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LENIN UND DER PARLAMENTARISMUS


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Lenin und der Parlamentarismus
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Lenin und der Parlamentarismus

Wir stimmen vollkommen mit Lenin überein, der in seinem in der Ausgabe Nr. 17 von »Comunismo«[1] veröffentlichten Brief schreibt, dass das grundlegende Programm, das die wahren Revolutionäre aus den Arbeiterkreisen vereinen kann und muss, der Kampf für das Sowjetregime ist. Genau im Zusammenhang mit diesem grundlegenden Problem muss die Frage des Parlamentarismus untersucht werden, nämlich: ob und inwieweit die Teilnahme der Kommunisten an den Parlamenten für diesen Kampf nützlich ist.

Lenin ist in dieser Frage kurz angebunden und verurteilt die Nichtteilnahme entschieden und wiederholt als Fehler, wobei er seine kategorische Aussage mit zwei Episoden der russischen Bewegung untermauert: der Teilnahme der Bolschewiki an der Konstituierenden Versammlung nach dem Sturz des Zarismus und ihrer Teilnahme an der zaristischen Duma. Für uns können diese beiden Episoden nicht gleichgesetzt werden.

Zur Zeit der zaristischen Duma herrschte keine revolutionäre Stimmung, die bürgerliche Macht schien gefestigt, und es gab keine Anzeichen dafür, dass das Proletariat in absehbarer Zukunft die Macht revolutionär ergreifen könnte. Die Vertreter des Proletariats in der Duma kritisierten das bürgerliche System, was anders nicht möglich war, und betrieben revolutionäre Propaganda.

In Russland hat das parlamentarische System in seiner gesamten Entwicklung nie so funktioniert wie in den westlichen Ländern, mit all seinen verhängnisvollen Folgen. Die Bolschewiki brachten in die Konstituierende Versammlung denselben Geist knallharter revolutionärer Opposition ein, der während ihrer Zeit in der zaristischen Duma nicht abgeschwächt werden konnte. Der Wert der revolutionären Erfahrung, den die parlamentarische Tätigkeit während der Konstituierenden Versammlung gehabt hätte, ist zu allgemein dargelegt, und niemand konnte sagen, worin sie bestanden hätte. Andererseits war die Lebensdauer der Konstituierenden Versammlung zu kurz, als dass das Experiment wertvolle Ergebnisse hätte erbringen können.

Die Kommunisten der demokratischen Länder dazu aufzufordern, in den Parlamenten eine Propaganda für die Sowjets zu betreiben, ähnlich der revolutionären und republikanischen Propaganda, die die Bolschewiki in der Duma betrieben haben, bedeutet für uns, in keiner Weise die unterschiedliche historische Periode berücksichtigen zu wollen, in dem der Kampf heute inmitten einer revolutionären Periode stattfindet und sich daher stark von der Periode der Entwicklung und Festigung der bürgerlichen Macht unterscheidet, die gerade durch die Entstehung jenes Parlamentarismus gekennzeichnet war, dessen normales und vollständiges Wachstum durch den plötzlichen Ausbruch des Krieges und die proletarische Revolution verhindert wurde.

Lenin sagt: »Vielleicht ist es nicht leicht, das in diesem oder jenem parlamentarischen Lande sofort zu erreichen« und fügt hinzu: »Aber das ist eine andere Frage.«[2] Nein, leider ist das genau der Punkt. Wenn wir über Parlamentarismus diskutieren, dann nicht aus Liebe zu abstrakten Theorien, sondern einzig und allein, weil es für uns eine dringende taktische Frage ist, da wir uns eben in einem der parlamentarischen Regime befinden, in denen die bürgerliche Demokratie, wie Lenin so treffend sagt, »ausgezeichnet gelernt [hat], zu heucheln und das Volk mit Tausenden von Methoden zu betrügen, wobei sie den bürgerlichen Parlamentarismus als ›Demokratie schlechthin‹ oder als ›reine Demokratie‹ und dergleichen mehr ausgibt.«[3]

Mit dieser Überbewertung der parlamentarischen Funktion hat die bürgerliche Demokratie in diesen Ländern überall ihren grössten Verbündeten in den sozialistischen Parteien gefunden – und findet ihn auch noch heute – welche sich hartnäckig und beharrlich im Parlament eingesetzt haben, um den arbeitenden Massen einige Vorteile zu verschaffen und sie zu vollkommenem Vertrauen in die ausdauernde Arbeit, die sie in ihrem Interesse geleistet haben, erzogen.

Noch heute misst die italienische sozialistische Partei (ohne Berücksichtigung des grossen sozialdemokratischen Blocks, den sie bewusst in ihren Reihen behält und der entschieden gegen das Sowjetregime ist), obwohl sie sich mehrheitlich als maximalistisch, kommunistisch usw. bezeichnet, der parlamentarischen Arbeit grösste Bedeutung bei und ordnet ihr jede andere politische Aktion unter.

In diesen Ländern kann die Vorbereitung auf die Diktatur des Proletariats, die der bürgerlichen Demokratie so zutiefst entgegengesetzt ist, nicht ohne intensive Arbeit erfolgen, die darauf abzielt, in der Masse alle Illusionen zu zerstören, die sie in die Demokratie hegt und die ihr gerade von den sozialistischen Parteien eingeimpft wurden; und diese Arbeit kann nicht geleistet werden, ohne mit der Tradition zu brechen und die Methoden der Demokratie selbst aufzugeben. Das Hindernis für die revolutionäre Vorbereitung und den revolutionären Geist der Massen aufgrund der langen demokratischen Erziehung ist enorm, und die Schwierigkeiten, es zu überwinden, stehen in direktem Verhältnis zu ihrer Dauer und erfordern einen Grossteil der Energie, die der Parlamentarismus ohne jeden Nutzen absorbiert.

Ganz zu schweigen davon, dass die Wahlenthaltung auch dazu dient, die Partei von opportunistischen Karrieristen, die sich in guter oder böser Absicht darin eingenistet haben, und von Demagogen zu befreien. Die lange und komplexe Erfahrung der parlamentarischen Länder ist hinsichtlich der revolutionären Möglichkeiten parlamentarischer Massnahmen durchweg negativ wohingegen sich die Gefahren hinsichtlich einer sozialdemokratischen Abkehr, einer Kollaboration usw. bestätigen. Gegen diese Erfahrung kann die Behauptung Lenins, so massgeblich sie auch sein mag, allein nicht ausreichen, wenn sie nicht durch Erfahrungen oder überzeugende Argumente untermauert wird.


Notes :
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  1. Unter dem Titel »Una parola sul parlamentarismo« (»Ein Wort zum Parlamentarismus«) wurden ein Brief (vom 16. 7. 1919) von Sylvia Pankhurst an Lenin und dessen Antwort (vom 28. 8. 1919) in der italienischen Zeitschrift »Comunismo«, (Nr. 17, Mailand 1920, S. 1163–1170) abgedruckt. Dieser Briefwechsel wurde auch auf Deutsch in der Zeitung »Die Kommunistische Internationale« Nr. 4/5, S. 91–98, unter dem Titel »Der Sozialismus in England (Ein Beitrag zur Frage des Parlamentarismus)« veröffentlicht. Der Name Sylvia Pankhurst taucht in keiner der beiden Veröffentlichungen von 1920 auf. Lenin hatte aber Sylvia Pankhurst persönlich geantwortet. (siehe: Lenin, »Werke«, Bd. 29, S. 553–559.)

  2. Lenin, »Werke«, Bd. 29, S. 557.

  3. Lenin, »Werke«, Bd. 29, S. 553.


Source: »Il Soviet«, №18, 11 Juli 1920
Übersetzt aus dem Italienischen 07/2025 sinistra.net

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