte und organisierte Erfahrung des Proletariats«, kurz und gut die kommunistische Partei. Gegenüber der Partei sind alle aus Wahlen hervorgehende Organisationen des Proletariats notwendigerweise unterlegen: Diese Organisationen spiegeln den jeweiligen Bewusstseinsstand der Massen unvermittelt wider und damit auch alle schwachen Seiten dieser Massen.
Von der politischen Frage geht Trotzki zur militärischen über. Seine Kritik an der demokratischen Auffassung des proletarischen Kampfes wird hier noch härter:
»Die politische Aufgabe bestand darin, die Nationalgarde von der konterrevolutionären Führung zu reinigen. Die völlige Wählbarkeit war dafür das einzige Mittel, da sich die Mehrheit der Nationalgarde aus revolutionären Arbeitern und Kleinbürgern zusammensetzte […] Mit einem Wort, die Wählbarkeit hatte in diesem Fall zur sofortigen Aufgabe, die Bataillone von Kommandanten, die der Bourgeoisie ergeben waren, zu befreien, und nicht, ihnen gute Kommandanten zu geben«.
Es spricht jetzt die eigene revolutionäre Erfahrung des Gründers der Roten Armee:
»Das gewählte Kommando ist in den meisten Fällen ziemlich schwach unter dem technisch-militärischen Aspekt und was die Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin betrifft, so dass im Moment, da sich die Armee vom alten konterrevolutionären Kommando befreit, das sie unterdrückte, sich die Frage nach einem revolutionären Kommando stellt, das in der Lage und fähig ist, seine Aufgabe zu erfüllen. und diese Frage kann keineswegs durch Wahlen gelöst werden. […] Die Wählbarkeit darf auf keinen Fall zum Fetisch und Allheilmittel werden. […] Wir brauchen die Führung einer starken Partei«.
Darin liegt eine Lehre der revolutionären Erfahrung, ein kommunistisches Prinzip; für die heutigen Trotzkisten ist es allerdings ein toter Buchstabe.
In »Terrorismus und Kommunismus« finden wir wieder dieselbe glänzende Widerlegung der schon damals üblichen Kritik an der »Diktatur der bolschewistischen Partei«. Sie gilt in vollem Umfang für alle Nachzügler der »Arbeiterdemokratie«:
»Man hat uns vielfach vorgeworfen, wir hätten die Diktatur der Sowjets nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit aber eine Diktatur unserer Partei verwirklicht. Dabei kann aber mit vollem Recht gesagt werden, dass die Diktatur der Sowjets nur möglich geworden ist vermittels der Diktatur der Partei: Dank der Klarheit ihrer theoretischen Erkenntnis und ihrer festen revolutionären Organisation sicherte die Partei den Sowjets die Möglichkeit, sich aus formlosen Parlamenten der Arbeit in einen Apparat der Herrschaft der Arbeit zu verwandeln. In dieser ›Unterschiebung‹ der Macht der Partei anstelle der Macht der Arbeiterklasse liegt nichts Zufälliges und dem Wesen nach ist auch durchaus keine Unterschiebung vorhanden. Die Kommunisten bringen die grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Es ist ganz natürlich, dass die Periode, wo die Geschichte diese Interessen in vollem Umfange auf die Tagesordnung setzt, die Kommunisten die anerkannten Vertreter der Arbeiterklasse als Ganzes werden. ›Wo habt ihr aber die Garantie dafür‹ – fragen uns einige weise Leute -, ›dass gerade eure Partei die Interessen der geschichtlichen Entwicklung zum Ausdruck bringt? Indem ihr die anderen Parteien vernichtet, oder in den illegalen Zustand versetzt habt, habt ihr dadurch ihren politischen Wetteifer mit euch ausgeschaltet und also auch euch selbst der Möglichkeit beraubt, eure Richtungslinie nachzuprüfen‹. Dieses Argument ist von einer rein liberalen Vorstellung vom Gang der Revolution diktiert. Zu einer Zeit, wo alle Gegensätze einen offenen Charakter annehmen, und der politische Kampf rasch in den Bürgerkrieg übergeht, verfügt die herrschende Partei über eine genügende Anzahl materieller Kriterien, auch abgesehen von der eventuellen Auflagenhöhe menschewistischer Blätter. […] Jedenfalls besteht unsere Aufgabe nicht darin, in jedem Augenblick das Gewicht der verschiedenen Richtungen festzustellen, sondern darin, unserer Richtung, die die Richtung der revolutionären Diktatur ist, den Sieg zu sichern. Und in der Entfaltung dieser Diktatur, in ihren inneren Reibungen, sind hinreichende Kriterien zur Selbstüberprüfung zu finden.«
1936 wird Trotzki leider seinerseits dazu kommen, gegen die »stalinistische Diktatur« die Forderung nach »sowjetischer Demokratie« (siehe »Verratene Revolution!«) zu stellen. Allerdings wird er seine Abweichung dann nur mit einer Banalität rechtfertigen können, die seiner nicht würdig ist: »Alles ist relativ auf dieser Welt, wo nur Veränderung beständig ist.« Dessen sind sich die Epigonen seines Verfalls aber bis heute nicht bewusst.
Die dritte Schrift heisst »Ist die Umwandlung der Sowjets in eine parlamentarische Demokratie wahrscheinlich?« Sie wurde 1929 verfasst, also nach der Niederlage der russischen Opposition; insofern kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Der Kampf Trotzkis gegen den Stalinismus wich damals zwar schon vom Boden der Prinzipien und selbst der geschichtlichen Realität ab, doch hielt der grosse Revolutionär, wie wir sehen werden, nach wie vor noch an der marxistischen Kritik am Demokratismus unerschütterlich fest.
»Wenn die Sowjetmacht unter dem Drucke ständig wachsender Schwierigkeiten steht, wenn eine Krise im ›Direktorium‹ der Diktatur besteht, wäre es dann nicht besser, einen Anlauf zur Demokratie zu nehmen? Entweder offen oder versteckt wird diese Frage in vielen Artikeln aufgeworfen als Kommentar zu den letzten Ereignissen in der Sowjetunion. Es ist nicht meine Aufgabe zu entscheiden, was das Beste oder was das Schlechteste ist. Ich möchte ans Licht bringen, was wahrscheinlich ist, was sich also aus der Logik der objektiven Entwicklung ergibt. Die Schlussfolgerung, zu der ich komme, ist, dass nichts weniger wahrscheinlich ist, als die Umwandlung der Sowjets in eine parlamentarische Demokratie, oder, genauer gesagt, dass eine solche Umwandlung absolut unmöglich ist.«
1929 entgegnete Trotzki seinen sozialdemokratischen Gegnern, dass, was man sich auch wünschen möge, die Rückkehr der UdSSR zur parlamentarischen Demokratie geschichtlich ausgeschlossen sei. 1936 wird er jedoch aus dieser Forderung die zentrale politische Forderung der Opposition für die UdSSR machen.[123] Unsere Parteithese ist, dass er dadurch vom Boden des Kommunismus auf den Boden der Sozialdemokratie abglitt. Um so wichtiger ist es daher, seine richtige Kritik von 1929 an den sozialdemokratischen Gegnern wiederzugeben, denn sie gilt, wie wir sehen werden, unvermindert fort, sowohl gegen ihn selbst seit 1936 als auch gegen seine »Schüler« der nachfolgenden Jahrzehnte.
Trotzki beruft sich einerseits auf Zusammenhänge internationaler und allgemeiner Natur und andererseits auf spezifisch russische Zusammenhänge, wobei beide Ebenen selbstverständlich miteinander verbunden sind. Schauen wir uns zunächst die internationalen Zusammenhänge an:
»Um mich klarer auszudrücken, muss ich geographische Grenzen beiseite lassen. Es genügt, gewisse Tendenzen der politische Entwicklung Europas seit dem Kriege ins Gedächtnis zurückzurufen, der nicht eine Episode, sondern der Prolog einer neuen Epoche war. Fast alle politische Führer aus dem Kriege leben noch. Der grösste Teil von ihnen sagte seinerzeit, dass dieser Krieg der letzte sei, dass hiernach das Reich der Demokratie und des Friedens käme […] Heute würde nicht Einer von ihnen wagen, solche Worte zu verkünden. Warum? Weil der Krieg uns in eine Epoche grosser Spannungen und grosser Kämpfe gebracht hat. Mit der Aussicht auf neue grosse Kriege. Zu dieser Stunde jagen mächtige Züge die Schienen der Weltherrschaft entlang. wir können unser Zeitalter nicht mit der Elle des 19. Jahrhunderts messen, das vornehmlich das Jahrhundert der Ausdehnung der Demokratie war. In dieser Hinsicht wird sich das 20. Jahrhundert vom 19. stärker unterscheiden, als die ganze moderne Weltgeschichte vom Mittelalter [Hervorhebung IKP] […] In Analogie zur Elektrotechnik kann die Demokratie definiert werden als ein System von ›Stromunterbrechern und Isolatoren‹ gegen allzu starke Ströme des nationalen und sozialen Kampfes. Es gibt keine Epoche der menschlichen Geschichte, die so durchtränkt ist mit Antagonismen wie die unsere […] Unter zu hoher Spannung der Gegensätze von Klassen und Nationen brennen die ›Sicherungen‹ durch: Die Demokratien verlöschen. Dies ist der ›Kurzschluss‹. Die Diktatur. Natürlich geben die schwächsten ›Widerstände‹ zuerst nach. Aber damit lässt die Kraft der internen und universellen Kämpfe nicht nach, im Gegenteil, sie wächst weiter. Gicht fängt bekanntlich am kleinen Finger oder an der grossen Zehe an. Aber einmal im Anzuge, geht sie direkt ans Herz.«
Sehr gut betrachtet und gesagt. Unsere Parteithese ist, dass die kommunistische Bewegung alle Folgerungen aus dieser Realität des 20. Jahrhunderts ziehen musste: Es hat keinen Sinn, die Bourgeoisie flehend darum zu bitten, doch diese schon immer gegen uns installierten, aber nunmehr für sie hinfällig gewordenen »Sicherungen« der Demokratie beizubehalten. Wir selbst müssen diese »Sicherungen« mit der Hochspannung der proletarischen Revolution in die Luft sprengen. Die Moskauer Zentrale der Kommunistischen Internationale, Trotzki inbegriffen, wusste nicht, alle Konsequenzen zu ziehen. Darin liegt einer der Gründe für den Zusammenbruch der Komintern. Derselbe Fehler, den die Kommunistische Internationale im Kampfe gegen Mussolini oder Hitler beging, wurde von Trotzki gegenüber Stalin wiederholt, und dies machte die trotzkistische IV. Internationale von vornherein zu einer totgeborenen Organisation.
Schauen wir uns jetzt die in einem engeren Sinne mit Russland zusammenhängenden Gründe an, aufgrund derer Trotzki 1929 die Wiederherstellung einer parlamentarischen Demokratie in der UdSSR für unmöglich hält:
»Wenn man Demokratie und Sowjets gegenüberstellt, so hat man ein bestimmtes parlamentarisches System im Auge und vergisst eine andere nebenbei wesentliche Seite der Frage, nämlich dass die Revolution vom Oktober 1917 sich als die grösste demokratische Revolution der menschlichen Geschichte erwiesen hat. Die Enteignung des Grundbesitzes, die völlige Unterdrückung der Klassenprivilegien, die Zerstörung der bürokratischen und militärischen Maschine des Zarismus, die Einführung der Gleichberechtigung der Nationen und ihres Selbstbestimmungsrechtes dies sind wesentliche demokratische Aufgaben, welche die Februarrevolution kaum berührt, die sie vielmehr fast vollständig der Oktoberrevolution hinterlassen hat. Nur die innere Unhaltbarkeit der liberal-sozialistischen Koalition ermöglichte die Sowjetdiktatur, die auf der Vereinigung von Arbeitern, Bauern und unterdrückten Nationen basierte. Dieselben Gründe, die unsere schwache und rückständige Demokratie von der Erfüllung ihrer historischen Aufgabe zurückhielten, werden sie auch jetzt daran hindern, sich an die Spitze des Landes zu stellen. Denn in der heutigen Zeit sind die Probleme und Schwierigkeiten grösser geworden, die Macht der Demokratie dagegen kleiner. Das Sowjetsystem ist keine blosse Regierungsform, man kann es nicht abstrakt der parlamentarischen Demokratie gegenüberstellen. […] Es handelt sich im Wesentlichen um die Frage des Eigentums, des Eigentums an Grund und Boden, Banken, Bergwerken, Fabriken und Eisenbahnen […] Man darf diese ›Kleinigkeiten‹ nicht übersehen, wenn man sich an Gemeinplätzen über die Demokratie berauscht. wie vor zehn Jahren, wird der Bauer auch Heute bis zum letzten Blutstropfen gegen die Rückkehr des Grossgrundbesitzers kämpfen […] Um die Wahrheit zu sagen, der Bauer würde schon eher die Rückkehr des Industriekapitalismus dulden. Das hat sehr einleuchtende Gründe: die Staatsindustrie war bislang nicht in der Lage, ihm Industrieerzeugnisse zu so vorteilhaften Bedingungen zu liefern, wie es die Kaufleute früher vermochten […] Aber der Bauer erinnert sich, dass der Gutsbesitzer und der Kapitalist die siamesischen Zwillinge des alten Regimes waren […] Der Bauer weiss, dass der Kapitalist nicht allein zurückkehren wird, sondern in Gesellschaft des Grossgrundbesitzers. Deshalb will er weder den Einen noch den Anderen: und dies ist die mächtigste, wenn auch eine negative stärke des Sowjetregimes. Wir müssen die Dinge beim richtigen Namen nennen. Es handelt sich nicht um Einführung einer in der Luft hängenden Demokratie, sondern um die Rückkehr Russlands zum Kapitalismus [Hervorhebung IKP]. Aber wie würde die zweite Ausgabe des russischen Kapitalismus aussehen? Während dieser letzten fünfzehn Jahre hat sich das Gesicht der Welt gründlich verändert. Die Mächtigen sind noch mächtiger geworden und die Schwachen unvergleichlich schwächer. Der Kampf um die Weltherrschaft hat gigantische Ausmasse angenommen. Dieser Kampf hat sich auf dem Rücken der schwachen und rückständigen Nationen abgespielt. Ein kapitalistisches Russland könnte im Weltsystem nicht einmal die drittklassige Stellung einnehmen, für die das zaristische Russland durch den Verlauf des letzten Krieges prädestiniert war. Ein neuer russischer Kapitalismus wäre jetzt ein Kleinkapitalismus, halb kolonisiert und ohne jede Zukunft. Dieses Russland würde heute eine Stellung einnehmen, die ungefähr zwischen dem agrarischen Russland und dem heutigen Indien läge. Das Sowjetsystem aber, das eine nationalisierte Industrie und das Monopol des Aussenhandels hat, ist trotz aller Widersprüche und Schwierigkeiten ein System zum Schutze der Unabhängigkeit der Kultur und der Wirtschaft des Landes. Dies haben auch die vielen Demokraten begriffen, die auf die Seite der Sowjetregierung gezogen wurden, nicht durch die sozialistische Idee, sondern durch einen Patriotismus, der die elementaren Lehren der Geschichte in sich aufgenommen hat […] Eine handvoll impotenter Doktrinäre hätte gern eine Demokratie ohne Kapitalismus eingeführt. Aber die ernsten sozialen Mächte, die dem Sowjetismus feindlich sind, wollen Kapitalismus ohne Demokratie« [Hervorhebung IKP]
Die marxistischen Ausführungen Trotzkis stehen hundert Meilen über den formellen und abstrakten Erwägungen seiner sozialdemokratischen Gegner von 1929, aber auch (was uns hier ja wichtiger ist) über denjenigen seiner »Schüler« unserer Tage, die nie etwas anderes getan haben, als die formellen und abstrakten Erwägungen des Trotzki von 1936 ins Absurde zu führen.
Der Kampf, sagt Trotzki sehr richtig, ist ein sozialer Kampf. Vom Ergebnis dieses sozialen Kampfes hängt es ab, welche politische Form den Sieg davon tragen wird. Die parlamentarische Demokratie ging unter den Schlägen der demokratischen Revolution selbst zugrunde. Ihre Anhänger jene Leute, die »politisch« räsonieren, ohne auf den sozialen Hintergrund zu schauen können nicht verstehen, dass die Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie darauf hinauslaufen würde, die Errungenschaften der demokratischen Revolution zu liquidieren. »Die ernsten sozialen Mächte« (d. h. die von der Oktoberrevolution enteigneten Klassen) möchten diese Errungenschaften zweifellos rückgängig machen, die alte Ordnung wiedereinführen. Doch war es geschichtlich ausgeschlossen, dass sie dieses Ziel durch demokratische Mittel erreichen könnten. Noch 1929 würde sich die russische Bauernschaft ohne einen zweiten Bürgerkrieg nicht von ihrem Land enteignen lassen. Und wo sollten diese »ernsten sozialen Kräfte« die Macht finden, um fast der Gesamtheit der russischen Bevölkerung den Kampf anzusagen? Trotzki sagt es hier nicht, er weiss es aber, und es ist übrigens offensichtlich: in den Armeen der imperialistischen Mächte, in ihrer erneuten und diesmal siegreichen Intervention gegen Russland. So hatte auch die europäische Koalition gegen das Napoleonische Frankreich interveniert, und nur durch ihren Sieg über das ganze französische Volk konnten die Bourbonen wieder an die Macht gelangen. Aber im Falle Russlands würde dann keineswegs das erträumte nationale Parlament der »impotenten Doktrinäre« die neue politische Form darstellen; es würde im Gegenteil, wie wir es heute nennen, eine Marionettenregierung entstehen, wie jene, die die USA in ihrem asiatischen und südamerikanischen Machtbereich unterhalten.
1929 sind es noch dieselben Gründe, die Trotzki gegen die Sozialdemokraten aufführt, die ihn ebenfalls daran hindern, seinen Kampf gegen Stalin unter die Fahne der sowjetischen Demokratie zu stellen. Trotzki weiss nur allzu gut, dass nicht nur die Vertreter des Sozialismus wie er selbst auf dem Boden der Sowjetordnung stehen, sondern auch diejenigen Kräfte, die, ohne im geringsten sozialistisch zu sein, ganz einfach nicht wollen, dass Russland in einen Zustand halbkolonialer Abhängigkeit gegenüber dem westlichen Kapitalismus versetzt wird, Kräfte, die aus diesem Grunde eben auch keine Restauration wollen. Wer sind diese Kräfte? Alle nicht-proletarischen Schichten, alle Feinde des revolutionären Internationalismus, die, ausserhalb wie innerhalb der Partei, getrieben »durch einen Patriotismus, der die elementaren Lehren der Geschichte in sich aufgenommen hat«, die stalinistische Orientierung befürworten. Es handelt sich um jenen »Ustrjalowismus«[124], den Lenin als erster aufgezeigt hat. In den weitblickendesten Kreisen der Emigration entstanden, war er und darauf weist Trotzki ständig hin unter dem Banner des »Sozialismus in einem Land« in die herrschende Partei eingedrungen. Und was die sowjetische Demokratie angeht, auch sie eine »Sicherung«, ein »Isolator«, den die Bolschewiki vorgesehen hatten, damit die Revolution nicht in einem sterilen Kampf zwischen sozialistischem Proletariat und kleinbürgerlicher Bauernschaft zugrunde ginge, so weiss Trotzki sehr gut, dass die Hochspannung des Bürgerkrieges sie in die Luft sprengte und die politische Form der reinen proletarischen Diktatur, des Kriegskommunismus mit Zwangsablieferungen und »autoritäre« Eingliederung der revolutionären Bauern in die Rote Armee aufzwang; er weiss sehr gut, dass selbst die Einführung der NEP nur durch diese eiserne Diktatur möglich war. Der Verfechter der bolschewistischen Diktatur des Proletariats, der Autor des zitierten Passus aus »Terrorismus und Kommunismus« musste erst noch durch lange Jahre der Dekadenz hindurchgehen, um überhaupt auf den Gedanken zu kommen, sich gegen die stalinsche Partei auf jene Demokratie zu berufen!
Der lange Kampf Trotzkis als Oppositionsführer lässt sich in der Tat in drei Phasen aufteilen. Die erste wird durch seine Schrift von 1923 »Der Neue Kurs« sehr gut charakterisiert. Trotzki greift die Politik des Zentralkomitees und die Abweichungen im innerparteilichen Leben energisch an. Er warnt die Partei vor der Gefahr einer Entartung der proletarischen Diktatur infolge der internationalen wie inneren politischen Konstellation und der zuletzt verfolgten Politik. Er zeigt, dass die Partei der einzige Garant der Diktatur des Proletariats ist. Doch stellt er sich keineswegs als Kandidat für die Parteiführung auf, sondern hält sich etwas abseits und beschränkt sich darauf, die gegen ihn gerichteten Erfindungen zu widerlegen. Auf diesen Erfindungen beruht die ab 1924 vom Zentralkomitee gegen ihn organisierte Kampagne, doch steht Trotzki immerhin so weit abseits, dass er zum Zeitpunkt der Niederschrift des »Neuen Kurs« die wirkliche Situation noch nicht kennt; diese wird er erst 1925 durch die Enthüllungen von Kamenew und Sinowjew nach deren Bruch mit Stalin in Erfahrung bringen[125].
Mit anderen Worten, in der ersten Phase antwortet Trotzki als Militanter auf die gegen ihn entfesselte parlamentarische Kampagne, die dasselbe Ziel wie alle derartigen Kampagnen verfolgte: ihm den Weg zur Macht zu versperren. In diesem Zusammenhang müssen wir darauf hinweisen, dass dort, wo bürgerlicher Schwachsinn den Beweis für die Freveltaten des »kommunistischen Totalitarismus« erblickte, eigentlich nur die Begleiterscheinungen des Wahlprinzips und der Demokratie, auf die Partei angewandt, zum Vorschein traten, wie es unsere Strömung erkannte. Die Tatsache, dass die Kampagne in der Partei ausbrach, die sich »kommunistisch« nannte, erklärt sich sehr einfach damit, dass es in der UdSSR kein Parlament gab. Doch was ist ein Kampf um die Macht, der auf der Grundlage der Gegenüberstellung von Personen und der Verachtung aller Prinzipien geführt wird, wenn nicht gerade ein Kampf parlamentarischer Observanz?
In der zweiten Phase, die mit der politischen Niederlage anfängt, beschränkt sich Trotzki nicht mehr auf die Verteidigung der Positionen des Marxismus gegen den regierenden Revisionismus. Er betritt den Weg der »Reform des Sowjetregimes«, wie er es offen zugibt und mit welcher Bezeichnung er in der »Verratenen Revolution« die Phase vor 1936 charakterisieren wird. Aufgrund der Abwesenheit eines Parlaments kann dieser reformistische Kampf der Form nach nicht ablaufen wie ein Kampf für die legale Ablösung einer Regierung, die als unfähig angesehen wird, die UdSSR auf dem Weg des Sozialismus zu behalten, durch die bessere Regierung der Opposition. Doch seinem Wesen nach ist dieser Kampf gerade das. Worin besteht für den reformistischen Sozialisten das »Hindernis« auf dem Weg der sozialistischen Umgestaltung? In den parlamentarischen Mehrheiten der bürgerlichen Regierungen. Der damaligen trotzkistischen Opposition schien dieses Hindernis in der Mehrheit zu bestehen, die das stalinistische Zentralkomitee unterstützte, oder, genauer gesagt, im innerparteilichen Regime, das die Opposition ihrer Meinung nach daran hinderte, dem Stalinismus diese Mehrheit zu entreissen. In Wirklichkeit besteht das Hindernis im ersten Fall nicht in dieser oder jener Regierung, sondern im bürgerlichen Staat überhaupt, der zu zerstören und nicht zu »reformieren« ist; im zweiten Fall besteht das Hindernis ebenso im Staat, in der Macht einer Partei, deren Degenerierung unumkehrbar war, wobei diese Degenerierung keineswegs die Folge, sondern vielmehr die Ursache selbst der gegebenen innerparteilichen Zustände war. Der Vulgärsozialist kann das wahre Hindernis aus dem einfachen Grunde nicht erkennen, dass er kein Revolutionär ist. Was den Revolutionär Trotzki dazu verleitete, angesichts des Sowjetstaates einem reformistischen Irrtum zu verfallen, war sein Unvermögen, sich von der Partei des »Sozialismus in einem Land« vollständig abzugrenzen. Doch behalten seine Positionen im Laufe dieser Phase eine letzte Bindung zur marxistischen Tradition: Von der Partei, lediglich von der Partei hängt das Schicksal der proletarischen Diktatur ab. In der dritten Phase wird diese letzte Bindung abreissen. Vom innerparteilichen revolutionären Parlamentarismus der vorhergehenden Phase wird Trotzki zum reinen Parlamentarismus in der Gesellschaft übergehen, d. h. zur Forderung nach Wiedereinführung der Wahlfreiheit in der UdSSR.
Um die erste Phase zu illustrieren, werden wir auf den erwähnten Text von 1923 »Der Neue Kurs« zurückgreifen. Wenn die Ausdrucksweise manchmal missverständlich sein könnte, wie übrigens, worauf wir bereits hingewiesen haben[126], auch die ganze Terminologie der Bolschewiki selbst im Laufe der guten Epoche, so hat die Methode nichts formelles an sich: Trotzki untersucht den Determinismus, der unter den gegebenen Bedingungen der Machtausübung die Partei in die Gefahr bringt, ihre Natur als revolutionäre Avantgarde des Proletariats und damit ihre Funktion als Klassenpartei zu verlieren: An erster Stelle stehen hier die staatlichen und administrativen Aufgaben, dann die Frage der Generationen in der Partei und diejenige ihrer sozialen Zusammensetzung. Im Gegensatz zur vulgären und sozialdemokratischen Kritik bezieht sich Trotzkis Warnung nicht auf den Mangel an Freiheit für die Parteimitglieder, sondern auf die Veränderung in den organischen Verhältnissen von Zentrum und Peripherie, Spitze und Basis innerhalb der Partei, auf die Veränderung in den Beziehungen von Partei und Staat und als Krönung des Ganzen, auf das Abweichen von der wirklichen Parteitradition bei gleichzeitiger rein formeller Berufung auf dieselbe.
»Über eins muss man sich von Anfang an klar sein: Das Wesen der augenblicklichen Meinungsverschiedenheiten und Schwierigkeiten besteht nicht darin, dass die Sekretäre gelegentlich übers Ziel hinausgingen und dass man sie etwas zügeln muss, sondern darin, dass die gesamte Partei im Begriff ist, in eine höhere historische Etappe einzutreten.[…] Es handelt sich natürlich nicht darum, die organisatorischen Prinzipien des Bolschewismus zu zerbrechen, wie einige es darzustellen versuchen, sondern es geht darum, sie an die Bedingungen der neuen Entwicklungsstufe der Partei anzupassen[127]. Es handelt sich vor allem darum, ein besseres gegenseitiges Verhältnis zwischen den alten Parteikadern und der Menge der Parteimitglieder herzustellen, die nach der Oktoberrevolution eingetreten sind.
Theoretische Vorbereitung, revolutionäre Verlässlichkeit, und politische Erfahrung sind das Stammkapital der Partei, und dies Kapital wird hauptsächlich von den alten Parteikadern gestellt. Andererseits ist die Partei ihrem Wesen nach eine demokratische Organisation, d. h. ein Kollektiv, das durch die Gedanken und den Willen aller seiner Mitglieder seinen Weg bestimmt. Es ist klar, dass die Partei in der schwierigen Lage direkt nach der Oktoberrevolution sich ihren Weg um so sicherer und richtiger bahnen konnte, je gründlicher sie die von der alten Generation gesammelte Erfahrung ausnützen konnte, indem sie deren Vertreter auf die verantwortlichsten Posten der Parteiorganisation stellte. Andererseits führte und führt das auch heute noch fast immer dazu, dass die alte Generation, die die Kader der Partei bildete und stark von Verwaltungsfragen beansprucht wurde, sich daran gewöhnt hat, für die Partei zu denken und zu entscheiden, und daher lässt sie die Parteimassen vor allem auf rein schulmässige, pädagogische Weise am politischen Leben teilnehmen: Kurse in politischer Bildung, Überprüfung des Parteiunterrichts, Parteischulen usw. Daher stammt der Bürokratismus des Parteiapparats, seine Engstirnigkeit, sein von aussen abgeschlossenes Eigenleben […] Wenn die Partei weiterhin in zwei scharf voneinander getrennten Etagen lebt, [so] bringt dies [verschiedene] Gefahren mit sich.«
»Die Hauptgefahr des alten Kurses, wie er sich infolge der grossen historischen Ereignisse wie auch infolge unserer Fehler herausgebildet hat, besteht darin, dass er eine immer stärker werdende Tendenz aufweist, einige Tausend Genossen, die die Führungskader bilden, der gesamten übrigen Masse der Partei gegenüberzustellen, die für sie nur ein Objekt ist, das man beeinflussen kann. Wenn dieses Regime auch weiterhin hartnäckig beibehalten würde, so würde es zweifellos drohen, schliesslich eine Degeneration der Partei hervorzurufen, und zwar gleichzeitig an beiden Polen, d. h. bei der Parteijugend und bei den Führungskadern. […] Eine lang anhaltende Bürokratisierung birgt die Gefahr, dass die alte Generation oder zumindest ein grosser Teil von ihr sich von den Massen entfremdet, ihre Aufmerksamkeit ausschliesslich Verwaltungs-, Ernennungs- und Umbesetzungsfragen widmet, ihr Blickfeld verengt, ihre revolutionären Fähigkeiten schwächt, d. h. dass sie mehr oder weniger eine opportunistische Degeneration durchmacht. Derartige Prozesse entwickeln sich allmählich und fast unmerklich, kommen dann aber ganz plötzlich zu Vorschein.«
Trotzki befasst sich im Folgenden mit der Frage der sozialen Zusammensetzung der Partei und bemerkt:
»Das Proletariat verwirklicht seine Diktatur durch den Sowjetstaat. Die kommunistische Partei ist die führende Partei des Proletariats und folglich auch seines Staates. Und nun erhebt sich die Frage, wie man diese Führung verwirklichen kann, ohne zu eng mit dem bürokratischen Staatsapparat zu verschmelzen und ohne durch diese Verschmelzung zu degenerieren.«
»Die Kommunisten sind innerhalb der Partei und innerhalb des Staatsapparates verschieden gruppiert. Im Staatsapparat befinden sie sich in hierarchischer Abhängigkeit voneinander und gegenüber Parteilosen. Innerhalb der Partei sind sie alle gleichberechtigt, soweit es sich um die Festsetzung der grundlegenden Aufgaben und Methoden der Parteiarbeit handelt […] Was die Führung der Wirtschaft durch die Partei betrifft, so berücksichtigt sie und das muss sie auch tun die Erfahrung, die Beobachtungen und Ansichten aller ihrer Mitglieder, die sich auf den verschiedenen Stufen der wirtschaftlichen Verwaltung befinden. Und darin besteht der grundsätzliche und unvergleichliche Vorzug unserer Partei, dass sie in jedem beliebigen Augenblick die Industrie mit den Augen eines kommunistischen Drehers, eines kommunistischen Spezialisten, eines kommunistischen Direktors und eines kommunistischen Kaufmanns betrachten kann, und, indem sie die sich gegenseitig ergänzenden Erfahrungen all dieser Arbeiter zusammenfasst, die Linie ihrer Wirtschaftsführung im allgemeinen wie auch für jeden einzelnen Wirtschaftszweig festsetzen kann.«
»Es ist vollkommen klar, dass eine derartige wirkliche Parteiführung nur auf der Grundlage einer lebendigen und aktiven Parteidemokratie[128] durchführbar ist. Und umgekehrt, je grösser das Übergewicht ist, das die bürokratischen Methoden erhalten, desto mehr wird die Führung der Partei zu einer Verwaltung durch ihre Exekutivorgane (Komitees, Büros, Sekretäre usw.) […] Bei einer derartigen Degeneration der Führung tritt der grundlegende und unschätzbare Vorteil der Partei – ihre vielfältige und kollektive Erfahrung – in den Hintergrund. Die Führung bekommt einen rein organisatorischen Charakter und entartet häufig in einfache Kommandiererei und Belästigung. Der Parteiapparat beschäftigt sich immer mehr mit den Einzelaufgaben und -fragen des Sowjetapparates, lebt mit dessen alltäglichen Sorgen, erliegt seinem Einfluss und sieht vor Bäumen den Wald nicht. […] Das ganze Geflecht des bürokratischen Alltags des Sowjetapparates fliesst in den Parteiapparat und bewirkt eine bürokratische Veränderung in ihm. Die Partei als Kollektiv bemerkt nicht, dass sie führt, eben weil sie nicht führt. Daher stammen die Unzufriedenheit und die Missverständnisse auch in den Fällen, in denen die Führung tatsächlich recht hat. Aber sie kann sich nicht auf der richtigen Linie halten, wenn sie sich in Bagatellen verausgabt und keinen systematischen, geplanten und kollektiven Charakter annimmt. Auf diese Weise zerstört der Bürokratismus nicht nur den inneren Zusammenhalt der Partei, sondern schwächt auch ihren richtigen Einfluss auf den Staatsapparat. Gerade diejenigen, die am lautesten nach der Führungsrolle der Partei im sowjetischen Staat schreien, bemerken und verstehen das fast nie.« [Hervorhebungen IKP].
Im nächsten Kapitel seiner Schrift untersucht Trotzki die Frage der Gruppierungen und Fraktionsbildungen. Er fordert keineswegs das lächerliche »demokratische Recht«, solche zu bilden. Als Marxist betrachtet er die Entstehung von Fraktionen als ein »gefährliches Übel« und bestreitet andererseits, dass es möglich sei, durch rein formale Methoden ihre Entstehung zu verhindern oder ihre Wiederauflösung in die Partei zu begünstigen. Er wiederholt, dass der Bürokratismus eine der Hauptquellen des Fraktionsgeistes darstellt und wirft den Verfechtern einer rein formalen Parteieinheit vor, sie selber bildeten die gefährlichste Fraktion, »die konservativ-burokratische Fraktion«. Wie er sehr richtig folgert, kann man der Fraktionsbildung nur durch eine richtige, der jeweiligen konkreten Situation angepasste Politik vorbeugen[129].
Darin gibt es kein Quäntchen demokratischer Illusion. Alle Anomalien des Parteilebens werden präzis gekennzeichnet, nicht zuletzt die Fetischisierung Lenins und des Leninismus, die als Rückendeckung für die schlimmsten Erscheinungen von Opportunismus dienten; diese Anomalien werden immer auf ihre geschichtlichen Ursachen zurückgeführt: Letztere lagen nicht in der Machtausübung an sich, wie die Anarchisten glauben, sondern in der Machtausübung in einer infolge der kapitalistischen Verschwörung von der übrigen Welt isolierten, kulturell äusserst rückständigen und zutiefst heterogenen Gesellschaft, in einer Gesellschaft, wo zwischen dem Proletariat (im übrigen einem sehr schwachen und infolge des Aderlasses im Bürgerkrieg noch zusätzlich geschwächten Proletariat) und der riesigen Bauernschaft mitnichten jene Gemeinsamkeit der täglichen oder geschichtlichen Interessen bestand, an die die Parteiführung anscheinend glaubte[130]. Leider wird Trotzki in seiner Kritik nie wieder eine solche Höhe erklimmen. Doch bis zur tödlichen Entgleisung des Jahres 1936 wird er trotz all seiner Fehler der hervorragenden Schlussfolgerung des IV. Kapitels vom »Neuen Kurs« treu bleiben:
»Das wichtigste historische Werkzeug zur Lösung all unserer Aufgaben ist die Partei. Selbstverständlich kann sich auch die Partei nicht künstlich von den sozialen und kulturellen Bedingungen des Landes losmachen. Da die Partei aber eine freiwillige Organisation der Avantgarde, der besten, aktivsten und bewusstesten Elemente der Arbeiterklasse ist, kann sie sich unvergleichlich besser vor den Tendenzen des Bürokratismus schützen, als der Staatsapparat. Aus diesem Grund muss sie die Gefahr klar erkennen und unverzüglich bekämpfen.«
Als Trotzki in der zweiten Phase den Kampf um die »Demokratisierung der Partei« aufnahm, erblickte die Sozialdemokratie nicht völlig unbegründet darin einen Annäherungsschritt ihres grossen Gegners. Trotzki erwiderte empört:
»Das ist ein grosses Missverständnis, das man leicht aufdecken kann. Die Sozialdemokratie ist für die Restauration des Kapitalismus in Russland. Man kann sich diesen Weg jedoch nur freimachen, wenn man die proletarische Avantgarde verdrängt. Wer, wie die Sozialdemokratie, Stalins Wirtschaftspolitik befürwortet, muss sich auch mit seinen politischen Methoden aussöhnen. Ein wahrhaftiger Übergang zum Kapitalismus könnte nur durch eine Diktatur gesichert werden. Es ist lächerlich, die Restauration des Kapitalismus in Russland zu fordern und zugleich nach Demokratie zu schmachten.«
Den Schlag hatte die Sozialdemokratie verdient. Doch aus der Tatsache, dass es lächerlich ist, nach Demokratie zu schmachten, wenn man die Restauration des Kapitalismus vertritt, ergibt sich keineswegs, dass es nicht lächerlich ist, wenn man für den Sozialismus kämpft! Aber warum wurde ein Marxist des Ranges von Trotzki dieses Widerspruches nicht gewahr? Trotzki ging von der unanfechtbaren Erkenntnis aus, dass der Weg zum Kapitalismus die Vernichtung der proletarischen Avantgarde innerhalb der Partei selbst zur Voraussetzung hatte. Daraus folgerte er, dass der Widerstand gegenüber dem kapitalistischen Kurs einen einzigen politischen Ausdruck annehmen konnte: den Widerstand dieser Avantgarde (ebenfalls innerhalb der Partei) gegen ihre Vernichtung. Diese Überlegung bedurfte allerdings einer kleinen »Bedingung«, um richtig zu sein, nämlich die, dass der Kurs zum Kapitalismus bloss eine mehr oder weniger entfernte Gefahr wäre, bzw. dass der Gegner innerhalb der Partei nicht gerade die politische Verkörperung des Klassenfeindes darstellte. Man kann ja den Klassenfeind auf keinen Fall friedlich schlagen, indem man ihn anfleht, die »Legalität« zu respektieren, was immer diese »Legalität« auch sei[131]. Im Gegensatz zu seinen schwachsinnigen »Schülern« fühlte Trotzki dies sehr genau, denn er schrieb 1929 in seiner »Verteidigung der UdSSR« ausdrücklich:
»Es wäre reine Donquichotterie um nicht zu sagen Schwachsinn für die Demokratisierung einer Partei zu kämpfen, wenn diese Partei die Macht des Klassenfeindes verwirklicht […] In ihrem Kampf um Demokratie in der Partei geht die Opposition von der Anerkennung der Diktatur des Proletariats aus; sonst hätte dieser Kampf keinen Sinn«[132].
Was kennzeichnet im Endeffekt den Trotzkismus der zweiten Phase? Die leidenschaftliche Weigerung, einzusehen, dass das Proletariat geschlagen wurde, dass die Partei nie wieder revolutionär werden wird. Die nachstehenden Zitate werden zeigen, mit welchem gefährlich verführerischen Gesicht der entstehende trotzkistische Opportunismus ans Tageslicht trat. Doch wird er dieses Gesicht nicht lange behalten und später nie wieder finden. Siehe zum Beispiel einen Auszug aus Trotzkis Rede vor der zentralen Kontrollkommission der Partei (Juni 1927). Anlass der Vorladung war der gegen ihn gerichtete Vorwurf, durch »fraktionistische Reden« auf einer kürzlichen Sitzung des Exekutivkomitees der Internationale die Parteidisziplin verletzt zu haben, sowie seine Beteiligung an Kundgebungen zugunsten Smilgas, eines nach Sibirien verbannten Militanten der Opposition.
»Was habt ihr aus dem Bolschewismus gemacht? Aus seiner Autorität, aus der Erfahrung von Marx und Lenin? Was habt ihr im Laufe weniger Jahre aus alledem gemacht? […] Auf Versammlungen, namentlich in den Arbeiter- und Bauernzellen, erzählt man der Teufel weiss was über die Opposition; man fragt, aus welchen ›Mitteln‹ die Opposition ihren ›Bedarf‹ deckt. Arbeiter, vielleicht weil sie unwissend sind, vielleicht ohne Hintergedanken, vielleicht aber auch weil sie von euch geschickt werden[133], stellen solche erzreaktionären Fragen. Und es gibt Redner, die so gemein sind, dass sie darauf ausweichende Antworten geben. Das ist eine schmutzige, elende, schändliche, um Alles zu sagen stalinistische Kampagne. Würdet ihr tatsächlich eine zentrale Kontrollkommission darstellen, dann wäre es eure Pflicht, dieser Kampagne ein Ende zu bereiten!«
Der Stalinist Solz warf Trotzki die Oppositionserklärung der 83 vor und sagte dabei: »Wo führt sie [die Erklärung der 83] hin? Sie kennen die Geschichte der französischen Revolution. Wo hat dies hingeführt? Zu den Verhaftungen und der Guillotine«. Dem entgegnete Trotzki in seiner Rede:
»Wir müssen unsere Kenntnisse über die französische Revolution unbedingt auffrischen. Im Laufe der französischen Revolution wurden viele Leute durch die Guillotine hingerichtet. Auch wir haben viele durch Erschiessung hingerichtet. Allerdings zerfiel die französische Revolution in zwei Kapitel: das eine verlief so (aufsteigende Kurve), das andere so (abfallende Kurve) […] Solange sich das Kapitel der aufsteigenden Kurve abspielte, haben die Jakobiner die Bolschewiki jener Zeit die Monarchisten und Girondisten unter die Guillotine gebracht. Dann eröffnete sich in Frankreich ein neues Kapitel […], und die Thermidorianer und Bonapartisten die rechten Jakobiner fingen damit an, die linken Jakobiner die Bolschewiki jener Zeit zu verbannen und hinzurichten […] Unter uns gibt es keinen Einzigen, der sich vor Hinrichtungen fürchtet. Wir sind Alle alte Revolutionäre. Man muss jedoch wissen, wen man hinrichtet und in welchem Kapitel. Als wir hingerichtet haben, wussten wir ganz genau, in welchem Kapitel wir uns befanden. Aber heute, könnt ihr denn heute klar begreifen, im Laufe welchen Kapitels ihr bereit seid, uns hinzurichten? Ich nehme an, ihr wollt uns doch nicht […] im Kapitel des Thermidors hinrichten […] Sicherlich muss man aus den Lehren der französischen Revolution lernen. Ist es aber notwendig, es der französischen Revolution gleichzutun?«
In diesen Stellen spiegelt sich klar wie der hellichte Tag wider, dass in Russland eine »ustrjalowistische« Konterrevolution in Gang war. Doch trotz der Heftigkeit seines Kampfes redet Trotzki die stalinistischen Träger dieser Konterrevolution weiterhin in der Sprache eines Parteigenossen an. Selbst die Heftigkeit kann deshalb nicht verschleiern, dass die Forderung nach »Demokratisierung der Partei« nichts anderes darstellt als eine besondere Anwendung der Taktik der politischen Einheitsfront, welche den Bolschewiki (Trotzki inbegriffen) seit Jahren so teuer war. Ohne politische Einheitsfront mit dem Ustrjalow-Flügel der Partei wäre der organisatorische Bruch unumgänglich gewesen. Trotzki hielt jedoch die Einheitsfront nicht nur für möglich, sondern für notwendig[134], und dies musste auf organisatorischer Ebene zwangsläufig in der Ablehnung eines Bruchs zum Ausdruck kommen, weil beide Strömungen formal derselben Partei angehörten.
Diese Einheitsfrontpolitik wurde bei Trotzki im übrigen von einer fatalen Verkennung der Klassengrenze begleitet, die seit 1927 zwischen seiner Strömung und derjenigen des Nationalkommunismus verlief. Aber vielleicht hat sich der Leser noch nicht von der Existenz dieser Einheitsfrontpolitik überzeugt. Es dürfte dann genügen, folgenden Passus aus derselben Rede vom Juni 1927 zu lesen, eine jener Stellen, auf die der revolutionäre Marxist vierzig Jahre später nur mit Zorn und Verzweiflung zurückblicken kann, während der zeitgenössische Trotzkismus in seiner unermesslichen Unbewusstheit davor in Ekstase gerät:
»Würden wir unter den Bedingungen der Periode vor dem imperialistischen Krieg, der vorrevolutionären Zeit, leben, unter den Bedingungen einer relativ langsamen Zusammenballung der Gegensätze, dann würde die Wahrscheinlichkeit einer Spaltung meines Erachtens unvergleichlich viel höher sein als die einer Wahrung der Einheit. Die Lage ist heute jedoch anders. Unsere Meinungsverschiedenheiten haben sich beträchtlich zugespitzt, die Gegensätze nahmen enorm zu […] Doch verfügen wir andererseits erstmals über eine riesige revolutionäre Kraft, die sich in der Partei konzentriert, über einen Riesenreichtum an Erfahrung, die sich in den Werken Lenins, im Parteiprogramm und in der Tradition der Partei konzentriert. Wir haben einen guten Teil dieses Kapitels vergeudet […], doch ist noch viel reines Gold zurückgeblieben. Zweitens kennzeichnet sich die heutige geschichtliche Periode durch plötzliche Wenden, gigantische Ereignisse und kolossale Lehren, und man kann und muss daran lernen. Grossartige Ereignisse haben sich abgespielt; an ihnen kann man sehr gut beide gegenüberstehenden politischen Linien prüfen. Die Partei kann die Erfahrung und Aneignung dieser Lehren erleichtern oder behindern. Ihr behindert sie.«
(Wir heben diesen tragischen Euphemismus hervor, mit welchem Trotzki die laufende Vernichtung der Klassenpartei durch den Nationalkommunismus zu kennzeichnen versucht).
»Wir aber, wir kämpfen für die politische Linie der Oktoberrevolution und werden weiterhin für sie kämpfen. Wir sind von der Richtigkeit unserer Linie so tief überzeugt, dass wir nicht daran zweifeln, dass sie schliesslich im Bewusstsein der proletarischen Mehrheit unserer Partei Wurzeln fassen wird. Worin liegt unter diesen Bedingungen die Pflicht der zentralen Kontrollkommission? Ich denke, diese Pflicht muss in dieser Periode plötzlicher Wenden darin bestehen, innerhalb der Partei ein flexibleres und gesunderes Regime zu schaffen. So könnten sich die entgegengesetzten politischen Linien der Prüfung durch die gigantischen Ereignisse unterziehen, ohne zu einem Zusammenstoss zu kommen. Man muss der Partei die Möglichkeit geben, […] anhand dieser Ereignisse […] eine Selbstkritik durchzuführen. Wenn man sich dazu entschliesst, dann antworte ich, dass der Kurs der Partei berichtigt sein wird, noch bevor ein oder zwei Jahre vergangen sind. Man darf nicht zu schnell gehen; man darf keine Entscheidungen treffen, die man später nur schwer wieder gutmachen könnte. Seid vorsichtig, sonst werdet ihr sagen müssen: ›Wir haben uns von denjenigen getrennt, die wir hätten behalten müssen, und wir haben diejenigen behalten, von denen wir uns hätten trennen müssen‹.«
Diese merkwürdige Schlussfolgerung hat mindestens das Verdienst, uns das Geheimnis von Trotzkis Einheitsfrontpolitik gegenüber dem Stalinismus zu liefern: die Gefahr einer Restauration des vor der Oktoberrevolution bestehenden Regimes infolge einer Intervention des ausländischen Imperialismus (wie wir oben gesehen haben, lag darin der einzig mögliche historische Weg einer solchen Restauration). Diese Drohung plagt sowohl Nationalkommunisten als auch proletarische Internationalisten, ja sie wird sie bis zum Ende heimsuchen[135]. Ihr gegenüber können nach Trotzkis Meinung die »Ustrjalowisten« der Partei (d. h. die stalinistischen Nationalkommunisten) die proletarischen Internationalisten ebensowenig entbehren, wie diese die »Ustrjalowisten«! Auf dieser wahnsinnigen Illusion beruht die Politik der »Demokratisierung der Partei«. Hier sieht man, dass die Einheitsfrontpolitik eine Form jener »union sacrée« zur Vaterlandsverteidigung bedeutete, die Trotzki unter ganz anderen Bedingungen mit der ganzen revolutionären Energie, die er hatte, unerbittlich bekämpft hätte. Und nur deshalb, weil er mit der Oktoberrevolution nicht nur als sozialistischer, sondern auch als demokratischer Revolution zusammengewachsen war, nur kraft dieser organischen Bindung, konnte er auf einen solchen Boden hinabgezogen werden: der »Burgfrieden« vor der tatsächlichen oder angenommenen Gefahr einer bürgerlich-demokratischen Konterrevolution! Wie anders liessen sich die verzweifelten Bemühungen erklären, die Trotzki unternahm, um die notwendige Antwort auf den Krieg, den die »ustrjalowistische« Fraktion gegen die proletarische Strömung entfesselt hatte, in den Grenzen der demokratischen Legalität einer einzigen Partei zu halten? Diese verzweifelten Versuche gehen mit schmerzlicher Beredsamkeit aus folgendem Passus hervor:
»Das Regime der Unterdrückung in der Partei entspringt unvermeidlich der ganzen Politik der Führung. Hinter dem Rücken der Extremisten des Apparats steht die erwachende innere Bourgeoisie, hinter deren Rücken die Weltbourgeoisie. Alle diese Kräfte lasten auf der proletarischen Avantgarde und hindern sie, ihren Kopf zu erhöhen oder ihren Mund zu öffnen. Je mehr die Politik des Zentralkomitees von dem Wege der proletarischen Klasse abweicht, desto mehr muss man von oben Zwangsmassnahmen anwenden, um der proletarischen Avantgarde diese Politik aufzuzwingen. Darin liegt die Grundursache für die unerträglichen Zustände, die innerhalb der Partei herrschen. […] Die unmittelbare Aufgabe, die sich Stalin gestellt hat, ist die Spaltung der Partei, die Beseitigung der Opposition, die Gewöhnung der Partei an die Methode der physischen Vernichtung. Faschistische Banden von Auspfeifern, Fausthiebe, Werfen mit Büchern und Steinen, Gefängnisgitter hier hat das Stalin-Regime einen Augenblick haltgemacht auf seinem Wege, aber die Richtung ist vorgezeichnet. Warum sollten […] [die Stalinisten] sich mit der Opposition in ehrlichen Auseinandersetzungen über Regierungsstatistiken einlassen, wenn sie einfach einen schweren Band dieser Statistiken einem Oppositionsmann an den Kopf werfen können? Der Stalinismus findet in einem solchen Akt seinen rückhaltlosesten Ausdruck und scheut sich vor keiner Pöbelei. Und wir wiederholen: Diese faschistischen Methoden sind nur eine blinde und unbewusste Erfüllung von Befehlen anderer Klassen [d. h. der Klassenfeinde des Proletariats, IKP]. Das Ziel ist, die Oppositionsmitglieder auszuschliessen und sie womöglich durch Hinrichtung zu beseitigen. Schon kann man Stimmen hören: ›Wir werden tausend ausschliessen und hundert erschiessen, dann haben wir Frieden in der Partei‹. Es sind die Stimmen von elenden, ängstlichen und gleichzeitig teuflisch verblendeten Menschen. Es ist die Stimme Thermidors.« Und hier der andere Flügel des Diptychons: »Aber alle ihre Gewalttaten werden zerbrechen vor der Macht eines ehrlichen politischen Kurses. In der Hingabe an einen solchen Kurs werden die oppositionellen Reihen mit revolutionärem Mut zusammengehalten. Stalin wird keine zwei Parteien schaffen. Wir sagen offen zu der Partei: Die Diktatur des Proletariats ist in Gefahr, und wir sind davon überzeugt, dass die Partei in ihrem proletarischen Kern uns hören und verstehen und dass sie der Gefahr entgegentreten wird. Die Partei ist schon tief aufgerührt. Morgen wird sie bis in ihre Grundfesten erschüttert sein. […] Wir stehen am Steuer des Bolschewismus, es wird ihnen nicht gelingen, uns davon fortzureissen. Wir halten es auch weiter fest. Sie werden uns nicht von der Partei abschneiden. Sie werden uns nicht von der Arbeiterklasse abschneiden. Wir sind an Repression gewöhnt, wir sind auch an Schläge gewöhnt. Wir werden die Oktoberrevolution nicht der Politik eines Stalin überlassen, dessen ganzes Programm in diese wenigen Worte zusammengefasst werden kann: Unterdrückung des proletarischen Kerns, Verbrüderung mit den Kompromisslern aller Länder, Kapitulation vor der Weltbourgeoisie. […] Schliessen sie uns heute aus dem Zentralkomitee aus, wie sie [soviele andere] aus der Partei ausgeschlossen […] und ins Gefängnis gesteckt haben. Unser Programm wird seinen Weg finden. […] Die Verfolgungen, Ausschlüsse, Verhaftungen werden unser Programm zum beliebtesten, gelesensten und geschätztesten Dokument der internationalen Arbeiterbewegung machen. Schliessen Sie uns aus. Den Sieg der Opposition den Sieg der revolutionären Einheit unserer Partei und der kommunistischen Internationale werden Sie nicht aufhalten.« (»Die Furcht vor unserem Programm«, Hervorhebungen IKP).
Man könnte Seiten und Seiten mit Zitaten füllen, aus denen hervorgeht, dass Trotzki bis 1936 nicht glaubte, die Konterrevolution sei eine vollendete Tatsache. September 1929:
»Die kommunistische Partei [der UdSSR] – nicht ihren bürokratischen Apparat, sondern ihren proletarischen Kern und die Massen, die ihr folgen – als eine erledigte Organisation, als eine Organisation, die tot und begraben ist, zu betrachten, wäre eine sektiererische Abweichung«. (»Die Verteidigung der UdSSR«).
Februar 1930:
»Ich halte es nicht für möglich, die noch vorhandenen inneren Hilfsquellen der Oktoberrevolution einzuschätzen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, sie hätten sich erschöpft und man sollte daher Stalin nicht daran hindern, sein tun fortzusetzen. Niemand hat uns zu Aufsehern der geschichtlichen Entwicklung ernannt. Wir sind die Vertreter einer besonderen Strömung des Bolschewismus, den wir an allen Wenden und unter allen Umständen verteidigen« (»Die Bolschewiki-Leninisten in der UdSSR«).
Oktober 1932:
»Nur Politiker sind den Aufgaben der Ökonomik gewachsen. Das Instrument der Politik ist die Partei. Die allererste Aufgabe besteht darin, die Partei und in der Folge die Sowjets und die Gewerkschaften von Grund auf zu heilen. Die grundlegende Wiederaufrichtung aller sowjetischen Organisationen ist die wichtigste und die dringendste Aufgabe des Jahres 1933« (»Schlussfolgerungen der Kritik am II. Fünfjahresplan«).
Auf den Kampf der Opposition um die Demokratisierung und Wiederaufrichtung der Partei hatten Stalin und dessen Helfershelfer seit 1927 zynisch entgegnet[136]: »Diese Kader [d. h. den stalinistischen Apparat, IKP] kann man nur durch Bürgerkrieg entfernen!« Die demokratischen Regierungen verweisen heuchlerisch auf die Wahlen; und gerade die proletarische Partei zeigt der Arbeiterklasse, dass sie nur durch Bürgerkrieg die bürgerliche Herrschaft und Verwaltung entfernen kann. Der tödliche Fehler der trotzkistischen Opposition lag selbstverständlich nicht darin, diesen Bürgerkrieg gegen den stalinschen Staat nicht entfesselt zu haben, sondern darin, das russische und internationale Proletariat nicht gewarnt zu haben, dieser Staat sei nur durch Bürgerkrieg zu stürzen im Gegenteil, selbst im Augenblick, wo der Feind ihr den offenen Krieg erklärte, hielt sie fest an der Politik der demokratischen Reform der Partei und des Staates. Doch damit verlor die trotzkistische Opposition zugleich jede geschichtliche Möglichkeit, zur historisch langfristigen Aufgabe der Wiederherstellung der zerstreuten und geschlagenen kommunistischen Weltbewegung beizutragen.
Dies einmal gesagt, so bedarf es einer völligen Blindheit, um nicht zu erkennen, dass Trotzki damit noch nicht auf den Boden der »Demokratie im allgemeinen« übergewechselt war. Dies geschah erst 1936. Und man muss schon so schwachsinnig wie der zeitgenössische Trotzkismus sein, um abstreiten zu können, dass 1936 eine Wende darstellte: Das logische Ergebnis einer Kette von Fehlern und zugleich eine Abschwörung Trotzkis durch Trotzki selbst das ist die tödliche Dialektik des Opportunismus.
1936 eröffnet sich in der Tat die dritte Phase des Trotzkismus, deren verheerende Positionen in der »Verratenen Revolution« formuliert wurden. Diesmal beugt sich Trotzki endlich den offensichtlichen Tatsachen der Geschichte:
»Die alte bolschewistische Partei ist tot, und keine Kraft wird sie wieder zum Leben erwecken. […] Es handelt sich folglich nicht mehr um die ›Gefahr‹ einer zweiten Partei wie vor zwölf, dreizehn Jahren, sondern um ihre historische Notwendigkeit, als der einzigen Kraft, die imstande ist, die Sache der Oktoberrevolution weiterzutreiben.«
Vorsicht! Diese Präzisierung (die übrigens im ganzen Buch immer wiederkehrt) ist von grundlegender Bedeutung: Das »revolutionäre« Programm, das wir lesen werden, ist nicht (und war es im Geiste Trotzkis niemals) etwa das »neue« internationale Programm der sozialistischen Revolution, es ist nicht etwa eine durch die »Lehren der Geschichte« erzwungene »Berichtigung« dieses Programms und tangiert mitnichten dessen unabänderlichen Charakter. Zu einer solchen Vorstellung können sich nur die »Schüler« verleiten lassen, die Trotzki so lesen, wie Stalin Lenin gelesen hatte. Es handelt sich ganz einfach um das Programm einer hypothetischen Revolution, die wie aus der Vorsehung kommen würde, um den Faden der Zugleich demokratischen und sozialistischen Oktoberrevolution, den der Stalinismus abgerissen hatte, wiederanzuknüpfen, um die Kluft zwischen den Hoffnungen von 1917 und der historischen Wirklichkeit von 1936 zu überbrücken, kurz um die Revolutionäre durch eine schlagartige Ausradierung der verhassten Gegenwart zu rächen und zugleich zum glänzenden Ausgangspunkt zurückzuführen. Dass eine so konzipierte Revolution nichts anderes als Fieberwahn darstellte, hat die Geschichte hinreichend bewiesen, denn sie hat sich nicht ereignet, und wenn ihr Programm in einem bestimmten Masse verwirklicht wurde, so doch nicht durch eine Revolution, sondern durch eine Reform, und keineswegs durch eine revolutionäre Partei, sondern durch politische Kräfte, die Trotzki, hätte er sie am Werk erlebt, so gehasst hätte, wie er die Sozialdemokraten seiner Zeit gehasst hat, nämlich die »Entstalinisierer«, die Erben Stalins. Uns kommt es hier jedoch nicht auf den mangelnden Realismus der Prognose an, sondern auf den Bruch mit den früheren Prinzipien. Das Programm der »antibürokratischen Revolution« besagt folgendes:
»Wiederherstellung des Rechts auf Kritik und einer wirklichen Wahlfreiheit ist notwendige Vorbedingung für die weitere Entwicklung des Landes. Das setzt voraus, dass den Sowjetparteien, angefangen mit der Partei der Bolschewiki, die Freiheit wiedergegeben wird und die Gewerkschaften wiederauferstehen. Auf die Wirtschaft übertragen bedeutet die Demokratie gründliche Revision der Pläne im Interesse der Werktätigen. Freie Diskussion der Wirtschaftsprobleme wird die Unkosten der bürokratischen Fehler und Zickzacks senken. Die teuren Spielzeuge […] werden zurücktreten zugunsten von Arbeiterwohnungen. Die ›bürgerlichen Verteilungsnormen‹ werden auf das unbedingt Notwendige zurückgeführt werden, um in dem Masse, wie der gesellschaftliche Reichtum wächst, sozialistischer Gleichheit Platz zu machen. Die Titel werden sofort abgeschafft, der Ordenplunder wird in den Schmelztiegel wandern. Die Jugend wird frei atmen, kritisieren, irren und mannhaft werden dürfen. Schliesslich wird die Aussenpolitik zu den Traditionen des revolutionären Internationalismus zurückkehren.«
Hier ist die Alternative unerbittlich: Entweder besteht der Kommunismus gerade in der Widerlegung jeglicher Möglichkeit, die Klassen und selbst die geringsten Laster der bürgerlichen Zivilisation mittels der politischen Demokratie abzuschaffen und in diesem Fall wirft ein solches Programm den Kommunismus über den Haufen, um voll und ganz in den Sozialdemokratismus zu stürzen; oder im Gegenteil, dieses Programm ist nicht sozialistisch und in diesem Fall muss man uns erklären, was eigentlich Kommunismus sei!
Diesem Dilemma versucht die »theoretische Diplomatie« des degenerierten Trotzkismus durch eine Lösung zu entkommen, die sehr stark jenen Medikamenten ähnelt, denen gegenüber selbst die Krankheit ein Segen ist. So schrieb Isaac Deutscher (ein polnischer Trotzkist, der zum Ostexperten der aufgeklärten angelsächsischen Bourgeoisie wurde) in seiner »Unvollendeten Revolution«: »In einer postkapitalistischen Gesellschaft hat die Meinungs- und Vereinsfreiheit eine Funktion zu erfüllen, die sich von der, die sie im Kapitalismus erfüllt, radikal unterscheidet«. Und warum das? Tja: »In der postkapitalistischen Gesellschaft [d. h. in der UdSSR usw. usf. IKP; folgendes wird von uns hervorgehoben] werden die Massen nicht durch einen automatischen ökonomischen Mechanismus in Abhängigkeit gehalten; das geschieht allein durch die politische Macht«, Aber wo zum Teufel hat es in der Geschichte je eine »politische Macht«, d. h. einen organisierten Zwangsapparat gegeben, der nicht gerade aus dem jeweiligen ökonomischen Abhängigkeitsmechanismus entstanden ist? So etwas gibt es nur in der anarchistischen Weltanschauung! Mit einer solchen Erklärung verlässt man nicht den Boden des Sozialdemokratismus, sondern stellt im Gegenteil noch dazu ein Bein auf denjenigen des anarchistischen Schwachsinns! Armer Trotzki, grosser gescheiterter Marxist! Nicht einmal die Tatsache haben seine »Schüler« zur Kenntnis genommen, dass er den besten Teil seines Oppositionellenlebens damit verbrachte, die in der russischen Gesellschaft nach der Oktoberrevolution fortwirkenden »automatischen ökonomischen Abhängigkeitsmechanismen« zu erläutern!
Inzwischen haben sich zwei Generationen von »Militanten«, deren marxistisches Wissen und revolutionäre Überzeugung sich an Trotzkis Seite lächerlich ausnehmen, sich über Trotzkis »logische Widersprüche« ausgiebig lustig gemacht. Es ist ja Sache der Opportunisten (mit ihrer »Freiheit der Kritik«), den Schwächen und Fehlern der Führer den schwarzen Peter zuzuschieben, um sich damit der Verantwortung für die eigene Prinzipienlosigkeit zu entziehen. In seiner fürchterlichen Verwirrung gegenüber der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der UdSSR, in seiner ausdrücklichen Bestrebung, »abgeschlossene soziale Kategorien wie Kapitalismus (darunter den ›Staatskapitalismus‹) oder auch Sozialismus auszuschalten« (»Die verratene Revolution«), hätte Trotzki den Ausdruck »Postkapitalismus« sicherlich nicht abgewiesen. Doch nicht hier, nicht in den »logischen Widersprüchen« liegt das Problem. Um den Zusammenhang zu erhellen, wollen wir annehmen, Trotzki hätte seine »Ungereimtheiten« auf die Spitze getrieben und gesagt: Die UdSSR ist zu 50 % sozialistisch und zu 50 % kapitalistisch oder gar vorkapitalistisch. Die Frage, die Deutschers idiotischer Versuch[137], die Wiedereinführung der Demokratie in die »postkapitalistische Gesellschaft« zu rechtfertigen, aufwirft, würde sich dadurch überhaupt nicht ändern: Betraf jene demokratische »Revolution«, von der Trotzki träumte, nun die »sozialistische Hälfte« oder die »kapitalistische Hälfte« der Sowjetgesellschaft? Diese Frage kann bizarr erscheinen, doch hat sie Trotzki selbst bereits 1929 in seiner Polemik mit Urbahns beantwortet. Schon damals wollte Urbahns Russland durch einen demokratischen Kampf gegen Stalin (!) auf den Weg des Sozialismus zurückbringen. Trotzki entgegnete (»Die Verteidigung der UdSSR«): »Was bedeutet Koalitionsfreiheit? Die ›Freiheit‹ (und wir wissen, was sie taugt!), den Klassenkampf in einer Gesellschaft zu führen, die auf der kapitalistischen Anarchie beruht, während sich ihr politisches Leben im Rahmen der sogenannten Demokratie abspielt. Nun ist der Sozialismus nicht denkbar […] ohne eine Systematisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse …« Die Rolle der Gewerkschaften im Sozialismus habe daher »nichts gemeinsames mit der Rolle der Gewerkschaften in den bürgerlichen Staaten, denn hier ist die Koalitionsfreiheit nicht nur Folgeerscheinung, sondern auch ein aktiver Faktor der kapitalistischen Anarchie […] Bei Urbahns hat die Losung ›Koalitionsfreiheit‹ im Grunde dieselbe allgemeine Bedeutung wie die Losung ›Demokratie‹ […] Das wäre unter einer kleinen Bedingungen durchaus richtig[138]: Man müsste nämlich davon ausgehen, dass der Thermidor sich bereits vollzogen hat[139]. Aber in diesem Fall bleibt Urbahns auf halbem Wege stecken. Die Koalitionsfreiheit als eine isolierte Forderung zu stellen, ist die Karikatur einer Politik. Die Koalitionsfreiheit ist undenkbar ohne alle anderen ›Freiheiten‹. und diese Freiheiten sind nur unter der Herrschaft der Demokratie, d. h. unter dem Kapitalismus, denkbar. Man muss die Sachen zu Ende denken« [Hervorhebungen IKP].
Dieser Passus ist grundlegend. Was bedeutet »die Sachen zu Ende denken« in dem Zusammenhang, mit dem wir uns hier beschäftigen? Es bedeutet, dass man begreifen muss, dass das vom Kommunisten Trotzki für die UdSSR des Jahres 1936 konzipierte Programm einer neo-liberalen Revolution nichts zu tun hat mit dem, was er über die Existenz eines »Postkapitalismus« in Russland gesagt oder auch nur gedacht haben mag. Im Gegenteil, dieses Programm stimmt zwar absolut nicht mit Trotzkis eigener Charakterisierung des 20. Jahrhunderts, bzw. mit der marxistischen Kritik an der politischen Demokratie überein, doch steht es in vollkommenem Einklang mit seiner hartnäckigen Widerlegung der Existenz des Sozialismus in Russland. Diese Behauptung mag seine »Schüler« nicht weniger als viele seiner »Gegner« verwundern, an erster Stelle diejenigen, die auf Trotzkis sozialdemokratische Abweichung nur allzu gern mit einer anarchosyndikalistischen Abweichung reagierten. Diese unglücklichen Geschöpfe glauben in der Tat unerschütterlich daran, dass es in Russland eine »neue Gesellschaft« gebe, die durch die Herrschaft der Bürokratie charakterisiert sei, dieser berühmten Bürokratie, die zugleich proletarisch und bürgerlich sein soll: Proletarisch in dem Masse, in dem sie das Staatseigentum verteidigte, und bürgerlich in dem Masse, in dem sie das Proletariat unterdrückte und zugleich die Gefahr heraufbeschwor, das Land im Zweiten Weltkrieg in die Niederlage und damit in die Restauration des Regimes der bürgerlichen Konstituante zu führen, was seinerseits die Gefahr einer Rückkehr des »Ancien Régime« zur Folge hätte. Das wesentliche Unglück dieser Leute besteht darin, dass sie niemals gemerkt haben, dass diese »Bürokratie« nie etwas anderes bedeutet hat, als den gescheiterten Versuch Trotzkis, die geschichtliche Rolle des Stalinismus soziologisch zu personifizieren, mit anderen Worten den irrsinnigen Versuch, alle Widersprüche, die der Stalinismus offen zur Schau trug, auf die Eigenarten einer einzigen sozialen Gruppe zurückzuführen[140], während in Wirklichkeit die wahre geschichtliche Rolle des Stalinismus nur allzu offenkundig hervorging aus dem zusammenwirkenden internationalen und nationalen Bedingungen, deren Produkt er war. Doch dies alles konnten die »Jünger« Trotzkis nicht einmal erahnen, denn das, was subjektive Verwirrung war, nahmen sie für das objektive Geheimnis einer neuen Gesellschaft. Und so konnten sie auch nicht verstehen, dass der »Postkapitalismus«, die scheinbare Doppelrolle der Bürokratie gegenüber dem Sozialismus, niemals etwas anderes dargestellt hat als eine ideologische Rechtfertigung für die politische Einheitsfront (so besonders diese auch gewesen sein mag), mit der Trotzki gegen alle Winde und Ströme versucht hat, die Überbleibsel der Klassenpartei in Russland aus der »ustrjalowistischen« Partei zu retten. Man muss in der Tat »die Sache zu Ende denken«; man muss aber auch zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden! Wenn man fragt: Ja, aber warum diese Einheitsfront? Darauf liefert der »Postkapitalismus« überhaupt keine Antwort! Denn in welchem Masse gibt es für Trotzki einen »Postkapitalismus« in Russland? Nur in dem Masse, in dem für die russische Gesellschaft eine historische Möglichkeit bestehen blieb, auf dem Weg zum Sozialismus voranzukommen. Der Fortbestand dieser Möglichkeit hatte für Trotzki zweierlei Voraussetzungen: im Inneren die Abwendung einer Restauration des Regimes der Konstituante, denn eine solche Restauration hätte ja verheerende Folgen für die demokratischen Errungenschaften der Oktoberrevolution; im internationalen Massstab die proletarische Revolution. Der »Postkapitalismus« (die »Übergangsgesellschaft«!) bildete also nicht eine Stufe des »Sozialismus«, sondern einfach eine Art Niemandsland, wo die Tendenzen zum Sozialismus ihren Kampf gegen die vom Stalinismus verkörperten Tendenzen zum Kapitalismus fortsetzen. Um eine Einheitsfront zu bilden, muss man entzweit sein; doch erklärt die Tatsache, dass man entzweit ist, noch gar nicht die Einheitsfront! Vom Standpunkt des Proletariats war der Stalinismus eine infame nationalistische Abweichung, der verhasste Totengräber der proletarischen und marxistischen Tradition des Bolschewismus, der Stützpunkt aller opportunistischen Abweichungen in der Kommunistischen Internationale, der Stosstrupp gegen alle ihre proletarischen Strömungen. Doch vom Standpunkt der demokratischen Revolution in Russland war der Stalinismus immer nur eine Variante des Ustrjalowismus gewesen, d. h. einer Strömung, die die demokratischen Errungenschaften des Oktober nicht mehr in Frage stellt, einer Strömung, die von der Restauration des Regimes der Konstituante absieht und damit gleichzeitig verhindert, dass Russland auf seine frühere Stellung eines »Kleinkapitalismus, halb kolonisiert und ohne jede Zukunft« zurückversetzt wird; um es kurz zu sagen, er erfüllt die »fortschrittliche geschichtliche Rolle«, die darin besteht, die Produktivkräfte zu entwickeln und die vorbürgerlichen Verhältnisse abzuschaffen, in denen Russland ohne die Oktoberrevolution gefangen geblieben wäre. Klassenüberlegungen im weiten Sinne d. h. im Sinne der Interessen der internationalen kommunistischen Bewegung führen Trotzki zu einem heftigen Kampf gegen den Stalinismus als politischen Opportunismus; Klassenüberlegungen im engen Sinne d. h. im Sinne der unmittelbaren Interessen der russischen Arbeiter, die unter dem russischen Sklaventreiberregime des neuen Staates einer schrecklichen Unterdrückung ausgesetzt sind, führen ihn zu einem ebenso heftigen Kampf gegen den »Sozialismus in einem Lande«, diese ideologische Verschleierung einer wahrhaftigen sozialen Unterdrückung. Doch als russischer Ustrjalowismus war der Stalinismus auch geschichtlicher Träger einer wahrhaftigen ökonomischen und sozialen Revolution, einer Revolution, die Trotzki aus sozialistischen Skrupeln zwar hätte kontrollieren und disziplinieren, nicht jedoch verhindern wollen, schuf sie ja jene »materiellen Grundlagen«, ohne welche der Sozialismus undenkbar ist. Und zum restlosen Bruch mit dieser Seite des Stalinismus liess sich Trotzki durch keine Klassenüberlegung im weiten oder engen Sinn je überzeugen, nicht einmal nach 1936[141]. Hier lag der tödliche Fehler. Der Marxismus erkennt durchaus die progressive Rolle des Kapitalismus. Doch erkennt er sie gerade als Grundlage für den revolutionären Klassenkampf des Proletariats gegen den Kapitalismus. Aus dieser dialektischen Auffassung ergibt sich nicht nur die absolute Unnachgiebigkeit der Klassenpartei in Verteidigung ihrer eigenen sozialen Postulate, sondern auch ihre vollkommene politische Selbständigkeit gegenüber den Gegnerparteien.
Prinzipielle politische Fehler lassen sich nicht theoretisch begründen; das liegt in ihrer Natur selbst. Der prinzipielle politische Fehler ist dazu verurteilt, bei den täuschenden Rechtfertigungen der Ideologie Zuflucht zu nehmen. In welcher Hölle Trotzki Zuflucht nahm, weiss nicht nur der Teufel. Doch um dies zu erkennen, muss man mindestens so weit wie er auf dem Boden des Marxismus stehen; man muss verstehen, dass der Sozialismus ohne eine vorhergehende Entwicklung seiner materiellen Grundlagen nicht möglich ist. Dazu sind »Trotzkisten« allerdings nicht in der Lage, selbst diejenigen nicht, die das Verdienst hatten, dem Meister auf dem Weg der politischen Demokratie nicht zu folgen: Sie sind inzwischen auf die Ebene des Selbstverwaltungssozialismus hinabgesunken und reduzieren alles auf die Arbeiterselbstverwaltung, die an die Stelle der Kapitalistenverwaltung zu treten habe. Mehr noch, man muss auch verstehen, was Trotzki zu Recht immer wieder betont hat, nämlich dass die Demokratie nur unter dem Kapitalismus denkbar ist (woraus keineswegs folgt, dass der Kapitalismus ohne Demokratie nicht denkbar sei!). Unfähig, zu dieser elementaren marxistischen Wahrheit Zugang zu finden, haben die »Schüler« auch nicht begreifen können, dass Trotzki selbst dann, wenn er keine einzige Zeile geschrieben hätte, um zu beweisen, dass es in Russland keinen Sozialismus gibt, dass er selbst dann diesen Beweis implizit erbracht hat: als solcher gilt ohne weiteres sein Programm einer neoliberalen Revolution aus dem Jahre 1936.
In Wirklichkeit hat Trotzki niemals an den russischen Sozialismus geglaubt, und er hat auch nicht die Kennzeichen des Sozialismus mit denjenigen des Kapitalismus verwechselt. Auch darin unterscheidet er sich radikal von seinen Epigonen. Diese können von einem demokratischen Sozialismus nur quasseln, weil sie an einen Sozialismus auf der Grundlage der Warenproduktion glauben, und daran können sie nur glauben, weil sie wieder einmal absolut nichts von der Polemik Trotzkis gegen den Stalinismus verstanden haben. In der Zeit der beiden ersten Fünfjahrespläne machte sich Trotzki über die stalinistische Anmassung lustig, »die NEP über Bord zu werfen«, d. h. die Warenproduktion und die aus ihr resultierenden Verhältnisse allein dank des administrativen Willens ausser Kraft zu setzen, oder mit anderen Worten die bürgerliche Anarchie allein dank der politischen Autorität abzuschaffen. Damit bekämpfte Trotzki die voluntaristische Utopie des Sozialismus in einem Lande. Doch damit tat er nichts anderes, als Lenins Politik des kontrollierten Kapitalismus in aller Treue zu verteidigen, jene Politik, die Lenin vollkommen richtig als die einzigmögliche betrachtete, solange man auf die Weltrevolution warten musste. Immer so gut informiert und tiefschürfend wie sie sind, entdeckten die Epigonen des späten Trotzki darin die Verteidigung der »richtigen Wirtschaftspolitik des Sozialismus« gegen die »falsche Politik« Stalins, um daraus genau wie die Stalinisten der nachfolgenden Periode zu folgern, dass der Sozialismus ohne Markt und ohne Lohnarbeit nicht läuft! Doch lassen wir diese langweilige Kette von Irrtümern beiseite. Man muss Trotzki selbst zu Wort kommen lassen, denn er kann unsere Behauptungen sehr schön beweisen:
»In der Industrie herrscht fast uneingeschränkt das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln. In der Landwirtschaft herrscht es nur in den Sowchosen, die nicht mehr als 10 % der Anbaufläche erfassen. In den Kolchosen paart sich das genossenschaftliche oder Gruppeneigentum in verschiedenen Proportionen mit staatlichem und privatem. Der Grund und Boden, der juridisch dem Staat gehört, ist den Kolchosen in ›ewige‹ Nutzung übergeben, was sich wenig vom Gruppeneigentum unterscheidet. […] Die neue Verfassung […] spricht von ›Staatseigentum, d. h. Besitz des ganzen Volkes‹. Diese Identifizierung stellt den Grundsophismus der offiziellen Doktrin dar. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Marxisten, angefangen mit Marx selber, in Bezug auf den Arbeiterstaat die Ausdrücke ›Staats-‹, ›Volks-‹ oder ›sozialistisches-‹ Eigentum einfach als Synonyme gebrauchten. Im grossen historischen Massstab gesehen, bot dieser Gebrauch keinerlei besondere Schwierigkeiten. Er wird aber zu einer Quelle grober Fehler und direkten Betrugs, handelt es sich um die ersten, noch nicht gesicherten Etappen in der Entwicklung der neuen Gesellschaft, die zudem isoliert und wirtschaftlich hinter den kapitalistischen Ländern zurückgeblieben ist.
Um gesellschaftliches Eigentum zu werden, muss das Privateigentum unvermeidlich das staatliche Stadium durchlaufen, so wie die Raupe durch das Stadium der Larve gehen muss, um Schmetterling zu werden. Aber die Larve ist noch kein Schmetterling. Myriaden von Larven kommen um, bevor sie Schmetterling wurden. Das Staatseigentum wird nur in dem Masse ›Volkseigentum‹, in dem die sozialen Privilegien und Unterschiede verschwinden, und folglich auch das Bedürfnis nach dem Staat. Mit anderen Worten: das Staatseigentum verwandelt sich in sozialistisches in dem Masse, wie es aufhört, Staatseigentum zu sein. Und umgekehrt: je höher sich der Sowjetstaat über das Volk erhebt, umso wütender stellt er sich als Hüter des Eigentums dem Volk, dessen Verschwender, gegenüber, umso krasser zeugt er selbst gegen den sozialistischen Charakter des Staatseigentums. […]
Das riesige und völlig unbestreitbare statistische Übergewicht der staatlichen und kollektiven Wirtschaftsformen, so wichtig es für die Zukunft auch sein mag, beseitigt nicht eine andere, kaum minder wichtige Frage: die der Mächtigkeit der bürgerlichen Tendenzen innerhalb des ›sozialistischen‹ Sektors selbst, und zwar nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Industrie […] Die Dynamik des wirtschaftlichen Aufschwungs enthält […] selber ein Erwachen kleinbürgerlicher Appetite nicht nur bei den Bauern und Vertretern der ›geistigen‹ Arbeit, sondern auch bei den Spitzen des Proletariats.[142] Die nackte Gegenüberstellung der Einzelbauern und Kolchosbauern, der Handwerker und der Staatsindustrie, gibt nicht die geringste Vorstellung von der Explosivkraft dieser Appetite, die die ganze Wirtschaft des Landes durchdringen und die sich, summarisch gesprochen, ausdrücken in dem Bestreben aller, der Gesellschaft möglichst wenig zu geben und möglichst viel von ihr zu erhalten. […]
Während der Staat sich in einem ununterbrochenen Kampf mit der molekularen Tätigkeit der zentrifugalen Kräfte befindet, bildet die herrschende Schicht selber das Hauptreservoir der gesetzlichen und ungesetzlichen privaten Akkumulation. Die durch neue juridische Normen maskierten kleinbürgerlichen Tendenzen lassen sich allerdings statistisch nicht leicht erfassen. Aber ihr direktes Übergewicht im Wirtschaftsleben wird vor allem bewiesen durch die ›sozialistische‹ Bürokratie selbst, diese himmelschreiende contradictio in adjecto, diese ungeheuerliche und ständig zunehmende soziale Verirrung […]
›Der Arbeiter in unserem Lande ist kein Lohnsklave, kein Verkäufer seiner Ware, der Arbeitskraft. Er ist ein freier Werkmann‹ (›Prawda‹). Für die Gegenwart stellt diese pathetische Formel unstatthaftes Geprahle dar. Die Aushändigung der Fabriken an den Staat hat die Lage des Arbeiters nur juridisch verändert. In Wirklichkeit ist er, während er eine bestimmte Anzahl von Stunden für einen bestimmten Lohn arbeitet, gezwungen zu darben. Die Hoffnungen, welche der Arbeiter früher auf Partei und Gewerkschaften setzte, hat er nach der Revolution auf den von ihm geschaffenen Staat übertragen. Aber die nützliche Arbeit dieses Werkzeugs war durch das Niveau der Technik und Kultur begrenzt. Um dieses Niveau zu erhöhen, begann der Staat, auf die alten Methoden des Drucks auf Muskeln und Nerven der Werktätigen zurückzugreifen. Es entstand ein Korps von Antreibern […] Bei Akkordlohn, schweren materiellen Daseinsbedingungen, Fehlen der Freizügigkeit, einem fürchterlichen Polizeiapparat, der in das Leben jedes Betriebes eindringt, fühlt sich der Arbeiter schwerlich als ›freier Werkmann‹. Im Beamten sieht er den Vorgesetzten, im Staat den Herrn. […]
Der Kampf um die Erhöhung der Arbeitsergiebigkeit bildet neben der Sorge um die Verteidigung den Hauptinhalt der Tätigkeit der Sowjetregierung. Auf den verschiedenen Etappen in der Entwicklung der UdSSR nahm dieser Kampf verschiedene Formen an. Die in den Jahren des ersten Fünfjahrplans und zu Beginn des zweiten angewandten Methoden der ›Stossbrigaden‹ waren gegründet auf Agitation, persönliches Beispiel, administrativen Druck, alle Art Gruppenermunterungen und Gruppenprivilegien. Die Versuche […] so etwas wie Akkordlöhne einzuführen, scheiterten an der trügerischen Währung und der Vielfalt der Preise. […] Erst die Abschaffung des Kartensystems, die beginnende Stabilisierung des Rubels und die Vereinheitlichung der Preise schufen die Bedingungen zur Anwendung des Akkord- oder Stücklohns. […] Nicht die Sovietadministratoren haben das Geheimnis des Akkords entdeckt: dies System, bei dem man sich ohne sichtbaren äusseren Zwang zu Tode schindet, hielt Marx für ›der kapitalistischen Produktionsweise am meisten angemessen‹.
[…] Wenn auf den ersten Blick die Rückkehr der Sowjetregierung zum Akkord, nach dem ›endgültigen und unwiderruflichen Sieg des Sozialismus‹, als ein Rückschritt zu kapitalistischen Verhältnissen erscheinen mag, so gilt hier [dasselbe wie bei] der Rehabilitierung des Rubels […] : es handelt sich nicht um einen Verzicht auf den Sozialismus, sondern lediglich um die Liquidierung einiger grober Illusionen. Die Form des Arbeitslohns ist nur besser den realen Möglichkeiten des Landes angepasst worden: ›Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung‹.
Jedoch, die herrschende Schicht der Sowjetunion kann der sozialen Schminke bereits nicht mehr entbehren. [Sie verkündet]: ›Der Rubel wird das einzige und wahre Mittel zur Verwirklichung des sozialistischen [!] Prinzips des Arbeitslohns‹. Wenn in den alten Monarchien alles, einschliesslich der Bedürfnisanstalten, für königlich erklärt wurde, so folgt daraus noch nicht, dass im Arbeiterstaat alles von selbst sozialistisch wird. Der Rubel ist das ›einzige und wahre Mittel‹ zur Verwirklichung des kapitalistischen Prinzips des Arbeitslohns [Hervorhebung Trotzki] […] Zur Begründung des neuen Mythos vom ›sozialistischen‹ Stücklohn [schreiben die Stalinisten]: ›Das Grundprinzip des Sozialismus ist darin enthalten, dass jeder nach seinen Fähigkeiten arbeitet und nach der von ihm geleisteten Arbeit bezahlt wird‹ […] Wenn das Arbeitstempo durch die Jagd nach dem Rubel bestimmt wird, dann verausgaben sich die Menschen nicht ›nach ihren Fähigkeiten‹[143], d. h. nicht nach Massgabe ihrer Muskel- und Nervenkraft, sondern tun sich Gewalt an. Diese Methode kann man bedingt nur durch einen Hinweis auf die harte Notwendigkeit rechtfertigen; sie aber zum ›Grundprinzip des Sozialismus‹ erklären, heisst die Idee der neuen, höheren Kultur zynisch in den gewohnten Schmutz des Kapitalismus treten. […] Der Sozialismus oder unteres Stadium des Kommunismus erfordert zwar noch strenge Kontrolle über das Mass der Arbeit und das Mass des Verbrauchs, setzt aber jedenfalls menschlichere Kontrollformen voraus, als die vom Ausbeutergenius des Kapitals ersonnenen. […] Auf jeden Fall, das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln verwandelt nicht Mist in Gold und umgibt nicht das Schwitzsystem, das mit der Hauptproduktivkraft, dem Menschen, Raubbau treibt, mit einem Heiligenschein. […]
Der staatliche wie der Geldzwang sind ein Erbteil der Klassengesellschaft […] In der kommunistischen Gesellschaft werden Staat und Geld verschwunden sein. Ihr allmähliches Absterben muss also schon unter dem Sozialismus beginnen. Von einem tatsächlichen Sieg des Sozialismus wird man erst in dem geschichtlichen Augenblick sprechen können, wenn der Staat nur noch halb ein Staat ist und das Geld seine magische Kraft einzubüssen beginnt. Das wird bedeuten, dass mit dem Sozialismus, der sich der kapitalistischen Fetische entledigt, zwischen den Menschen durchsichtigere, freiere, würdigere Beziehungen zu walten beginnen. […]
Die Nationalisierung der Produktionsmittel und des Kredits, die Vergenossenschaftung oder Verstaatlichung des Binnenhandels, das Monopol des Aussenhandels, die Kollektivisierung der Landwirtschaft und die Erbschaftsgesetzgebung stecken der persönlichen Geldakkumulation enge Grenzen und erschweren ihre Verwandlung in privates (Wucher-, Kaufmanns- und Industrie-) Kapital. In der UdSSR ist der Staat ›universeller Kaufmann, Gläubiger und Industriellen‹, […] ›Die Rolle des Geldes in der Sowjetwirtschaft ist nicht nur noch nicht ausgespielt, sondern soll sich […] erst restlos entfalten.« (Trotzki, »Verratene Revolution«, S. 228, 230, 231, 229, 235, 81 ff, 67 ff, Hervorhebungen IKP).
Nur diese eben geschilderte kapitalistische Wirklichkeit hat Trotzki zur Überzeugung führen können, dass eine neue Revolution notwendig sei; und nur diese kapitalistische Wirklichkeit konnte ihn zu folgender Analogie verführen:
»Die Geschichte hat in der Vergangenheit nicht bloss soziale Revolutionen aufzuweisen, die das Feudalregime durch das bürgerliche ersetzten, sondern auch politische, die, ohne die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft anzutasten, die alte herrschende Spitze hinwegfegten (1830 und 1848 in Frankreich, Februar 1917 in Russland u. a.). Der Sturz der bonapartistischen Kaste[144] wird selbstverständlich tiefe soziale Folgen haben, aber an sich wird er im Rahmen eines politischen Umsturzes bleiben«.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Man kann, wie der degenerierte Trotzkismus unserer Tage, davon ausgehen, dass diese politische Revolution auf der Grundlage des Sozialismus oder, um es weniger statisch auszudrücken, an einem bestimmten Zeitpunkt der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft eintreten soll. Wäre dem so, dann hätten wir nur mit »Herkulessäulen der Ungereimtheit« zu tun: Die Diktatur des Proletariats ist also doch nicht mehr notwendig für die sozialistische Umgestaltung? Die sozialistische Umgestaltung setzt sich also selbst dann fort, wenn das Proletariat aus der Macht verjagt wurde? Und wenn dieses Proletariat die Macht revolutionär wiedererobert, braucht es dann auf sozio-ökonomischer Ebene »an sich« nur auf dem bisherigen Weg fortzuschreiten, um zum vollen Sozialismus zu gelangen? Den Fragenkatalog könnte man seitenlang fortsetzen. Wenn man jedoch von der kapitalistischen Grundlage ausgeht, werden die Zusammenhänge klar: Das Proletariat hat die Macht verloren; die kapitalistische Umgestaltung des kleinbürgerlichen Russland vollzieht sich daher nicht mehr mit sozialistischem Kurs, sondern in einer Phase weltweiter Reaktion. Um den Weg zum Sozialismus wieder zu öffnen, muss das Proletariat die Macht wieder erobern; sollte ihm dies gelingen, so würde es 1936, zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution, im nationalen Rahmen nach wie vor noch nicht zur unteren Phase des Sozialismus übergehen können; es würde den Markt, die Lohnarbeit, die bürgerlichen Produktionsverhältnisse immer noch nicht abschaffen können, sondern nur ein paar weitere Zwischenstufen in der Abfolge der Produktionsweisen erklimmen: in diesem Sinne wäre die Revolution politisch und nicht sozial. Doch bleibt eine wesentliche Ungereimtheit bestehen, nämlich die Vorstellung, das Proletariat könne wie 1917 die Macht erobern (oder wieder an die Macht gelangen) als Krönung einer revolutionär-demokratischen Entwicklung, d. h. im Laufe einer Volksrevolution. Denn gerade eine solche Entwicklung setzte den sozialen Hintergrund von 1917 voraus, d. h. das ursprüngliche Bündnis von sozialistischem Proletariat und demokratischer Bauernschaft. Dieses Bündnis seinerseits setzte die Notwendigkeit einer demokratischen Revolution, d. h. der Liquidierung des Grossgrundbesitzes voraus. Doch diese Revolution stand 1936 nicht mehr auf der Tagesordnung, sie war bereits vollzogen worden; und selbst im Falle einer Restauration würde das Regime der Konstituante die Errungenschaften der demokratischen Revolution kaum mehr antasten können als die Bourbonen in Frankreich nach dem Sturz des Empire. Unter diesen neuen Bedingungen hätte ein demokratisches Programm, bzw. das Bündnis des Proletariats mit allen plebejischen Klassen nicht mehr die revolutionäre Bedeutung von 1917. Eine derartige Bewegung könnte nunmehr selbst wenn man sie als eine aufständische Bewegung verstünde nur einen vulgären demokratischen oder sozialdemokratischen Inhalt haben: die Einheit des ganzen Volkes für die Freiheit, die infame Losung des Antifaschismus, die niemals zu einer Revolution, nicht einmal zu einer »rein politischen« hat führen können.
Erfüllt von einer Nostalgie für den Oktober und von einer grossmütigen Empörung vor der wachsenden Unterdrückung im Russland des »Sozialismus in einem Land«, ist Trotzkis Position von 1936 dennoch die Liquidierung seiner marxistischen Vergangenheit und seiner kommunistischen Prinzipien. Wenn seine Schüler den Sinn der Wende von 1936 nicht verstehen konnten, so ist das sicherlich zum Teil auch auf die »logischen Widersprüche« des Oppositionsführers zurückzuführen. Doch die Klassenpartei beruht nicht auf der Logik von Individuen; sie ist an Prinzipien gebunden, die das Leben selbst, die lange Erfahrung des proletarischen Klassenkampfes unwiderruflich gemacht hat; im Gegensatz zum Opportunismus verwechselt sie daher nicht das menschlich unvermeidliche Scheitern von besiegten Revolutionären mit den »Lehren der Geschichte«!
Notes:
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Die Mehrzahl der zeitgenössischen Trotzkisten versucht allerdings nicht einmal mehr, die Klassenfrage (und damit die Parteifrage) aufzuwerfen: Ihnen geht es um die Verstaatlichung an sich, und so treten erstaunlicherweise die »reaktionäre bonapartistische Kaste«, d. h. die stalinistische Bürokratie (wie in den Ostblockländern) und der nationalistische Flügel der Bourgeoisie in der »dritten Welt« an die Stelle des Proletariats als Träger der »sozialistischen« Umwälzung der Wirtschaft. Demgegenüber nimmt sich selbst ein Lassalle… marxistisch aus.
Eine Analyse der historischen Ursachen für diese Tatsache würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Wir beschränken uns daher auf den Hinweis, dass die marxistische Linke Italiens (die eine Generation jünger als die Bolschewiki und die Spartakisten war) die Kommunistische Internationale vor dieser missverständlichen Terminologie gewarnt hat. So heisst es u. a. in einem klassischen Artikel (»Il principio democratico«, »Das demokratische Prinzip«), der im Februar 1922 in ihrer Zeitschrift »Rassegna comunista« erschien:
»Es gibt bestimmte Ausdrücke, denen eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird, und die infolgedessen zu Missverständnissen führen, wenn man sie in der Darlegung der Grundsätze des Kommunismus gebraucht. Das geschieht z. B. mit den Wörtern Demokratie und Demokratisch. Der wissenschaftliche Kommunismus ist seinem Wesen nach zugleich Kritik und Negation der Demokratie. Dennoch verteidigen die Kommunisten oft den demokratischen Charakter der proletarischen Organisationen (Sowjetstaat, Gewerkschaften, Partei) und befürworten die Anwendung der Demokratie innerhalb dieser Organisationen. Selbstverständlich liegt darin kein Widerspruch. Es lässt sich nichts dagegen einwenden, wenn man der bürgerlichen Demokratie die proletarische Demokratie gegenüberstellt, vorausgesetzt, man versteht darunter den Gegensatz von bürgerlicher Demokratie und proletarischer Diktatur. […] Allerdings wäre es wünschenswert, einen anderen Ausdruck zu verwenden, denn damit würde man sowohl Missverständnisse als auch eine erneute Aufwertung des Begriffes Demokratie vermeiden. Doch selbst wenn man darauf verzichtet, ist es ratsam, den Inhalt des demokratischen Prinzips näher zu untersuchen, und zwar nicht nur in seinem allgemeinen Verständnis, sondern auch in seiner besonderen Anwendung auf diejenigen Organisationen, die vom Klassenstandpunkt aus homogen sind. So können wir der Gefahr entgehen, die Arbeiterdemokratie zu einem absoluten Prinzip der Wahrheit und Gerechtigkeit zu erheben. Denn gerade jetzt, wo wir die Waffen der Kritik auf die ganze Lüge und Willkür der liberalen Theorien richten, um klare Fronten zu schaffen, müssen wir vermeiden, selbst einem Apriorismus zu verfallen, der unserer Weltanschauung vollkommen fremd ist.«
Soweit die Einleitung jenes Artikels. Wenn man bedenkt, was der »Trotzkismus« ausgerechnet aus den Lehren Trotzkis gemacht hat, gewinnen diese Zeilen eine wahrhaft prophetische Bedeutung und übrigens auch die Schlussfolgerungen, in denen es heisst:
»Die Kommunisten haben keine Verfassungsbücher vorzuschlagen. Sie müssen im Gegenteil jene ganze Welt aus Lügen und Verfassungsrechten zerstören, die sich in der Gewalt und im Recht der herrschenden Klasse kristallisiert haben. Die Kommunisten wissen, dass nur ein revolutionärer und totalitärer Zwangs- und Gewaltapparat, der kein Kampfmittel ausschliesst, verhindern kann, dass die niederträchtigen Überbleibsel eines barbarischen Zeitalters wieder zur Macht gelangen und die Privilegierten rachsüchtig den lügnerischen Aufruf zur ›Freiheit‹ zum x-ten Mal ausstossen, um ihre Unterdrückung erneut zu begründen.«Das ist u. a. bei P. Broué der Fall, dessen Geschichte der bolschewistischen Partei wohl keinen anderen Zweck verfolgt.
Hierzu Lenin auf dem siebenten Parteitag zur Parteikrise infolge der Friedensverhandlungen mit Deutschland:
»Wir werden diese Krise überwinden. Auf keinen Fall wird sie unserer Partei oder unserer Revolution das Genick brechen, obwohl das im gegebenen Augenblick ganz nahe lag, durchaus möglich war. Eine Garantie dafür, dass wir uns an dieser Frage nicht das Genick brechen werden, bildet der Umstand, dass an Stelle der alten Methode, über fraktionelle Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden, die in der Produktion einer ungewöhnlichen Menge Literatur, in unendlichen Diskussionen und in einer beträchtlichen Anzahl von Spaltungen bestand, dass die Ereignisse den Menschen an Stelle dieser alten Methode eine neue Methode des Lernens beigebracht haben. Diese Methode besteht darin, alles anhand der Tatsachen, Ereignisse und Lehren der Weltgeschichte nachzuprüfen.«Wir haben oben gesehen, dass unsere Strömung versucht hat, diese Sprache von zweideutigen Ausdrücken zu säubern.
Wir werden sehr ausführlich auf diesen Punkt zurückkommen. Um jedoch von vornherein Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass seit 1936 auch nicht die Verwendung der Formel »Sowjetdemokratie« diesen wehren Kern der Forderung verbergen konnte. So forderte Trotzki in der »Verratenen Revolution«: »die Wiederherstellung einer wirklichen Wahlfreiheit«, was voraussetze, »dass den Sowjetparteien, angefangen mit der Partei der Bolschewiki, die Freiheit wiedergegeben wird.« Doch, wie wir in der Folge sehen werden, hatte niemand besser als Trotzki gezeigt, dass diese anderen »Sowjetparteien« bürgerliche, ja national-russische Parteien waren.
Nach dem Namen des bürgerlichen Exilpolitikers Ustrjalow, der als erster und unbeirrbar die Umwandlung des Sowjetstaates in einen gewöhnlichen bürgerlichen Staat predigte. So schrieb Ustrjalow im Oktober 1926 an einem Höhepunkt des Kampfes der Anhänger des »Sozialismus in einem Land« gegen die vereinigte linke Opposition:
»[…] die faktischen Zugeständnisse an die Sinowjew-Anhänger, zu denen sich die Partei vor kurzem entschlossen hat, müssen ernste Befürchtungen erwecken. Heil dem Politbüro, wenn die Reue-Erklärung der Oppositionsführer ein Resultat ihrer einseitigen und bedingungslosen Kapitulation ist. Doch wehe ihm, wenn sie die Frucht eines Kompromisses mit ihnen ist« [dies bezüglich hätte sich Ustrjalow allerdings keine Sorgen zu machen brauchen, IKP]. »Das siegreiche ZK muss eine innere Immunität gegen das zersetzende Oppositionsgift erwerben. Es muss alle Konsequenzen aus der Niederlage der Opposition ziehen […] Sonst wird es ein Unglück für das ganze Land sein […] So und nicht anders müssen sich die Intellektuellen, die Fachleute, die Ideologen der Evolution und nicht der Revolution in Russland zu dieser Sache stellen […] wir sind deshalb nicht nur gegen Sinowjew, sondern auch entschieden für Stalin.« Das Siegesgefühl des »klügsten Feindes der proletarischen Diktatur« (lt. Lenin) und »wirklichen Vertreters der neuen Bourgeoisie« (lt. Kamenew, dessen Rede vom 11. Dezember 1926 wir diese Auszüge entnehmen) ist nicht zu verkennen.Als Lenins Gesundheitszustand hoffnungslos wurde, bildete sich ein »geheimes Politbüro«, dem alle Mitglieder des offiziellen Politbüros ausser Trotzki angehörten. Damit wollte man verhindern, dass Trotzki die Parteiführung übernähme. Alle Fragen wurden in diesem konspirativen Politbüro, dessen Mitglieder durch eine kollektive Verantwortung miteinander verbunden waren, im voraus entschieden. Sie hatten sich verpflichtet, keine Polemik gegeneinander zu führen und zugleich alle Vorwände für eine Polemik gegen Trotzki auszunutzen. Ähnliche Zellen gab es in den örtlichen Parteiorganisationen. Sie standen in Verbindung mit dem geheimen Politbüro in Moskau und beachteten eine strenge Disziplin. Der Briefwechsel wurde in einer besonderen kodierten Sprache geführt. Die verantwortlichen Partei- und Staatsfunktionäre wurden aufgrund eines einzigen Kriteriums systematisch ausgewählt: gegen Trotzki. Die Parteimitglieder, die gegen diese Politik protestierten, wurden mit fadenscheinigen und oft erfundenen Begründungen angegriffen. Andere Elemente, die im Laufe der ersten fünf Jahre der Sowjetmacht unerbittlich aus der Partei entfernt worden wären, konnten jetzt im Gegenteil mit einer einzigen feindseligen Bemerkung gegen Trotzki ihre Position festigen. Ende 1923 wurde die Kampagne auf alle Parteien der Komintern übertragen. Nicht die besten Elemente, sondern die anpassungsfähigsten wurden künstlich ausgewählt. Die Führer hatten ihre Position bald nur noch dem Apparat zu verdanken. Ende 1923 war der Apparat bereits zu drei Vierteln gesäubert; es war daher möglich, den Kampf auf die Massen zu übertragen. Im Herbst 1923, und mit erneuter Heftigkeit im Herbst 1924, begann die Kampagne gegen Trotzki. Seine alten Auseinandersetzungen mit Lenin aus der Zeit vor der Revolution, ja vor dem Krieg, wurden plötzlich wieder auf die Tagesordnung gebracht, entstellt, übertrieben und den Massen als brennend aktuell dargestellt. Die Massen wurden damit überrascht, irregeführt und eingeschüchtert. Mittlerweile hatte der Selektionsprozess eine noch tiefere Stufe erreicht. Ohne antitrotzkistische Referenzen konnte man nicht mehr Betriebsleiter, Sekretär einer Abteilungszelle, Vorsitzender eines regionalen Exekutivkomitees, Buchhalter oder Maschinenschreiberin werden. Alle diese Einzelheiten befinden sich in Trotzkis Artikel »Wie konnte dies alles kommen?« (Konstantinopel, Februar 1929).
Siehe diesbezüglich die Kritik der italienischen [kommunistischen] Linken an dem Gebrauch der Ausdrücke »Demokratie« und »demokratisch«, die wir in Anmerkung 119 auszugsweise zitierten.
Es handelt sich um die »Etappe«, die durch folgende Bedingungen charakterisiert wurde: einerseits die Niederlage der deutschen Revolution im Oktober 1923 (bzw. die damit zusammenhängende Demoralisierung) und damit die voraussichtliche Verlängerung der internationalen Isolierung der UdSSR, andererseits die Wirtschaftskrise in der UdSSR selbst, die trotz der von der NEP herbeigeführten Erleichterung fortbestand.
Wie oben bereits erwähnt, benutzt Trotzki diesen Ausdruck hier, um Verhältnisse zu bezeichnen, die sich von denjenigen radikal unterscheiden, die im Kapitalismus aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und dem Klassengegensatz resultieren (auf dem einen Pol bürokratischer Zwang, auf dem anderen Passivität oder passiver Widerstand; Befehl und Gehorsam; »Kunst des Verwaltens« und Ignoranz usw.). Die Klassenpartei kann sich zwar nicht von derlei Bedingungen der bürgerlichen Umwelt völlig abheben, dennoch verschwinden in ihren Reihen tendenziell all jene Kennzeichen, denn sie ist eine freiwillige Vereinigung von Individuen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, nämlich das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der es keine gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit auch keinen politischen oder selbst administrativen Zwang geben wird.
Ebenso hatte die italienische Linke auf den »ideologischen Terror« des Stalinismus nicht mit der Forderung nach »demokratischen Rechten« für die Parteimitglieder, sondern nach einer strengen Disziplin der Parteizentrale gegenüber den gemeinsamen Prinzipien reagiert. Nur wenn eine solche Disziplin gewährleistet wird, kann die Partei mit einem Minimum an Reibungen geführt werden.
Trotzki bekämpfte damals als Marxist eine authentische demokratische Abweichung, die »Unterschätzung« des Klassengegensatzes von Proletariat und Bauernschaft und die Verschleierung dieses Gegensatzes hinter der Apologie der »neuen Demokratie«, der sowjetischen Demokratie.
Aus diesen offensichtlichen Gründen hat unsere Strömung die sogenannte antifaschistische Taktik immer abgelehnt. Obwohl diese Gründe selbst einer äusserst mittelmässigen Auffassungsgabe zugänglich sind, wurden sie von der entarteten Internationale nicht verstanden; diese setzte vielmehr den absurden Weg des »Antifaschismus« fort. Auf der Ebene der »Taktik« gilt für den Kampf um die »Demokratisierung der Partei« in der UdSSR genau dieselbe Kritik, die gegen den vermeintlich proletarischen »Antifaschismus« gerichtet wurde.
Die Formulierung ist etwas missverständlich, was vielleicht auf die französische Übersetzung zurückzuführen ist (von der wir auch bei der deutschen Übersetzung ausgegangen sind). Der Sinn ist jedoch eindeutig klar: Anerkennung, dass die Diktatur des Proletariats nach wie vor existiert. Gerade dies behauptete Trotzki unentwegt gegen die offensichtlichsten Tatsachen.
Der Stalinismus benutzte somit die echt demokratische Methode, die darin besteht, auf die Unwissenheit und Bewusstlosigkeit des einfachen Proletariats zu spekulieren.
Warum er das tat, ist eine andere Frage, mit der wir uns einige Seiten weiter befassen werden. Es geht allerdings nicht mehr um eine rein taktische Frage, wie bei der Einheitsfront mit der Sozialdemokratie, denn alle Kommunisten erkannten die konterrevolutionäre Rolle der letzteren. Anders, was den Stalinismus anbelangt. Stellt man die Frage auf der Ebene des internationalen Klassenkampfes, dann kommt die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus ebenso deutlich zum Vorschein. Stellt man sie aber im nationalen Rahmen Russlands (und von diesem Rahmen konnte kein russischer Revolutionär absehen, denn das russische Proletariat hatte die Macht nur in Russland erobert und musste sie für den Augenblick in diesem Rahmen gegen den Klassenfeind verteidigen), dann war sie nicht mehr so leicht zu entziffern. In der Doppelrevolution von 1917 war eine demokratische Revolution enthalten, und der Stalinismus hatte zweifellos das Erbe dieser demokratischen Revolution übernommen. Damit war er zugleich ein Bollwerk gegen eine eventuelle Restauration des Regimes der Konstituante (d. h. des Russlands aus der Zeit vor der demokratischen Revolution). Doch ändert auch das nichts an der Tatsache, dass die in den Kampf für die »Demokratisierung der Partei« inbegriffene politische Einheitsfront mit dem stalinschen Ustrjalowismus eine opportunistische TAKTIK war, wie die politische Einheitsfront mit der Sozialdemokratie im internationalen Massstab, und sie muss zu denselben verheerenden Folgen führen.
Es gibt keine andere Erklärung für jene andere Form von »Einheitsfrontpolitik«, die in den tragischen Geständnissen aller Mitglieder der alten Garde im Laufe der ominösen Moskauer Prozesse bestand! Was sonst hätte die Verfolgten (die Bolschewiki) den Verfolgern (den »Ustrjalowisten«), die sie vom Klassenstandpunkt aus so heftig bekämpften, in einer solchen Form ausgeliefert, wenn nicht eben diese objektive gemeinsame Eingliederung in eine einzige Front gegen die Restauration? Der einzige (und tragische) Unterschied besteht darin, dass die »Erpressung mit der Restaurationsgefahr« im Laufe der Moskauer Prozesse von Stalin betrieben wird, während es in der eben zitierten Rede Trotzki ist, der dies versucht!
Trotzki weist in seinen Schriften mehrmals auf diese Aussage Stalins, so u. a. in der »Verratenen Revolution« hin.
Deutscher wird hier als Musterbeispiel für den zeitgenössischen Trotzkismus genommen.
Wir behandeln hier nicht die Frage der »Taktik«, der demokratischen Losungen für die kapitalistischen Länder, die Trotzki hier befürwortet und die von uns abgelehnt wird. Es geht uns hier lediglich um den Beweis, dass die Demokratie nur unter dem Kapitalismus einen Sinn hat.
D. h. dass die Oktoberrevolution geschlagen ist und man sich unter einem reinen, wenn auch wenig entwickelten Kapitalismus befindet.
Eine vulgäre Anwendung des marxistischen Determinismus. Welche Klasse wird da vertreten? Die Bourgeoisie kann es nicht sein, denn sie wurde im Oktober verjagt; die Bauernschaft kann es auch nicht sein, denn der Stalinismus hat zunächst die Kleinbauern gegen die Kulaken ausgespielt und dann diese Kleinbauern mit Gewalt in den Kolchosen zusammengepfercht und einen grossen Teil der Rechnung für die kapitalistische Industrialisierung des Landes bezahlen lassen; das Proletariat kann es noch weniger sein, denn es wird ökonomisch unterdrückt und wurde von der Macht verjagt. Was bleibt dann Übrig? Die »Bürokratie«… Doch war sich Trotzki der Schwäche einer solchen Lösung so bewusst, dass er zugleich energisch bestritt, dass die Bürokratie eine Klasse sei! Unserer bescheidenen Meinung nach war er viel inspirierter, als er von einer bonapartistischen Macht sprach.
Der Übergang von der Politik der »Einheitsfront« mit dem Stalinismus zur Politik der antibürokratischen Revolution hinderte Trotzki nicht daran, weiterhin für die nationale Verteidigung der UdSSR im Falle eines Krieges einzutreten, eine Politik, die er nicht nur bei den Russen, sondern überhaupt beim internationalen Proletariat durchsetzen wollte! Gegebenenfalls hätte dies die Abschwörung des Prinzips aller Prinzipien, nämlich des revolutionären proletarischen Internationalismus bedeutet!
Wenn das 1936 stimmte, So in noch stärkerem Masse dreissig Jahre später! Gerade der Entfesselung dieser »kleinbürgerlichen Appetite«, die bis in den »sozialistischen Sektor« (d. h. die Staatsbetriebe) reichte, entspricht die unter Chruschtschow begonnene »politische Liberalisierung« mit ihrer unfehlbaren Begleitmusik der Glorifizierung des Kapitalismus in der Wirtschaft. Das ist eine sichere Folge der »Dynamik des wirtschaftlichen Aufschwungs« nach dem 2. Weltkrieg, jedoch keineswegs jene »Rückkehr zu Lenin«, die sich die Trotzkisten vorgestellt hatten. Aber derartige Trotzkisten lesen ihren Trotzki ungefähr so, wie die Stalinisten Lenin »gelesen« haben.
Anspielung auf die kommunistische Formel: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«, die von den Stalinisten revidiert und korrigiert wurde in: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Arbeit«, Unter den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion ist der erste Teil dieser »Fassung« eine platte Lüge; der zweite Teil ist ohnehin rein bürgerlich.
Es handelt sich um die stalinistische Partei und den Staatsapparat.
