Wir halten es für möglich, dass die Internationale dem Opportunismus verfällt. Dabei achten wir darauf, Möglichkeit nicht mit Gewissheit zu verwechseln, auch nicht mit einer grösseren oder geringeren Wahrscheinlichkeit. Es erscheint uns absurd anzunehmen, dass irgendeine Internationale – selbst eine nach unseren eigenen Rezepten gebildete, die häufig Gegenstand hämischer Ironie ist – auf geheimnisvolle Weise oder durch im Voraus festgelegte Garantien eine Art Versicherung gegen die Gefahr opportunistischer Abirrungen besitzen könnte. Die glorreichsten und glänzendsten historischen Vorbilder reichen nicht aus, um eine Bewegung, auch und gerade eine Bewegung der revolutionären Vorhut, gegen die Möglichkeit eines Revisionismus im Inneren abzusichern.
Wir sehen auch keine schwerwiegenden Nachteile in einer übertriebenen Besorgnis gegenüber der opportunistischen Gefahr. Gewiss sind Kritisiererei und Alarmismus als Sport höchst bedauerlich; aber selbst wenn sie – anstatt der präzise Ausdruck zu sein von etwas, das nicht gut läuft, und der Vorahnung schwerwiegender Abweichungen, die sich anbahnen – das blosse Produkt von Grübeleien von Parteimitgliedern wären, so ist sicher, dass sie die Bewegung keineswegs auch nur im Geringsten schwächen werden und sich leicht überwinden lassen. Wohingegen die Gefahr äusserst schwer wiegt, wenn, wie es leider in vielen früheren Fällen geschehen ist, sich die opportunistische Krankheit ausbreitet, bevor sich irgendjemand getraut hat, entschieden Alarm zu schlagen. Eine fehlerlose Kritik richtet nicht tausendmal soviel Schaden an wie ein kritikloser Fehler.
Es erscheint uns, dass die Haltung und die Mentalität, mit der die Einwände der italienischen Linken gegen die von den Führern der Internationale verabschiedeten Direktiven aufgenommen werden, eine sehr seltsame Widersprüchlichkeit offenbaren bezüglich der Leugnung der Existenz einer opportunistischen Gefahr, um die man sich kümmern muss.
So wird polemisiert: Die Linke sagt, die Internationale irrt. Die Internationale kann nicht irren; also liegt die Linke falsch. Als gute marxistische Nicht-Philister, die weder Bürokraten sind noch sich zu solchen machen, müsste die Sache so dargestellt werden: Die Linke sagt, die Internationale irrt. Aus den Gründen a, b, c, die mit dem angesprochenen Problem zusammenhängen, zeigen wir, dass vielmehr die Linke selbst im Irrtum ist. Das beweist, dass die Internationale einmal mehr keine Fehler gemacht hat und auf dem richtigen Weg ist.
Doch keiner der angeblichen kompromisslosen Verteidiger der Internationale, die diese systematisch mit ihrem Führungskomitee verwechseln, ist bereit, die Anstrengung zu unternehmen, einen positiven und aktiven Beitrag zur Ausarbeitung der Direktiven zu leisten, deren Richtigkeit sie befürworten. Anstatt die Internationale zu stützen, lassen sich die vermeintlichen Orthodoxen von ihr stützen, und bürden ihr die ganze Last ihrer Verantwortung und ihrer Fehler auf, bringen sie ins Spiel und kompromittieren sie ohne Zögern, sobald sie sich in schwierigen Situationen befinden. Das ist umgekehrter Internationalismus. Diese Methode wird offenkundig durch die grössere Leichtigkeit und Bequemlichkeit gerechtfertigt, die es für den unmittelbaren Erfolg bringt, Sympathien für einige Institutionen und Namen zu nutzen, die auf eine Weise gebraucht werden, die frei ist von jeglicher Lebendigkeit, von einer echten und grosszügigen Solidarität, die geben will und nicht nehmen, die Kraft dessen, was sie zu unterstützen vorgibt, vermehren will und nicht verbrauchen. So hören wir immer wieder, wie viele uns die Internationale, die russische Revolution, den Leninismus, den Bolschewismus vorwerfen, obwohl sie mit diesem grossartigen Zusammenschluss historischer Kräfte nichts anderes zu tun haben als ein Anhänger mit einem Motor – um nicht das Bild des Parasitismus zu verwenden.
Wir üben an diesem System keine moralische Kritik. Wir weisen lediglich darauf hin, dass es uns mit einer revolutionären Methode unvereinbar erscheint. Und tatsächlich – selbst wenn es zutrifft, dass es eine bestimmte Schicht von Genossen und bereits gewonnenen Anhängern gibt, denen eine solche Art des Argumentierens den Mund verschliesst – auch wenn sie bei jedem Einsatz dieser Methode zugleich einen kleinen Schritt weiter in den Zweifel von morgen gedrängt werden – handelt es sich ausserhalb dieses bereits überzeugten Kreises vielmehr darum, diejenigen zu gewinnen, zu überzeugen und zu mobilisieren, für die der Rückgriff auf unsere Texte, Beschlüsse und internen Traditionen keinerlei Autorität besitzt, die uns mit Misstrauen betrachten und die wir mit positiven Argumenten und Mitteln vom Misstrauen zum Vertrauen führen müssen. Das ist die grundlegende Aufgabe einer revolutionären Partei, und umso mehr für jene, die lautstark verkünden, die Massen gewinnen zu wollen. Nun, gerade die Art und Weise, mit der die Elemente des heutigen internationalen und nationalen Generalstabs sich kurzerhand unserer Ansichten entledigen wollen, lässt uns an ihrer Fähigkeit zweifeln, das kommunistische Programm und die Direktiven über die Partei hinaus zu verbreiten. Eine revolutionäre Bewegung muss Tag für Tag massenhaft stagnierende Meinungen in Bewegung setzen, und aus diesem Grund muss sie täglich, sozusagen, ihre Thesen auf die Strasse tragen, um die Wahrheit zu beweisen.
Nur eine konservative Partei kann das Gegenteil tun und eifersüchtig auf ihr Erbe an Prinzipien bedacht sein, im Sinne, diese zu respektieren, sich aber gleichzeitig davon befreit zu fühlen, diese mit irgendjemandem im Widerspruch zu diskutieren. Die historischen Beispiele sind so offensichtlich, dass man sich sparen kann, sie anzuführen: Eine schonungslose Selbstkritik hat alle Parteien ausgezeichnet, die eine wirkliche Phase revolutionärer Fruchtbarkeit und Ausdehnung ihrer Schlagkraft durchliefen.
Dies gilt dann besonders für den revolutionären Marxismus, der jede Metaphysik und alles Apriorische zurückweist, um die Gültigkeit seiner Prinzipien auf die Dialektik eines wirklichen, permanenten Beweises durch Geschichte und Praxis zu stützen.
Wenn dann vom Leninismus geschwätzt wird, als wäre es ein System, dessen Gegner wir per Definition wären, und man uns unter der Fraglosigkeit der Namen dieses Systems ersticken will, dann wird der Widerspruch noch skandalöser. Tatsächlich ist das, was am Leninismus mancher am meisten beunruhigt, die Tendenz zur Wandelbarkeit, zu kühnen Wendungen, die Leichtigkeit, mit der gesagt wird: »Es ist immer erlaubt, heute an allem zu zweifeln, was wir gestern für ganz gewiss hielten.« In dieser Debatte sind wir die sogenannten Dogmatiker, wir, die wir eine – rationale und dialektische – Bewahrung bestimmter Fixpunkte in der Methode fordern; und stattdessen wird uns seit Jahren geantwortet, indem man sich sehr entfernt an das hält, was tatsächlich Lenins Denkweise entsprach (aber mit ganz anderen Garantien gegen jede Verschlechterung), nämlich dem Grundsatz: Morgen früh ist nichts ausgeschlossen, was richtig zu sagen oder zu tun sein könnte. Nun, genau diejenigen, die sich auf Lenin berufen und ihm ein eigenes posthumes System zuschreiben wollten, wollen dieses zu einem unantastbaren und unveränderlichen Dogma erheben. In Wirklichkeit improvisieren und schlingern sie weiter, wollen sich aber nur gegen jeden Einwand und jede Kritik absichern, das Recht monopolisierend, zu sagen, dass sie so handeln, weil sie treue Anhänger des authentischen Leninismus sind, unter dessen Fahne wer weiss was wir noch alles vorbeiziehen sehen werden. Ihre Rigidität im leninistischen System ist ein Artikel für den internen Gebrauch. Lenin wurde seine Widersacher mit einer gegenteiligen Methode los, die auf Realität und nicht auf Autorität, auf gelebtem Leben und nicht auf Verweisen auf irgendein Evangelium beruhte. Genosse Perrone stellt die Frage einfach und klar, wenn er sagt, dass alles, was die Führer der Internationale sagen und tun, Gegenstand unserer Forderung nach dem Recht auf Diskussion ist, und diskutieren bedeutet, zweifeln zu dürfen, ob gesagt und getan wurde, was falsch ist – unabhängig von jeglicher Vorrangstellung, die Gruppen, Personen und Parteien zugeschrieben wird. Geht es darum, die heilige Apologie der Gedanken- und Kritikfreiheit als individuelles Recht zu wiederholen? Nein, natürlich nicht, es geht darum, die natürliche Funktions- und Arbeitsweise einer revolutionären Partei festzulegen, die erobern muss und nicht vergangene Errungenschaften bewahren, die Gebiete des Gegners durchdringen muss und nicht die eigenen mit Schützengräben und Sperrgürteln abschliessen darf.
In der Denkweise, die sich unter den leitenden Kräften unserer Bewegung allmählich durchsetzt, beginnen wir die wahre Gefahr des latent vorhandenen Defätismus und Pessimismus zu erkennen. Statt mutig gegen die Schwierigkeiten vorzugehen, die in dieser Zeit die kommunistische Aktion umgeben, statt die vielfältigen Gefahren mutig zu diskutieren und vor ihnen die lebenswichtigen Gründe unserer Lehre und Methode neu zu begründen, wollen sie sich in einem unantastbaren System zurückziehen. Ihre grosse Befriedigung besteht darin, mit grosszügiger Hilfe von »er hat schlecht über Garibaldi gesprochen«[1], durch Untersuchungen der angeblichen, noch nicht offenbarten Gedanken und Absichten, festzustellen, dass Hinz und Kunz gegen das auf ihrem Notizblock geschriebene Rezeptbuch verstossen haben, um danach zu rufen: »Sie sind gegen die Internationale, gegen den Leninismus.« Ein schönes Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie ein Artikel über meine Äusserungen in einer Parteiversammlung fabriziert wurde, die der Autor nach Belieben zitierte und in Anführungszeichen setzte. Aber lassen wir das alles beiseite; das Seltsame ist, dass der Ausgangspunkt zum Endpunkt wird: Selbst wenn ich gegen den Leninismus bin – steckt die Verteidigung des Leninismus dahinter![2] Für die Widersacher hingegen ist alles vorbei: Sie haben einmal mehr die grossen Flügel des Namens Lenin benutzt, um sich darunter vor ihrer Armseligkeit zu verbergen, und sind zufrieden. Was sollten wir nun sagen, wenn sich eine solche Methode verallgemeinert?
Wir sollten sagen, dass wir trotz all dem Gerede über Strategien, Manöver und die Eroberung der Massen in Wirklichkeit nicht die Kraft verspüren, unseren Einfluss auszuweiten, und dass wir unser Ziel darauf reduzieren, die bereits gewonnenen Anhänger zu halten, wobei wir nicht zögern, die Bewegung zu zerschlagen, wenn Initiativen zur Diskussion und Kritik entstehen.
Das wäre das wahre, schlimmste Liquidatorentum in der Partei und der Internationalen, begleitet von allen charakteristischen und wohlbekannten Erscheinungen des bürokratischen Spiessertums. Das Symptom davon ist der blinde Optimismus der Bürokratie: Alles läuft gut, und wer es wagt zu zweifeln, ist nur ein Störenfried, den man so schnell wie möglich loswerden will. Wir wenden uns gegen diese Entwicklung, gerade weil wir voller Zuversicht in die kommunistische Sache und in die Internationale sind und es ablehnen, dass sie sich darauf beschränken sollte, ihren Bestand an Stärke und politischem Einfluss auf leichtfertige Weise abzunutzen.
Zu dem, was wir gesagt haben, könnte man eine Einwendung organisatorischer Art machen: Es mag richtig sein, dass wir im Gespräch mit Gegnern oder mit jenen, die noch nicht von unserem politischen Glauben überzeugt sind, als Diskussionsgrundlage unser ganzes Ideenarsenal auf den Seziertisch des Zweifels legen müssen, aber wenn wir dies in der gesamten internen Parteiarbeit tun wollten, würde ihre organisatorische und disziplinarische Solidität zum Teufel gehen. Die Einwendung hat keine Substanz. Zunächst sagen wir nicht, dass Diskussionen – wie die aktuelle vor dem Kongress – immer und überall geführt werden müssen. Es ist durchaus zulässig, dass in einer Partei wie der unseren für mehr oder weniger lange Zeiträume jede Kritik unterbunden wird, und ausserdem ist Disziplin in der Praxis immer notwendig. Aber wenn die Diskussion so geführt wird, wie sie in allen Sektionen der Internationale ziemlich häufig geführt werden, und zwar viel häufiger als in unserer Partei, wie jeder weiss, dann vertreten wir die Auffassung, dass sie, um nützlich und nicht vergiftend zu sein, nach dem von uns verteidigten Kriterium stattfinden müssen. Und schliesslich kann man, besonders nicht seitens derjenigen, die so breite organisatorische Grundlagen für die Partei fordern, eine starre Trennung zwischen der Propagandaarbeit unter Genossen und der unter den Massen aufrechterhalten. Es ist töricht, den Genossen, den wir in die Fabriken und an andere Orte schicken wollen, um Arbeiter anderer Parteien oder parteilose Arbeiter zu überzeugen, daran zu gewöhnen, alle Diskussionen, die man durch die interne politische Arbeit der Partei erlernen muss, mit einem einfachen »So hat es unser Exekutivkomitee gesagt« oder »So steht es im Programm meiner Partei« abzuwürgen. Jede Propaganda und Agitation würde durch eine solche Erziehung unserer Genossen vereitelt werden.
Unsere Stellungnahme gegen die Bolschewisierung und gegen die Zellen hat enormes Aufsehen erregt. Der aufbauschende Versuch, uns skandalöse Auffassungen über die Frage des Wesens der Partei und über die Rolle der Intellektuellen zuzuschreiben, kann, angesichts der klaren Antworten unserer Genossen von der Linken, als gescheitert betrachtet werden. Auch in Bezug auf die Zellen wurde die Sache klargestellt; unsere Position lässt sich folgendermassen zusammenfassen: Die Organisationsform der Partei kann für sich genommen weder ihren politischen Charakter gewährleisten noch sie vor opportunistischen Entartungen schützen. Es ist also nicht richtig zu sagen, dass die territoriale Basis die sozialdemokratische Partei definiert und die Betriebsbasis die kommunistische. Die Basis der Betriebszellen, die im zaristischen Russland nützlich war und nachher nicht aufgegeben werden sollte, halten wir in Ländern des fortgeschrittenen Kapitalismus mit bürgerlich-demokratischem politischem Regime nicht für angebracht (meine alte und von ich weiss nicht wem wieder hervorgeholte Studie über die sozialen und politischen Kräfte in Italien soll verdeutlichen, warum für uns der Faschismus keine Ausnahme vom bürgerlich-demokratischen Regime darstellt). Es handelt sich um andere Betriebszellen, von denen in den Thesen des II. Kongresses die Rede ist, von denen die Dokumente der kommunistischen Fraktion vor Livorno sprechen, von den Ordinovisten und uns einvernehmlich verfasst; über diese wurde allein in den Polemiken gegen die gewerkschaftliche Taktik des Maximalismus gesprochen, die in der Anfangszeit von unserer Partei vollständig verwirklicht wurden, die sich bestens bewährten und denen auch heute das Gute zuzuschreiben ist, das die berühmten Zellen dort leisten, wo es sie gibt. Die unscheinbarsten Mitglieder der Partei haben den Trick erkannt, den unsere Gegner in dieser Hinsicht versucht haben.
Wir sind nicht gegen die Zellen, nicht einmal in der Form von Gruppen von Parteimitgliedern in den Betrieben mit bestimmten Aufgaben; wir fordern lediglich, dass das territoriale Netz nicht abgeschafft wird und und dass es als grundlegendes Netzwerk für die politische Tätigkeit der Partei betrachtet wird, als organisatorischer Rahmen und Instrument zur Einflussnahme in den proletarischen Bewegungen, zusammen mit denen in Fabriken, Gewerkschaften, Körperschaften usw.
Gehen wir aber ein wenig weiter in dieser Angelegenheit der Bolschewisierung und präzisieren wir unser offenes Misstrauen ihr gegenüber. Insofern sie sich konkretisiert in der Organisation nach Zellen, überragt von einem allmächtigen Netz von Funktionären, ausgewählt nach dem Kriterium des blinden Gehorsams gegenüber einer Rezeptsammlung, die sich als Leninismus ausgeben will; in einer taktischen Methode und politischen Arbeitsweise, die sich einbildet, das Höchstmass an Ausführungstreue gegenüber den unerwartetsten Anweisungen zu verwirklichen; und in einer historischen Auffassung der weltweiten kommunistischen Aktion, in der das letzte Wort stets in den Präzedenzfällen der russischen Partei liegen soll, interpretiert von einer privilegierten Gruppe von Genossen – wir sind der Auffassung, dass diese Bolschewisierung nicht einmal ihre eigenen Ziele erreichen und die Bewegung schwächen wird. Wir beurteilen sie als eine verfehlte Reaktion auf den wenig günstigen Erfolg vieler taktischer Experimente der vorherrschenden Methode – Experimente, die gegen unsere Kritik innerhalb der Internationale durchgesetzt wurden. Statt mit mutigeren Mitteln scheint man diesen Missständen mit dieser Bolschewisierung abhelfen zu wollen, die, ohne eine Stärkung zu sein, eine Art Kristallisierung und Erstarrung der kommunistischen revolutionären Bewegung und ihrer spontanen Initiativen und Energien bleiben wird. Der Prozess ist umgekehrt: Die Synthese (zu den Waffen…!) geht ihren Elementen voraus; die Pyramide, statt sich sicher auf ihrer Basis zu erheben, wird umgestülpt, und ihr höchst instabiles Gleichgewicht ruht auf ihrer Spitze.
Der Kontakt mit den Massen und das intensive Ausgeben der Losungen, wie es durch das neue System gewährleistet wird, sind Floskeln, auf die – mehr als eine theoretische Abhandlung – die Erfahrungen der Genossen an der Peripherie antworten können.
Meistens dreht sich die Partei um sich selbst, ohne irgendetwas zu verwirklichen; all das gilt aus bürokratischer Sicht dennoch als Erfolg, und das genügt. Wir sind beispielsweise nicht gegen die Gründung von Arbeiter- und Bauernkomitees, wenn diese kein Block von Parteien sind und nicht vorgeben, Sowjets zu sein, sondern Initiativen der Einheitsfront der Arbeiterklasse, die von unten und auf der Grundlage wirtschaftlicher und natürlicher Organismen des Proletariats entstanden sind. Wir sind hingegen gegen ihre Bildung, wenn sie mit einem unglaublichen Missbrauch leerer Literatur um sie herum einhergeht und wenn es sich um ein Manöver zwischen politischen Parteien handelt.
Alles Vorhergehende kann als sehr allgemein betrachtet werden. Wenn wir nun zum Konkreten kommen, versuchen wir, eine authentische Darstellung der Tragweite unserer Meinungsverschiedenheit mit der Internationale zu geben.
Wir haben keinerlei Einwände gegen das Programm der Internationale, verstanden nicht nur im historischen und theoretischen Sinn, sondern auch als genaues Dokument, das von Bucharin ausgearbeitet und vom V. Kongress verabschiedet wurde.[3] Aus diesem gewichtigen Dokument hätten wir lediglich zwei oder drei unwesentliche Zeilen zur Frage der taktischen Manöver gestrichen, nur weil es uns angebracht erschien, diese an separater Stelle zu behandeln.
Man sagt uns, dass der Kern der Lehre der Internationale der Leninismus sei und dass dies ein System sei, von dem wir uns grundlegend entfernen.
Zunächst einmal ist es reizvoll, dass die Ordinovisten eingestehen, der Leninismus sei eine vollständige Weltanschauung und nicht nur eine Theorie des proletarischen Revolutionsprozesses. Sehr gut; aber wie lässt sich damit die Zustimmung der führenden Ordinovisten zur idealistischen Philosophie vereinbaren, zu einer Weltanschauung, die nicht Marx und Lenin, sondern den Neohegelianern und Benedetto Croce eigen ist? Soll es etwa wahr sein, dass Meinungsverschiedenheiten mit der Internationale nur dann schuldbehaftet sind, wenn sie offen bekundet werden, und tolerierbar, wenn sie verborgen bleiben? Uns scheint vielmehr, dass gerade aus den bewusst verborgenen, aber nicht überwundenen Meinungsverschiedenheiten, trotz des vielgerühmten Eingeständnisses eines Irrtums, die eigentliche Gefahr erwächst: die regelrechte Brutstätte des Opportunismus von morgen. Lenin hat grundlegende Werke gegen den sogenannten idealistischen Kommunismus geschrieben; aus dem Mund Sinowjews selbst sind kürzlich Bannflüche gegen moderne Versuche dieser Art gekommen, die als sicheres Anzeichen einer opportunistischen Gefahr bezeichnet wurden (Sinowjew zufolge ist Opportunismus immer möglich, und wenn er auftreten wird, wird er gemeinsam mit mir in der… linken Fraktion sein: das ist Polemik, aber eine Polemik, sagen wir, die etwas mehr… bolschewistisch ist). Aber der Ordinovismus fährt unerschütterlich fort, Croce zu benutzen, eine regelrechte (Achtung!) neapolitanische Schule[4] in philosophischen Fragen zu gründen und gleichzeitig den Leninismus als System und Weltanschauung zu verteidigen! Und man bedenke, dass einer unserer Widersacher[5] entschieden zum Ordinovismus überging, just in dem Moment, als er, wie er uns sagte, sich Croce annäherte. Endpunkt: B. Croce, Ausgangspunkt: Andria, grosses Zentrum des… Aostatals:[6] Kann man besser qualifiziert sein, um gegen den Kommunismus neapolitanischer Prägung zu donnern? Dass wir zeigen werden, dass es sich um Kommunismus nach antineapolitanischer Art handelt, so wie der Kommunismus Lenins Kommunismus nach antirussischer Art war?
Grundlage unserer Bewegung ist ein theoretisches System, das eine vollständige Weltanschauung darstellt: Es handelt sich um den Marxismus, den historischen Materialismus, der in Lenin seinen mächtigsten Verfechter gefunden hat. Es ist nicht notwendig, und es wäre Lenin umso weniger notwendig erschienen, ihn Leninismus zu nennen. Aber wie war Lenins Verhältnis zu diesem System? Wäre er dessen Revisionist gewesen, liesse sich der Begriff »Leninismus« erklären, doch er kämpfte erbittert gegen die Revisionisten verschiedenster Richtungen und stritt ihnen mit gewaltigen Schlägen das Recht ab, den Namen und die Tradition des Marxismus zu verwenden. Er verteidigte seine Orthodoxie sowohl mit Argumenten aus der lebendigen Geschichte als auch mit einer kraftvollen Exegese des Werks der Meister, die bis ins Detail ging und jede Nuance, bis hin zu den letzten Zeilen der Texte, auslotete, um den Inhalt der Bestätigungen, die die Geschichte für die vorherige Sichtweise lieferte, zu untersuchen.
In meinem Vortrag über Lenin (wohl deshalb nicht in Russland veröffentlicht, wo man offenbar der Ansicht ist, Lenin sei nicht gross genug, um auf eine vorbeugende Revision dessen zu verzichten, was nicht aus der Feder eines Lobhudlers stammt) habe ich mein Urteil über sein Werk präzisiert. Zunächst tritt er als Restaurator des Marxismus auf dem Gebiet der Theorie und des politischen Programms hervor, also als Wiederhersteller der Auffassung vom emanzipatorischen Prozess des Proletariats. Dann als Reorganisator der internationalen proletarischen Bewegung auf revolutionärer Basis und als grossartiger Vollender des ersten grossen revolutionären Sieges in Russland, in dessen Verlauf eine vollständige Eingliederung der von ihm restaurierten marxistischen Auffassungen stattfindet.
Wir haben dann in Lenin den Vollender, in ganz wichtigen Teilen, des Marxismus. Seine Interpretation der imperialistischen Phase des Kapitalismus, seine Formulierung der agrarischen und nationalen Frage, die von uns akzeptiert werden (und, wenn man es genau nehmen will, im Wortlaut des Programms von Bucharin, wie ich bereits sagte), sind grundlegende Beiträge zur Entwicklung der marxistischen Methode und des Systems, die er Schritt für Schritt wieder an die expliziten Aussagen von Marx und Engels in diesen Fragen anknüpft, überprüft und ergänzt aus der Summe der späteren Ereignisse. Wer es für notwendig hält, die Kritik etwa an den jüngsten Phasen des Kapitalismus nicht mehr als Marxismus, sondern als Leninismus zu bezeichnen, lässt durchscheinen, dass Lenin darin einige historische und ökonomische Thesen von Marx verändert habe, und kann Graziadei nicht als Revisionisten bezeichnen, wenn dieser aus den Merkmalen der neuen Phase eine Widerlegung grundlegender ökonomischer Theorien im »Kapital« ableiten will.
Wir sehen daher keine Notwendigkeit, den Namen unseres doktrinären und politischen Systems von Marxismus in Leninismus zu ändern, aber wir werden sicherlich keine Wortklauberei betreiben. Sobald die Identität zwischen beiden – auf der Grundlage der Überzeugungen Lenins selbst und von niemand anderem – feststeht, können wir sie unterschiedslos verwenden.
Wenn man unter Leninismus versteht, alles als wahr anzuerkennen, was diejenigen behaupten, die sich als die wahren und grössten Leninisten ausgeben, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu lächeln. Wir behalten uns das Recht vor, zu glauben und zu beweisen, dass viele der Meinungen der etikettierten Leninisten höchst antileninistisch und antimarxistisch sind.
Wenn man unter Leninismus versteht, auf jede und jegliche Äusserung Lenins während seines Lebens zu schwören, dann können wir auch dem nicht zustimmen. In vielen Fällen würdet ihr uns literarische Texte von Lenin zeigen, und wir würden ruhig eine andere Meinung verkünden. Das habe ich nur betont, um auf die dumme Behauptung zu antworten, dass wir Linke den Tod Lenins abgewartet hätten, um die kritische Offensive gegen die Internationale zu eröffnen. Wir haben Lenin zu Lebzeiten diskutiert und kritisiert, und von vielen seiner Gegenargumente sind wir bis heute keineswegs überzeugt. Doch das nimmt uns nicht das Recht, zu sagen, dass wir, trotz dieser ehrlichen Meinungsverschiedenheiten, viele Initiativen und Direktiven der Internationale nach Lenins Tod für weit entfernt von seinem Denken und seiner Methode halten. Und vor allem bekräftigen wir das Recht, es abzulehnen, den Grossteil der Gedankengebilde unseres ordinovistischen Zentrismus als »leninistisch« zu bezeichnen. Lenin akzeptierte die Thesen des »Ordine Nuovo« von 1920 insofern, als sie im Wesentlichen die gemeinsame Kritik am opportunistischen Maximalismus enthielten, und sie wurden von der Turiner Sektion übernommen, die mehrheitlich aus Abstentionisten bestand. Und es war nur durch unser energisches Drängen, dass der Ordinovismus schliesslich die leninistische These von der Trennung der italienischen Partei von den Reformisten begriff: Bis nach dem Kongress von Bologna[7] rief er noch zur Einheit der Partei mit Bordiga und Turati auf. Nicht wir waren es, die gemeinsame Aktionen, für die wir alles geopfert haben, ablehnten, sondern die heutigen Zentristen wiesen in Bologna (Oktober 1919) unseren Vorschlag zurück, auf die vorweg aufgestellte Bedingung des Antiparlamentarismus zu verzichten, unter der Voraussetzung, dass sie ihrerseits die Frage der Ausweisung der Reformisten aus der Partei zur Sprache bringen würden. Lenin erkannte – auch wenn er unseren Antiparlamentarismus ablehnte – in den Thesen der Ordinovisten das wieder, was wir sie gezwungen hatten zu lernen und was sie, wenn auch mit erheblicher Verspätung, wiederholten.
Nachdem klargestellt ist, dass der Ordinovismus ein System ist, das weder marxistisch noch leninistisch ist und zahlreiche Gefahren von Abweichungen von den Richtlinien der Partei in sich birgt, bleiben wir beim Thema der tatsächlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen uns und Lenin.
Seine taktische Position, wie sie im Buch über die Kinderkrankheit des Kommunismus[8] dargelegt ist, wird von uns im Wesentlichen geteilt. Wir waren niemals Blanquisten oder Putschisten, noch Anhänger ästhetischer Posen bei der Lösung der Fragen marxistischer Aktion. Dies wurde klar in den Artikeln von 1922 gesagt. In der Haltung unserer Delegation auf dem III. Kongress gab es zum Teil einen Misston, der auf die grosse Neigung eines der heutigen Zentristen zurückging, improvisieren zu wollen – und es wäre gut, wenn er endlich die Verantwortung dafür übernähme. In den »Römer Thesen« findet sich keine Spur der Offensivtheorie, um die auf dem III. Kongress gestritten wurde und die von Lenin scharf kritisiert wurde. Das nur der reinen Wahrheit zuliebe, denn auch ich bin von Lenin scharf kritisiert worden, aber überzeugt hat er mich nicht.
Wir halten Lenins taktische Methode für nicht ganz treffsicher, insofern sie keine Gewähr bietet gegen Anwendungsmöglichkeiten, die zwar oberflächlich getreu erscheinen, den tiefen revolutionären Zweck aber verlieren, der allem, was Lenin sagte und tat, stets zugrunde lag. Wir betrachten bestimmte Verallgemeinerungen russischer taktischer Erfahrungen als zu universell, da sie auf Situationen ausgeweitet werden, bei denen Schwierigkeiten hinzukommen, die es dort nicht gab, wie das demokratische Regime und die langjährige demokratische Vergiftung des Proletariats. Auf der Konferenz sagte ich, dass Lenin uns das Problem der Taktik nicht so gelöst und gefestigt hinterlassen habe wie das der Doktrin: Dieses Problem ist noch offen, das heisst, dass es weitere Erfahrungen und Fehler durchlaufen wird. Dennoch behaupten wir, dass die taktische Lösung, die Lenin stets fand, obwohl sie Entwicklungen durchlief, die uns riskant erschienen, niemals vom Boden der Prinzipien abwich, was bedeutet, dass sie nicht im Widerspruch zu den revolutionären Endzielen der Bewegung stand.
Eine sorgfältige Untersuchung der letzten Äusserungen Lenins, sofern dies anhand der Quellen möglich wäre, würde uns vielleicht zu dem Schluss führen, dass er dazu neigte, das grosse Tor der taktischen Freiheit nach und nach zu schliessen. Wiederholt schrieb er, dass er auf dem III. Kongress einen Fehler begangen habe, indem er mehr auf die Linke eingehauen habe als auf die Rechte, eine Gefahr, die für ihn nach wie vor bestand. Die Taktik, die auf der Konferenz der Drei Internationalen[9] verfolgt wurde, verärgerte ihn ein wenig. Ich habe aus unbestreitbaren Quellen erfahren, dass er die vom IV. Kongress befürwortete Fusion mit der maximalistischen Partei nicht befürwortete. Aber diese Details könnten Spekulation sein, und ich lasse sie beiseite, um zu behaupten, dass man nach Lenin von der gesunden kommunistischen Taktik abgewichen ist; und das zeigt, dass es einen anfänglichen teilweisen Fehler in den taktischen Richtlinien gab, die Lenin auf internationaler Ebene ausprobieren wollte.
Worin also liegt unsere Meinungsverschiedenheit mit der derzeitigen Taktik der Führer der Internationale? Zur Zeit der Artikel vom Anfang des Jahres 1922 behauptete ich entschieden, dass die Festlegung der Taktik innerhalb der Grenzen der kommunistischen und marxistischen Prinzipien bleiben müsse. Später jedoch sahen wir Linken uns gezwungen in anderen konkreten Punkten, wenn auch innerhalb der Grenzen eines gemeinsamen revolutionären Ziels, unsere Kritik weiter voranzutreiben.
Mancher, der diese damalige Aussage verallgemeinern möchte, war wie ich und noch härter als ich im Pessimismus späterer Epochen. Ich will es nicht zur Frage von Namen machen oder mich daran vergnügen, gewisse Widersacher persönlich blosszustellen. Ich gehe weiter, in der Überzeugung, dass wir, als wir mit der Formel der Arbeiterregierung konfrontiert wurden, klar erklärten, dass es sich nicht mehr nur um eine unzweckmässige und wenig ergiebige taktische Lösung handelte, sondern um einen echten Widerspruch zu unserer marxistischen und leninistischen Lehre; und zwar konkret zu der Auffassung vom Befreiungsprozess des Proletariats, denn hier wurde die illusorische Möglichkeit von, sei es auch nur teilweise, friedlichen und demokratischen Lösungen eingeführt. Man antwortete uns, dass wir uns irren würden, es würde sich nicht etwa um eine andere historische Möglichkeit oder eine grundlegende politische Lösung der Frage des Staates und der Macht handeln, sondern lediglich um einen Ausdruck in der Agitation für das berühmte Synonym der Diktatur des Proletariats.
Nach den wohlbekannten deutschen Fehlschlägen der Taktik der Arbeiterregierung und der politischen Einheitsfront,[10] wo es sich in der Auffassung derjenigen, die sie anwendeten – sowohl in Berlin als auch in Moskau – als eine echte Illusion erwies, die Bedingungen der zentralen revolutionären Frage durch eine Zusammenarbeit mit der linken Sozialdemokratie verändern zu können, wurde deutlich, dass es gefährlich ist, gewisse Formeln weiterleben zu lassen, selbst wenn sie sich in der harmlosen Gestalt von zu Propagandazwecken erhobenen Forderungen präsentieren. Die Frage war und blieb ernst während der Formulierungen des IV. und V. Kongresses. Die späteren Ereignisse haben die Berechtigung unseres Widerstands an diesem Punkt bestätigt, der nicht nebensächlich, sondern grundlegend ist. Die Art und Weise, wie die deutsche Frage abgehandelt wurde, ist alles andere als zufriedenstellend. Das sind nur einige kurze Ausführungen, aber mir ist es wichtig, noch einmal das Ausmass und die Grenzen der Meinungsverschiedenheiten zu verdeutlichen. Heute sehen wir uns mit einer neuen Taktik konfrontiert. Der letzte erweiterte Vorstand hat eine neue Analyse der Lage vorgelegt. Es ist unbestreitbar, dass sich diese weniger günstig darstellt als in den vergangenen Jahren, aber die Diagnose einer, wenn auch relativen, Stabilisierung (man kann hundert Formulierungen finden, die es zugleich beiden Seiten recht machen wollen) ist beunruhigend, da sie von jenen Kräften kommt, die der Analyse der Lage, nach unserem Dafürhalten und gemäss ihren eigenen Aussagen, einen entscheidenden Wert bei der Festlegung der taktischen Linie beimessen.
Die neue Taktik erscheint wie ein Rückzug insofern sie besagt: Da die Frage der Machtergreifung sich nicht mehr in unmittelbarer Form stellt, müssen wir, auch wenn wir die Grundpfeiler unseres politischen Programms unversehrt beibehalten, in unserem Handeln auf bescheidenere Ergebnisse abzielen, und diese zeigen sich im Übergewicht linker Regierungen in den verschiedenen Ländern. Mit neuen Worten kehrt die uralte These zurück, dass ein Regime politischer Freiheit eine unerlässliche Voraussetzung für den weiteren Vormarsch der Arbeiterklasse sei. Diese These ist objektiv zu mindestens drei Vierteln falsch, und der Teil, der wahr ist, bleibt ausserordentlich gefährlich. In bestimmten Situationen kann der Kampf des Proletariats durch das Vorhandensein einer demokratischen Regierung begünstigt werden – in anderen kann das Gegenteil der Fall sein –, aber es gibt immer noch eine weitere Voraussetzung für den Erfolg des revolutionären Kampfes: die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Politik, die von der proletarischen Klassenpartei betrieben wird.
Dieses Problem wurde wie üblich aufgeworfen – was an mit unserer Kritik an der Arbeitsweise der Organe der Internationale zusammenhängt, insbesondere hinsichtlich der Vorbereitung und Beschlussfassung der Fragen, die der internationalen Debatte unterbreitet werden sollen –, quasi plötzlich und mit unzulänglicher Vorbereitung.
Wir sind beunruhigt über diese Vorgehensweise, bei der sich die Kulissen senken und neue Perspektiven auftauchen, die bei genauer Betrachtung abzulehnen wären, während sie sich mit einem solchen Verfahren letztendlich durch eine trügerische Lichtgebung durchsetzen. Wir setzen diesen Prozess nicht mit dem Opportunismus der alten sozialdemokratischen Parteien gleich, wie man es uns unterstellen möchte, aber wir stellen fest, dass sich eine wenn auch entfernte Verwandtschaft festsetzt, und das muss uns veranlassen, den Kurs ernsthaft zu ändern. Wenige Wochen nach der umfassenden Debatte des III. Kongresses tauchte die Einheitsfront auf, von der in dessen Beschlüssen nicht die Rede war. Die Arbeiterregierung tauchte erst nach den Beschlüssen des Erweiterten Exekutivkomitees vom Februar 1922 auf, verschwand dann wieder oder wurde teilweise abgeschwächt in den Beschlüssen des IV. Kongresses, um in der Folgezeit als Grundlage der Taktik in Deutschland zu dienen. Erst gegen Ende des V. Kongresses und mit grösster Zurückhaltung sickerte etwas von dem nächsten schweren Schritt an die Öffentlichkeit: dem Vorschlag zur Einheit mit Amsterdam. Die neue Taktik ist, wie üblich, eine vollendete Tatsache, noch bevor ein internationales Organ sie geprüft hat. Wir haben jedoch immer gefordert, dass taktische Entscheidungen verbindlich und… vorbeugend getroffen werden, nicht im Nachhinein.
Mit grossem Erstaunen hört man beispielsweise die Rechtfertigung des Vorschlags eines Gegenparlaments unserer Partei gegenüber dem Aventin.[11] Dieser Vorschlag, der unverhohlen den demokratischen Geist Cavallottis[12] und Savonarolas[13] widerspiegelt und noch schlimmer ist, hat unseres Erachtens im Lager des Kommunismus kein Existenzrecht, denn er verstösst nicht nur gegen taktische Regeln, sondern auch gegen unsere Grundsätze selbst. Wenn wir zu beweisen versuchen, dass in den taktischen Thesen die Einheitsfront von oben, d. h. mit der üblichen Methode der Vorschläge an die Führer anderer Parteien, nur für die sogenannten Arbeiterparteien gerade noch und ausnahmsweise toleriert wird, und dass es hanebüchen ist, solche Schritte sogar gegenüber Parteien zu unternehmen, die offiziell die bürgerliche Ordnung verteidigen, wisst ihr, was man uns entgegnet? Euer Irrtum, oh ihr Linken, besteht darin, den Vorschlag des Antiparlaments für einen Anwendungsfall der Einheitsfronttaktik zu halten. Ach herrje! Um was für eine Taktik handelt es sich dann? Um eine Taktik, die von keiner Entscheidung, auf keinem Kongress, vorgesehen wurde, die aber plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Und ebenso taucht eine andere These plötzlich auf, über die nie diskutiert oder abgestimmt wurde, weil sie selbst für Blinde durch unsere Grundsatzpositionen erledigt schien: nämlich, dass es Pflicht der kommunistischen Partei sei, so zu manövrieren, dass Hindenburg nicht durchkommt[14] oder Poincaré die Wahlen nicht gewinnt.[15] Nicht um die beiden Situationen, die beiden Prozesse gleichzusetzen, sondern um das Problem zu bestimmen, verneinen wir, dass eine solche Lockerung der Aktionsmethoden zulässig ist, dass man behauptet, alle zeitweiligen Ziele seien für die Tätigkeit der kommunistischen Partei erlaubt und alle Mittel anwendbar, solange es bei einer abstrakten und theoretischen Anerkennung der kommunistischen Thesen über die Diktatur des Proletariats und den Aufstand bleibt; denn auch der Opportunismus triumphierte mit seinen unheilvollen Methoden, obwohl er verkündete, dass es sich um begrenzte und vorübergehende Operationen handele, die das Ziel der Verwirklichung des Sozialismus und des Sieges der Revolution nicht ausschlössen. Es geht nicht darum, den Führern der Bewegung aus prinzipieller Voreingenommenheit revisionistische Absichten zu unterstellen, sondern darum, gemeinsam die Garantien festzulegen, damit das Handeln aller nicht auf die schiefe Bahn alter und verhängnisvoller Fehler gerät. Wir fragen uns, welche Vorkehrungen ergriffen werden, damit eine Taktik, die in vielen Aspekten und Themen der Taktik des Possibilismus ähnelt, eine Richtung und eine Entwicklung beibehält, die diametral entgegengesetzt sein müssen. Da wir weder die Umsetzung solcher Vorkehrungen sehen, noch glauben, dass es sie geben wird, fordern wir den ausdrücklichen Ausschluss solcher Manöver und taktischen Aktionen, die das Proletariat zwangsläufig auf einen anderen Weg als den der kommunistischen Ziele führen können.
Zusammenfassend haben wir unsere Meinungsverschiedenheiten wie folgt festgelegt und umrissen: keinerlei bezüglich der Lehre und dem Programm der Internationale, keine bezüglich Marx und Lenin bzw. beschränkt auf die von Lenin empfohlenen taktischen Methoden, ernsthafte Meinungsverschiedenheiten gegenüber Entartungen, die weder marxistisch noch leninistisch sind, an die sich die von den Führungskräften der Internationalen heute angewandten Taktiken anzulehnen scheinen. Wir erwarten nicht den üblichen Aufschrei (»Weil sie die Kommunistische Internationale wegen ihres Opportunismus abmahnen verdienen sie zweifellos die Kreuzigung!«) sondern den ernsthaften Nachweis der Garantien, die die Praxis des Opportunismus unüberwindbar von dem Experiment strategischer Manöver, wie sie von der Arbeiterregierung angedeutet wurden, trennen können. Für uns ist das Fazit negativ. Solche Methoden müssen verurteilt und aufgegeben werden. Auch wenn die Lage den Kampf um die Macht nicht ermöglicht, hört die kommunistische Partei deshalb nicht auf, eine aktive politische Aufgabe zu haben, die über die einer bloßen Propagandaschule hinausgeht. Die Haltung, die die Partei in der Entwicklung des Kampfes auch in der Phase des Rückzugs öffentlich einnimmt, wird einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg haben, der ihr in der zukünftigen Phase des Aufschwungs beschieden sein wird, wenn es darum geht, den komplexen konterrevolutionären Widerstand zu überwinden oder nicht. Ein brillantes Beispiel für diese Möglichkeiten war die letzte Situation in Italien, in der, obwohl der Machtapparat nicht zu stürzen war, dennoch vieles hätte getan werden können – während tatsächlich sehr wenig getan wurde.
Amadeo Bordiga
Notes:
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»ha detto male di Garibaldi« diente während der italienischen Nationalbewegung (dem Risorgimento) als ein Mittel, diejenigen mundtot zu machen, die sich nicht einer gemeinsamen, überschwänglichen und begeisterten Huldigung des Krieges und der Männer des Risorgimento anschlossen.
In dieser Formulierung zeigt sich das ganze Dilemma in das die Genossen dieser Epoche mit der Entwicklung der Formel des »Marxismus-Leninismus« – in die man später alle weiteren stalinistischen Entstellungen des Marxismus einbaute – gestürzt wurden. Was hier gemeint ist: »Leninismus« als eigenständiges theoretisches Gebäude ist eine künstliche Entstellung der Lenin’schen theoretischen Positionen, die ja auf der Verteidigung des Marxismus beruhten. Gerade weil man eben diese Positionen Lenins verteidigt lehnt man aus diesem Grunde die Schaffung eines »Leninismus« als eine eigenständige bzw. ergänzende Lehre ab.
Das Programm der Internationale wurde auf dem V. Kongress der Internationale nicht »verabschiedet«. Bucharin hatte dem Kongress lediglich einen Entwurf vorgelegt. Zu diesem Entwurf gab es über 50 Änderungsanträge. Da man diese nicht auf dem Kongress abhandeln wollte wurden sie zur Bearbeitung an eine Kommission delegiert und die Abstimmung auf den folgenden Kongress vertagt. Auf dem VI. Weltkongress, vier Jahre später, am 1. September 1928 in Moskau wurde das weithin geänderte Programm angenommen. Bordiga kann sich hier also nur auf den ursprünglichen Entwurf von 1924 beziehen.
Neapel war der Wohn- und Wirkungssort des idealistischen Philosophen Benedetto Croce (1866–1954). Seit 1886 lebte er in Neapel als Privatgelehrter.
Gemeint ist der 1895 in Andria geborene Alfonso Leonetti (Feroci) (1895–1984). Er war ab 1918 Redakteur bei der Parteizeitung »Avanti!«, von 1924 bis 1926 war Leonetti Leiter der »L’Unità«.
Anspielung auf Turin, Sitz der »Ordine Nuovo«-Gruppe. Der Hauptfluss des Aostatals, die Dora Baltea bzw. Doire Baltée mündet bei Turin in den Po.
Der Kongress fand vom 6. bis 10. Oktober in Bologna statt. Debattiert wurde dort unter anderem die Frage der Beteiligung der PSI an den Wahlen.
Gemeint ist Lenins Buch »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« (LW, Bd. 31, S. 1–106), das im Juni 1920, noch vor dem 2. Kongress der Internationale erschien und an alle Delegierten des 2. Kongresses verteilt wurde (in russischer, deutscher, englischer oder französischer Sprache). Eine italienische Übersetzung erschien gleichen Jahres – aber erst nach dem Kongress. Siehe dazu auch den Artikel »Lenins Schrift ›Der ’linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus‹ – die Verurteilung der künftigen Renegaten«, der sich ausgiebiger mit dieser Schrift Lenins auseinandersetzt.
Die Konferenz der Exekutivkomitees der drei Internationalen (2., 2½. und 3.) fand vom 2. bis 5. April 1922 in Berlin statt, unter anderem nahm Serrati als Vertreter der PSI teil obwohl diese zu diesem Zeitpunkt keiner der Internationalen angehörte, Bordiga selbst als Delegierter der Komintern. Zum Abschluss der Konferenz wurde eine kompromisslerische gemeinsame Erklärung abgefasst. Lenin kommentierte mit einem Artikel in der »Prawda«: »Wir haben zu teuer bezahlt« (LW, Bd. 33, S. 316), die KI habe Zugeständnisse ohne Gegenleistungen gemacht, er plädierte aber für die Einhaltung des unterzeichneten Abkommens – ganz im Gegensatz zu den Führern der II. Internationale. Bereits einen Monat später wurden alle Bemühungen um eine Einigung der drei Internationalen abgebrochen.
Lenin schrieb weiter in seinem oben erwähnten Artikel: »Es ist möglich, dass die italienischen Kommunisten und ein Teil der französischen Kommunisten und Syndikalisten, die gegen die Taktik der Einheitsfront waren, aus den oben angeführten Betrachtungen die Schlussfolgerung ziehen werden, dass die Einheitsfronttaktik verfehlt sei. Diese Schlussfolgerung wäre offenkundig falsch.« (LW, Bd. 33, S. 318f)Im Oktober 1923 wurden in Deutschland sogenannte »Arbeiterregierungen« aus SPD und KPD in Sachsen (10. Oktober) und Thüringen (16. Oktober) gebildet. Der Regierungseintritt der KPD in den zwei Ländern wurde von Sinowjew vorgegeben, es sollte eine Vorstufe zu einer revolutionären Erhebung in Deutschland werden. Nachdem erkannt wurde, dass die Kräfte für einen »deutschen Oktober« nicht ausreichend waren liess man die Aufstandspläne fallen. Lediglich in Hamburg kam es zu bewaffneten proletarischen Aktionen, die jedoch isoliert blieben und innerhalb weniger Tage von staatlichen Kräften zerschlagen wurden. In Sachsen und Thüringen marschierte die Reichswehr im Auftrag des SPD-Reichspräsidenten Friedrich Ebert ein und setzte in Sachsen die »Arbeiterregierung« gewaltsam ab, in Thüringen löste sie sich freiwillig auf. Diese letzten Aufstandversuche begruben alle Hoffnungen auf ein baldiges Sowjetdeutschland und besiegelten das Hinauszögern der Weltrevolution ins Ungewisse und damit die Isolation des revolutionären Prozesses in der Sowjetunion.
Nach der Ermordung Matteottis im Juni 1924 verliessen Gegner Mussolinis die italienische Abgeordnetenkammer und zogen sich, wie einst die um ihre Rechte kämpfenden Plebejer 494 v. Chr., auf den Aventin zurück, den südlichsten der sieben Hügel, auf denen das antike Rom erbaut war. Diesen 123 »Aventinianer« genannten Abgeordneten wurden am 9. November 1926 die Abgeordnetenmandate entzogen, darunter auch Gramsci. Die »Aventinianer« waren ein inhomogenes Gemisch politischer Strömungen, Kommunisten, Sozialisten, Liberale, Demokraten und Katholiken.
Felice Cavallotti (1842–1898) war ein italienischer Politiker, Parteigänger Garibaldis, Journalist, Schriftsteller und Übersetzer. Er war einer der Führer der radikal-demokratischen Partei »L’estrema sinistra storica« (»Die historische extreme Linke«) und ein eifriger Irredentist sowie Mitglied der Abgeordnetenkammer. Trotz staatlichen Verbots führte er 32 Duelle aus, das letzte endete für ihn tödlich – der Degen des sich kaum verteidigenden Gegners bohrte sich durch die Lücke eines fehlenden Schneidezahns in seinen Hals.
Girolamo Savonarola (1452–1498) war ein italienischer religiöser und politischer Aktivist und de facto Herrscher von Florenz von 1494 bis 1498. Er war Initiator einer Reihe politischer und gesellschaftlicher Reformen, Verfasser einer Reihe theologischer Abhandlungen und Predigten auf der Grundlage des Studiums und der Auslegung der Heiligen Schrift. Er gilt neben John Wyclif und Jan Hus als einer der Vorläufer der Reformation. Zum Symbol für Savonarolas Wirken wurde das »Fegefeuer der Eitelkeiten« – die Verbrennung von Gemälden, Büchern, Spielkarten, Kleidung, Kosmetika, Spiegeln und anderen Luxusgütern auf der Piazza della Signoria in Florenz. Dazu mobilisierte er, ähnlich wie später Mao in der Kulturrevolution, grosse Scharen von Jugendlichen und Kindern, die »im Namen Christi« alles beschlagnahmten, was als Symbol für die Verkommenheit der Menschen gedeutet werden konnte. Das Leben des Dominikanermönchs endete tragisch – Savonarola, der oft die päpstliche Herrschaft kritisiert hatte, wurde von der Kirche hingerichtet – er wurde gehängt und sein Leichnam später auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Die Reichspräsidentenwahl 1925 wurde in der Weimarer Republik vorzeitig notwendig, weil der erste Reichspräsident Friedrich Ebert am 28. Februar 1925 überraschend gestorben war. Die KPD schickte sinn- und aussichtslos Ernst Thälmann ins Rennen. Er sollte, obwohl ohne Siegchance und trotz gegenteiliger Empfehlung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, im zweiten Wahlgang laut Beschluss der KPD-Zentrale erneut antreten. Er erhielt 1 931 151 Stimmen (6,4 %). Wahrscheinlich begünstigte die Kandidatur Thälmanns sogar den Sieg Hindenburgs.
Paul von Hindenburg (1847–1934), Generalfeldmarschall und Politiker, wurde 1925 als Nachfolger Friedrich Eberts zum zweiten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt – bis heute das einzige deutsche Staatsoberhaupt, das je vom Volk direkt gewählt wurde. Mit der Ernennung des ersten Kabinetts Brüning ging er 1930 zum autoritären Präsidialregime über. Er wurde bei der Reichspräsidentenwahl 1932 wiedergewählt und blieb bis zu seinem Tod im Amt. Nachdem Hindenburg Hitler mehrmals als Regierungschef abgelehnt hatte, ernannte er ihn am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. In der Folge erleichterte er der NSDAP den Weg zum Umbau des bürgerlichen Staates von der demokratisch verdeckten zur offenen Diktatur. Am 1. Februar 1933 löste er den Reichstag auf und unterzeichnete die Notverordnungen, mit denen die Presse- und Meinungsfreiheit (4. Februar) eingeschränkt und die Grundrechte (28. Februar) aufgehoben wurden. Das Kabinett Hitler erliess bereits am 1. August 1934, genau einen Tag vor Hindenburgs Tod, ein Gesetz über die Zusammenlegung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten in der Person Hitlers. Dieses Gesetz trat mit dem Ableben Hindenburgs in Kraft.Raymond Poincaré (1860–1934) war ein explizit antideutscher bürgerlicher Politiker in Frankreich. Im Mai 1924 verlor er als Premierminister die Wahlen zur Abgeordnetenkammer gegenüber dem »Cartel de gauche«, einem Sammelsurium linker bürgerlicher Parteien. Die Kommunistische Partei Frankreichs gehörte nicht zu diesem Kartell. Sie erzielte bei diesen Wahlen 9,8 % der Stimmen und 26 Sitze im der Abgeordnetenkammer. Neuer Regierungschef wurde im Juni 1924 Édouard Herriot (1872–1957), Angehöriger der »Radikalen Partei«. In seiner Regierungszeit wurden die französischen Truppen aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet abgezogen und die Sowjetunion diplomatisch anerkannt.
